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Geilage zu Nr. 41 des „Mts- und Ameigeblattcs Eibenstock, den 8. April 1893. Auf verwegener Bahn. Kriminalnovelle von Gustav Höcker. (IS. Fortsetzung.) „Ich beglückwünsche Sie," sagte Bolkmar, unsere Sache kommt jetzt in Fluß. Ihre Vermuthungen scheinen sich glänzend bestätigen zn wollen: der Staats anwaltschaft liegt ein Brief Jmhoff's vor, worin der lebensmüde Mörder seine Schnld bekennt. Damit sind jedoch die Neuigkeiten, die ich für Sie habe, noch nicht erschöpft, denn auch eine Ueberraschung anderer Art steht Ihnen bevor." Während seiner letzten Worte hatte sich der Advo kat der Portiere genähert und winkte Siglinden, mit der kleinen Jenny hereinzukommen. Das Kind wollte jedoch nicht von der Stelle. Es begann laut zu weinen. „Was ist das?" srug Harnisch stutzig. „Sind Ihre Nerven gegen das Weinen eines Kindes so empfindlich?" lächelte der Advokat. „Wahr haftig? Sie sind ganz blaß geworden!" Siglinde hatte ihre widerstrebende Nichte durch Liebkosungen beschwichtigt und trat jetzt, mit der Kleinen auf dem Arme, hinter die Portiere hervor. Kaum hatte Jenny Herrn von Harnisch erblickt, als der Ruf: „Papa!" ihren Lippen entglitt. In dem Tone ihrer Stimme, in dem Blicke, womit sie den Genannten ansah, lag eine Scheu, wie Kinder sie vor strengen Vätern fühlen, bei welchen die Zucbt- ruthe die Stelle der Liebe vertritt. Rasch hatte das Kind sein Gesicht wieder abgewandt und sich ängstlich an Siglinde geschmiegt. Diese fühlte das Zittern des kleinen Körpers, den beschleunigten Schlag des angsterfüllten Herzchens. Sie wußte nicht, was sie denken sollte, als sie von den Lippen der Kleinen jenen vertrauten, in unmittelbarer Beziehung zu Harnisch gebrachten Namen vernommen hatte und den also Angeredeten vor dem Anblicke des Kindes -zurücktaumeln sah, als hätte ihn eine Dolchspitze be rührt. Nur Volkmar war ruhig geblieben. „Bringen Sie Jenny fort," befahl er der Haushälterin, die noch ini anstoßenden Zimmer verweilte. Sie nahm bas Kind von Siglinde's Armen und entfernte sich damit. Bolkmar trat an sein Schreibepnlt: „Herr Im- Höfs," sagte er mit scharfer Betonung dieses Namens — Siglinde, der diese Situation noch immer nicht klar war, blickte entsetzt um sich, als glaubte sie, der eben Genannte sei, unbemerkt von ihr, eingetreten. Als sie aber das Auge des Advokaten fest und un verwandt auf Herrn von Harnisch gerichtet sah, als sie erkannte, daß nur ihm und keinem Andern die Anrede gelten konnte, stieß sie einen Schrei aus und flüchtete sich, wie vor einem Gespenst, an Volkmar's Seite. „Herr Imhoff," nahm dieser die unterbrochene Rede wieder auf, „Ihr Spiel ist aus! Das letzte Stichwort Ihrer trefflich gespielten Rolle hat Ihr eigenes Kind gesprochen und wie dies manchem andern Schauspieler vor dem Fallen des Vorhangs passirt, müssen Sie die Schlußscenc den Statisten überlassen." Er drückte an den an seinem Pulte angebrachten Knopf eines elektrischen Glockenzugs und aus dem anderen Bureau antwortete sofort der Schrille Ton der Klingel. Imhoff war, einem Marmorbilde gleich, starr und regungslos auf derselben Stelle stehen geblieben. Jetzt sah er sich mit den Blicken einer wilden Bestie nach einem Gegenstände um, womit er den Advokaten, der ihn so schlau umgarnt hatte, zerschmettern konnte. Einen Stuhl ergreifend und denselben hoch in den Händen schwingend, stürzte er auf Volkmar zu. Mit blitzartiger Entschlossenheit sprang Siglinde dazwischen und stellte sich vor den Advokaten, ihn mit ihrem Körper schützend. In demselben Augenblicke sah aber auch Imhoff in Volkmar's über Siglinden's Kopf erho bener Hand einen Revolver blitzen, und wie gelähmt von dem Anblick der Waffe, deren sechsfache Mündung gegen seine Stirn gerichtet war, ließ er den Stuhl zu Boden fallen. Zugleich waren die beiden Männer cingctreten, die Siglinde schon bei ihrer Ankunft hatte im Vorzimmer fitzen sehen. ES waren zwei geheime Krimminalpolizisten, und während sie über den entlarvten Verbrecher herfielen, um ihn zu fesseln, drängte Volkniar Siglinden sanft hinaus und geleitete sie in seine Wohnräume. Als er unmittelbar darauf in sein Sprechzimmer zurückkehrte, war dasselbe leer. Auf der Straße draußen ließ sich ein scharfer Pfiff vernehmen, welcher eine bereits in der Nähe haltende Droschke herbcirief. Volkmar hörte, wie seine Schreiber im vorderen Bürean die Fenster aufrissen, um den Gefangenen von seinen beiden handfesten Geglcitcrn in den Wagen drängen zu sehen, wie der letztere dann davon rollte, wie die Fenster sich wieder schlossen und wie die Schreiber den Vorgang,murmelnd unter sich besprachen. . . . Nach einer Weile trat Siglindens Gestalt hinter der Portiere hervor. Sie sah noch bleich und ver stört aus von der aufregenden Scene, die sie erlebt hatte, und während sie nur durch ein stummes Kopf schütteln auszudrückcn vermochte, wie unbegreiflich ihr das Alles erschien, verweilte ihr großes, erstauntes Auge fragend auf Volkmar's Antlitz wie aus einer räthselhaflen Sphinx. Der Anwalt führte sie nach einem Sessel und nachdem er ihr gegenüber selbst Platz genommen, begann er: „Fräulein Siglinde, ich habe Ihnen viel ver schwiegen, um die Unruhe des Gcmülhs, das zwischen Furcht und Hoffnung schwebt, nicht noch zn vermehren, Sie mußten den Eindruck gewinnen, als ob ich mich in der Angelegenheit Ihres Vaters unthätig verhalte und den Schwerpunkt meiner Aufgabe in meine rhetorischen Künste vor dem Schwurgerichtshofe zu verlegen gedenke. Aber vom ersten Tage an, wo ich die Sache Ihres Vaters zur meinigen machte, griff ich handelnd ein und von diesem Tage an hatte ich anch schon Geheimnisse vor Ihnen. Mit diesen soll es nun zwischen uns zu Ende sein und Alles, was ich weiß, dürfen auch Sie jetzt erfahren." Volkmar erzählte nun seiner lautlos lauschenden Zuhörerin, wie er seine Forschungen in der Ritter- schen Gärtnerei begonnen, wie sein Verdacht sich gleich auf den Käufer des Blumenbouquet« gelenkt, wie er in demselben nach Harnisch's überraschenden Auf schlüssen Imhoff vermuthet habe, aber im weiteren Verlaufe seiner Ermittelungen zu dem unerwarteten Resultat gelangt sei, daß Anna's verdächtiger Cour macher Harnisch selbst war. Dann gestand er, wie die Siglinden so peinliche Verhandlung über den Ehe vertrag nur ein Experiment gewesen sei, um Anna Ritter der Unterhandlung als unsichtbare Ohren zeugin beiwohnen zu lassen, die Flammen der Eifer sucht in ihr zu entzünden und sie zur Aufklärung ihres Verhältnisses zu Herrn von Harnisch zu ver mögen. Er berichtete, wie vollständig ihin dies ge lungen war, wie sie sich nicht nur zur Entführung Jenny s bekannt hatte, sondern durch die ihr vorgc- lcgtcn Fragen Volkmar's bis zu jenen Enthüllungen fortgeschritten war, die es außer Zweifel stellten, daß alle bei der Ermordung Frau Rollenstein's in Betracht kommende Umstände einen mindestens gleich schweren Verdacht gegen Harnisch begründeten, wie gegen Siglindens Vater. „Nur der nicht umzustoßende Alibibeweis, daß Harnisch zur Zeit der Thal in einem Kölner Hotel als Nachtgast geweilt hatte," fuhr Bolkmar fort, „war ein Stein des Anstoßes. Da aber Anna Ritter ihn an demselben Abende in der Methodistcnvcrsamm- lung gesehen hatte, so konnte der Kölner Hotelgast natür lich Harnisch gar nicht gewesen sein. Wie er Ihnen selbst erzählte, hatte er sich nach einem kalten Bade im LunuI-In-inuneste ein Fieber zugezogen und sich in Calais in einem Hospitale einige Tage verpflegen lassen. Dort mußte ich Zuverläffiges über ihn er fahren können — und dorthin ging meine Reise, mit welcher ich sogleich den Zweck verknüpfte, bei meiner Rückkehr über Paris Jenny abzuholen. Es wurde mir in Calais nicht schwer, das Hospital zu ermitteln wo am IN. Augnst, dem Tage der Dampfer-Katastrophe, einer der Passagiere, welche durch die „Sirene" ge rettet und »ach Calais gebracht worben waren, Auf nahme gefunden hatte. Wirklich hatte dort Herr von Harnisch acht Tage lang krank gelegen, aber nicht an einem Fieber . . . Der Arzt, der ihn be handelt und die Krankenwärterin, die ihn gepflegt hatte, erinnerten sich ihres Patienten noch sehr genau. Als er vom sinkenden Dampfer ins Boot sprang, war er mit der Schulter gegen den Rand deselbcn ge schlagen und hatte sich am rechten Schulterblatt ver letzt. Vielleicht wird es Ihnen noch im Gcvächtniß sein, Fräulein Siglinde, daß der Leichnam jenes Un bekannten, den man im Kastanienwäldchen erwürgt fand, auf dem oberen Theile des rechten Schulter blattes eine erst kürzlich geheilte Wunde aufwies, welche von einem hölzernen kantigen Instrumente herznrühren schien. Die Gcrichtsärzte nahmen an, der Ermordete müsse kurz zuvor einen schweren Fall auf eine Treppe gethan und sich beim Aufschlagen auf die Kante einer Stufe die Wunde am Schulter blatt zugezogen haben. Setzen wir nun statt eines Sturzes auf der Treppe jenen ungeschickten Sprung vom Schiffe und statt der Stufenkante den Bord oder Rand des Bootes, so haben wir die allein richtige Erklärung für jene Wunde des Ermordeten und das geheimnißvolle Dunkel, welches seine Persönlichkeit bis jetzt umgeben hat, lichtet sich mit einem Male: Dieser Mann war Herr von Harnisch, — der wirk liche Herr von Harnisch, und Derjenige, welchem wir diesen Name» bisher fälschlich beigelegt haben, heißt Imhoff." „Großer Gott!" Ermordet!" entfuhr es den Lippen der entsetzten Zuhörerin. „O, der Unglück liche, der Arme!" „Herr von Harnisch ist am 20. August aus dem Spital entlassen worden und wahrscheinlich über Köln, dem geradesten Wege, hierher gereist. Es wird also seine Richtigkeit haben, daß er in dem Kölner Hotel übernachtet hat und eben so wahrscheinlich ist es, daß er, nach seiner Ankunft hier einer seiner ersten Wege war, sich Ihnen und Ihrem Vater vorzustcllen. Er traf Sie Beide nicht mehr an — er und kein Anderer war der Fremde, mit dem Martha gesprochen hat. Er kam nicht wieder und konnte nicht wieder kommen, weil er am Abend desselben TageS erdrosselt wurde. Und wer könnte der Mörder sein? Doch nur Der jenige, welcher seinen Namen annahm und sich unter diesem bei Ihnen einführte. Und warum that er das? Offenbar besaß er Kenntniß von der Ange legenheit, die Herrn von Harnisch nach Europa ge führt hatte, denn es ist durchaus nichts Unwahrschein liches, daß zwischen Beiden während der gemeinschaft lichen Seereise ein engerer Anschluß, ein vertraulicher Verkehr entstanden war. Wenn ich auch Imhoff kaum zutraute, daß er sich über den Reisezweck seiner Frau ausgesprochen hat, so war Harnisch vielleicht um so weniger verschlossen. Im gelegentlichen Ge spräch konnte er leicht den Namen unserer Stadt und den Namen Rollenstein haben fallen lassen. Das war genug, um Jmhoff's Interesse oder Neugierde wachzurufcn und seine ganze Kunst im Ausforschen Anderer in Bewegung zu setzen. So lernte er Har nisch's Beziehungen zu Frau Rollenstein kennen, so erfuhr er, daß die Schwester Erika's Anwartschaft auf das Erbe der Schwercrkrankten besaß, wenn sie einwilligte, Harnisch's Gattin zu werden. Als er nun Ihre Tante ermordet hatte, ohne die erhofften Schätze bei ihr gefunden zu haben, gerieth er auf den kühnen aber ziemlich naheliegenden Ge danken, in der Rolle Harnisch's als Ihr Bewerber aufzutreten und deshalb mußte dieser als Opfer fallen. Daß aber der Mann, auf welchen sich der ganze, schwerwiegende Verdacht des an Frau Rollen stein verübten Mordes wälzte, gerade Ihr Vater war, gestaltete sich für den Pseudo-Harnisch zu einem un heilvollen Verhängniß, da er Sie entschlossen fand, die Erbschaft abzulehnen. Als Sie aber für die Frei sprechung Ihres Vaters Ihre Hand als Preis aus setzten und damit zugleich die Million der Erblasserin, da beschloß er, va bunczus zu spielen, um die Ent lastung ihres Vaters herbeizuführcn, und dcnunzirte sich selbst als den Mörder." „O, dann ist ja Alles Lug und Trug!" rief Sig linde plötzlich von einem Gedanken erfaßt, „und man darf keinem seiner Worte glauben. Dann ist vielleicht auch meine Schwester Erika gar nicht ertrunken und weilt noch unter den Lebenden!" „Diese Hoffnung kann ich leider nicht theilen," erwiderte Bolkmar ernst. „Gerade in diesem Punkte hat er ganz gewiß die volle Wahrheit gesagt. In seiner Selbstanklage, in der Angabe seines richtigen "Namens Imhoff, in der Klarlegung aller Verhältnisse, in denen seine und Ihrer Schwester Vergangenheit wurzelt, in der Motivirung der Mordthat durch den" Tod seiner Frau, — der ihm die letzte Aussicht auf Besserung seiner, jetzt nur um so verzweifelter ge wordene» Lage raubte, — darin und in noch manchen anderen Umständen, die er als begünstigende Momente seiner That anführte, liegt eben die ganze Kühnheit seiner Berechnung, durch die Wahrheit Ihren Vater zu entlasten. Er durfte das schon wagen. War er doch als Imhoff aus der Welt verschwunden uno in das schützende Inkognito des Herrn von Harnisch ge schlüpft! Mit großer Geistesgegenwart wußte er dessen verfehlten Besuch bei Ihnen zu benutzen, um diesen, mit dem er eine oberflächliche äußere Ähn lichkeit besaß, als Imhoff erscheinen zu lassen und dadurch die handgreifliche Individualität des Mörder- auf die Bildfläche zu bringen. Mit dem Briefe an den Staatsanwalt wollte er dem Gange des Prozesse- einen Drücker geben, wollte er einen materiellen Unter grund für die Zeugenaussagen gewinnen, die er bei der Gerichtsverhandlung in der Rolle Harnisch's Vor bringen mußte, und mir eine wirksame VertheidigungS- wasfe zu Gunsten Ihres Vaters in die Hand spielen. Dank dem Ergebnisse meiner Nachforschungen in Calais und den wuchtigen Argumenten, die sich daran gliedern, gelang e- mir, Jmhoff's Verhaftung zu er wirken. Vorläufig steht er unter der Anklage, Herrn von Harnisch ermordet zu haben, aber auch den Mord an Ihrer Tante wird er nicht abschütteln können. Kein Schwurgericht kann und wird Ihren Vater al- Thäter verurtheilen, wenn es die Wahl hat zwischen einen in Ehren grau gewordenen, wenn auch in seinen kaufmännischen Unternehmungen zuletzt vom Glück verlassenen Manne — und einem Andern, der sich einen falschen Namen beigelegt und den wirklichen Träger desselben meuchlings ermordet hat. Hoffen Sie nicht, Fräulein Siglinde, daß Ihre arme Schwester von den Tobten auferstehen werde, aber hoffen Sie darauf, daß Ihr Vater vollkommen gereinigt von