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Beilage m Ur. 33 -es „Amts- un- Anzeigeblattes." Eibenstolk, den 18. März'1893. Auf verwegener Bahn. Kriminalnovelle von Gustav Höcker. (9. Fortsetzung.) - „Ich beglückwünsche Sie von ganzem Herzen zu Ihrer Wiedergenesung," sagte Volkmar mit warmer Theilnahme. „Ein Wander ist cs nicht, daß so harte Lebensprüfungeu, wie sie Schlag ans Schlag daS Schicksal über Sic verhängt hat, endlich selbst die festeste Gesundheit erschüttern." „Als ich Ihre freundlichen Zeilen erhielt, war ich bereits bettlägerig," erzählte Siglinde. „Erst gestern war es mir gestattet, wieder auszugchen. Mein erster Gang war nach dem Postamte, wo ich die beiden Briefe an meine Schwester erhob." „Nun, und ist der Inhalt von Wichtigkeit ?" frug der Advokat gespannt. „Für die Sache meines Vaters wohl kaum, für mich persönlich aber um so mehr. Ich nahm an, daß die Ehe meiner Schwester kinderlos geblieben sei; aus diesen Briesen geht aber hervor, baß ein drei jähriges Töchterchen vorhanden ist, welches die Eltern mit nach Europa gebracht und, da es ihnen hier be greiflicher Weise im Wege gewesen wäre, in London bei einer Dame in Pension gegeben haben. Von dieser Dame, die sich Frau Webster nennt, sind die beiden Briefe. In dem ersten, der von dem gleichen Tage datirt, wo meine arme Schwester ertrank, schreibt Frau Webster, daß das Kind in der vergangenen Nacht erkrankt sei, und daß der Arzt befürchte, es könne sich Diphtheritis einstellen. In dem zweiten Briefe, der am Tage darauf geschrieben wurde, theilt Frau Webster mit, es sei bei Jenny — so heißt das Kind — unerwartet eine wesentliche Besserung ein getreten, welche baldige Genesung hoffen lasse. Wenn sich das Befinden der Kleinen nicht verschlimmere, werde kein weiterer Brief folgen. Da seitdem mehrere Wochen vergangen sind und nur diese beiden Briefe da waren, so darf ich um die Gesundheit meiner kleinen mutterlosen 'Nichte wohl unbesorgt sein. Der Gatte meiner Schwester — nur mit Widerstreben nenne ich ihn so — scheint keine Kenntniß davon zu haben, daß Erika für unvorhergesehene Fälle Frau Webster vorsorglich eine vorläufige Adresse zurllckließ, sonst würde er doch schon längst selbst auf der Post nachgefragt haben." „Der Meinung bin ich ebenfalls," nickte Volkmar, „was mir aber am meisten aufsällt, ist, daß Herr von Harnisch des Kindes mit keiner Silbe Erwähn ring gelhan hat. Unmöglich kann ihm doch während der langen Seereise und bei seinem vertrauten Ver kehr mit Ihrer Frau Schwester entgangen sein, daß sie ein Töchterchen bei sich hatte." „Das war auch mir räthselhaft" entgegnete Sig linde, „und deshalb schickte ich gestern, nachdem ich von dem Inhalt der Briefe Kenntniß genommen, mein Mädchen sogleich nach seinem Hotel und ließ ihn um seinen baldigen Besuch bitten. Er kam noch an demselben Vormittage." „Sie sprachen ihn also bereits darüber?" frug der Rechtsgelehrte aufmerksam. „Nun, und wie erklärte er jenen seltsamen Widerspruch?" „Allerdings habe er um das Kind gewußt, gestand er mir. Er sei im Ungewissen gewesen, ob das Kind sich auch mit auf dein ..LloruinA-stnr" befunden, habe dies aber als selbstverständlich angenommen, und da er es mit der Mutter ertrunken glaubte, habe er dasselbe lieber gar nicht erwähnt, um meinen Schmerz nicht zu vermehren." „Auch nach meinem Gefühle war dies das einzig Richtige, was er unter den obwaltenden Verhältnissen thun konnte," sagte Volkmar mit zustimmendem Kopf nicken. „Es ist mein fester Entschluß," fuhr Siglinde fort, „das Töchterchen meiner Schwester als das lhcuerste Andenken an die arme Unglücklich.» zu mir zu nehmen. In längstens 8 Tagen hoffe ich wieder so weit ge kräftigt zu sein, um die Reise nach London wagen zu können und daS kleine unschuldige Wesen abzuholen." „Weiß Herr von Harnisch um Ihre Absicht?" frug Volkmar. „Ich habe ihm kein Hehl daraus gemacht," ant wortete Siglinde; „sollte es zwischen ihm und mir zum Eheschluß kommen, sagte ich ihm, so werde er sich neben der Million meiner Tante auch die ihm vielleicht weniger angenehme Mitgift eines fremden Kindes gefallen lassen müssen." „Und wie nahm er diese Eröffnung auf?" „Er erklärte sich mit Freuden bereit, Jenny an Kindesstatt zu adoptiren." . . . Etwa acht Tage nach diesem Besuche Siglinde'» hatte diese sich von Volkmar verabschiedet nnd die Reise nach London angetreten, um ihre kleine Nichte abzuholcn. Herr von Hämisch war wiederholt dage wesen, ohne den viel beschäftigten Advokaten zu Hause zu treffen, doch stellte sich, als dieser ihn deshalb endlich in seinem Hotel aufsuchte, heraus, daß er nicht- beson deres auf dem Herzen hatte, sondern nur ungeduldig war, zu erfahren, ob Volkmar auf Grund des ihm an die Hand gegebenen Materials schon Resultate erzielt habe. Der Rechtsgelehrte, welcher, wie wir wissen, Niemand in seine Karten blicken ließ, antwor tete ausweichend und wies darauf hin, daß bis zur nächsten Schwurgerichtsperiode, wo der Prozeß Schön aich zur Verhandlung kommen sollte, noch vollauf Zeit sei. Inzwischen ließ er sich keine Nummer des Generalanzeigers entgehen, denn sobald die be kannte Chiffre wieder darin erscheinen werde, wollte er einen entscheidenden Schritt thun. Es war in der Geheimkorrespondenz eine auffallend lange Pause eingetreten und bereits begann dieselbe dem Advokaten peinlich zu werden, als endlich, kaum acht Tage nach Siglindc's Abreise, das ersehnte Stichwort „XniAtll" wieder vor Bolkinar's suchendem Auge auflauchte. Der geheimnißvolle Avis, der sich an diese Losung schloß, lautete diesmal folgendermaßen: „Bin wieder zurück. Alles gut. —2 Uhr, Kleist-Breitestraße." Also eine Abwesenheit war die Ursache der langen Pause gewesen; da zu vermuthen stand, daß die Parole „Xnißflll" beiden Interessenten als gegenseitiges Erkennungszeichen diente, so blieb die Frage offen, wer der abwesend gewesene Theil war, ob Anna oder ihr Galan. Doch dies war für den Augenblick von untergeordneter Bedeutung. Volkmar sandte einen seiner Schreiber in Siglindc's Wohnung und ließ deren Dienerin, Martha, die ihre Herrin nicht auf die Reise begleitet hatte, zu sich entbieten. Das Mädchen kam gleichzeitig mit dem zurück kehrenden Boten. Sie wußte, daß Doktor Volkmar die Sache ihres unglücklichen Herrn führte und dachte sich, daß sie irgend eine damit zusammenhängende wichtige Frage beantworten sollte. „Gewiß erinnern Sie sich noch des fremden Herrn," redete der Advokat sie an, „welcher an dem Tage, wo Herr Schönaich verhaftet wurde, diesen hat sprechen wollen, aber nicht mehr zu Hause antraf." Martha bejahte sehr bestimmt. „Glauben Sie, daß Sie ihn sogleich wiederer kennen würden, wenn Sie ihni auf der Straße begeg neten ?" „Ei, ganz sicher, Herr Justizrath," nickte Martha, „sogar unter tausend Anderen. Wenn ich mit Jemand nur ein einziges Mal gesprochen habe, weiß ich so genau, wie er aussieht, daß ich ihn malen könnte." „Um so besser," bemerkte der Advokat. „'Nun geben Sie Acht, was ich Ihnen sagen werde. An der Ecke der Kleist- und Breitestraße befindet sich eine Haltestelle der Pferdeeisenbahn. Dorthin begeben Sie sich heute Nachmittag Punkt 2 Uhr, aber keine Minute später. Um diese Zeit werden sich an dieser Ecke ein Herr und eine Dame treffen und wahrschein lich den nächsten Pferdebahnwagen besteigen. Ueber- zeugen Sie sich genau, ob der Herr jener Fremde ist, der . . ." „An jenem Unglückstage zu Herrn Schönaich wollte," ergänzte das Mädchen verständnißvoll. „Ganz recht. Damit Sie Ihrer Sache auch sicher sind und Zeit Halen, sich den Herrn ordentlich anzusehen, steigen Sie ebenfalls in den Wagen und fahren so weit mit, als Sie eS für nölhig halten, um sich gründlich zu überzeugen." „Und die Dame, die mit dem Herrn Zusammen treffen wird?" frug Martha, „ist sie groß oder klein?" „Die Dame," antwortete Volkmar, „ist in Ihrer Größe, schlank gewachsen, ohne mager zu sein, nicht mehr ganz jung, aber immerhin hübsch. Ihr Gesicht ist, was man pikant nennt." „Ich verstehe." „Sie hat große, feurige, schwarze Augen und eben so dunkles Haar, welches sie auf der Stirne genau so trägt, wie Sie das Ihrige. Beobachten Sie das Paar während der Fahrt, lassen Sie sich aber ja nichts davon merken und zeigen Sie nament lich dem Herrn Ihr Gesicht so wenig wie möglich, denn es wäre fatal, wenn er Sie wiedererkennte. Also vorsichtig! hören Sie?" „Seien der Herr Justizrath nur ganz unbesorgt. Wir sind nicht aus Dummsdorf!" entgegnete das Mädchen mit der Keckheit, welche daS Bewußtsein einer wichtigen Mission verleiht, und dabei schien, nach ihrem neckischen Mienenspiele zu schließen, plötzlich ein schlauer Einfall in ihr aufgeblitzt zu sein. „Es versteht sich von selbst, daß Sie mit Niemand über die Sache sprechen, sondern das strengste Ge- heimniß bewahren," fügte der Advokat niit einem so durchbohrendem Blicke auf das Mädchen hinzu, daß dasselbe unwillkürlich einen Schritt zurücktrat uud die Hand bctheuernd auf'» Herz legte. „Sobald Sie Ihren Auftrag auSgeführt haben, kommen Sie wieder zu mir, um mir darüber zu berichten." Nachdem Martha, ganz von der hohen Bedeutung ihrer Mission erfüllt, sich mit einem tiefen Knix em pfohlen hatte, gab Volkmar seinen Schreibern Auf trag, ihm das Mädchen, sobald eS sich wieder ein finden werde, sogleich zu melden. Um die Rachmittagsstunde, wo er Martha jeden Augenblick von ihrem Unternehmen zurückerwarten durfte, begann sich Volkmar's eine prickelnde Unruhe zu bemächtigen. Von den Lippen eines einfachen Dienstboten sollte er nun hören, ob seine Combina tionen richtig waren, ob jener schattenhafte Doppel gänger, nämlich der „Engländer" Anna's und der fremde Besucher Schönaich s, hinter welchem sich nach Harnisch's Uebcrzeugung Imhoff verbarg, sich wirklich als ein und dieselbe Person ausweisen würde, und ob er sich nicht überhaupt durch ein Spiel des Zufalls hatte täuschen lassen, indem er das englische Wort im Generalanzeiger für Anna Ritter's engli- sirten Namen hielt und dem Umstande, daß deren zweimalige Abwesenheit sich mit der Stunde des Stelldichcin's deckte, allzu großes Gewicht bcigelegt hatte. Seine Unruhe nahm derart überhand, daß er keine Aufmerksamkeit mehr für seine Arbeit hatte, sondern oft aufstand, uni einige Schritte durch'S Zimmer zu machen, oder an's Fenster zu treten lind an die Scheiben zu trommeln. Da sah er plötzlich draußen eine Droschke vorfahren; neben dem Kutscher auf dem Bock befand sich ein Reisekorb, aus dem Innern stieg eine Dame, in welcher er, so rasch und schemenhaft auch ihre Gestalt vor seinem Blicke auf getaucht und wieder verschwunden war, dennoch Sig linde zu erkennen glaubte. Die Droschke wartete; offenbar kam Siglinde unmittelbar von der Reise und wollte auf dem Wege vom Bahnhofe nach ihrer Wohnung bei Volkmar versprechen. Er ging ihr entgegen und kaum hatte er die Thür des Vorzimmers geöffnet, als er Siglinde in bestaubter Reisekleidung vor sich sah. Herzlich von ihm bewillkommt, trat sie in das Sprechzimmer. In ihren Mienen drückte sich große Niedergeschlagen heit aus. „Sie kommen, wie es scheint, allein zurück? Ohne das Kind Ihrer Schwester?" frug Volkmar. „Ist der Kleinen etwas zugestoßen?" „Sic ist spurlos verschwunden!" war Siglinde's überraschende Antwort. „Verschwunden?!" wiederholte der Rechtsgelehrte erstaunt und betroffen. „Wann ist das geschehen?" „Drei Tage vor meiner Ankunft in London," antwortete Siglinde. „Hat Frau Webster, welcher das Kind anvertraut war, auf Sie den Eindruck einer rechtlichen Person gemacht?" erkundigte sich Volkmar. „In jeder Hinsicht. Ich fand sie noch ganz unter dem Eindrücke des Schreckens und der Bestürzung." „In welchen Beziehungen stand sie zu Ihrer Frau Schwester? War ihr Jenny durch Imhoff oder durch Ihre Frau Schwester übergeben worden?" „Frau Webster hatte in der Zeitung annoncirt, daß sie ein Kind in Pflege zu nehmen wünsche. Daraufhin meldete sich meine Schwester und vertraute ihr Jenny an. Bei diesem Besuche befand sie sich in Begleitung Jmhoff's. Als sie dann noch einmal kam, um von ihrem Töchterchen Abschied zu nehmen, befand sie sich allein. Bei dieser Gelegenheit trug" sie Frau Webster auf, ihr etwaige briefliche Mit theilungen über das Kind vorläufig postlagernd zu machen." „Und auf welche Weise verschwand Jenny?" forschte der Rechtsgelehrte weiter. „Frau Webster ist eine Wittwe, die in ziemlich dürftigen Verhältnissen zum Theil vom Zimmermiethen lebt," erzählte Siglinde. „Eines der Zimmer stand gerade leer und in Folge der an der Hausthür an gehesteten Vermiethungsanzeige fand sich eine Dame ei», miethete das Zimmer und bezog es noch an dem selben Tage. Die Dame war sehr anständig gekleidet und von freundlichem, einnehmendem Wesen; sie zahlte ein halbe Monatsmiethe voraus, daher Frau Webster sich darüber, daß sie kein Gepäck mit sich führte, son dern dasselbe erst erwartete, nicht beunruhigte. Vom ersten Augenblicke an schien die neue Mietherin großes Wohlgefallen an Jenny gefunden zu haben, sie liebkoste das Kind, brachte ihm von ihrem ersten Ausgange kleine Geschenke mit, behielt es stundenlang auf ihrem Zimmer, um mit ihm zu plaudern, und hatte sich schnell die Zuneigung des Kindes erworben. Am zweiten Tage bat sie sich von Frau Webster die Erlaubniß aus, Jenny in eine nahe gelegene Kon ditorei zu führen. Frau Webster fand darin nichts Unrechtes, kleidete Jenny an und blickte wohlgefällig dem fröhlich an der Hand der gütigen Dame hüpfen den Kinde nach, bis sie Beide in die Konditorei treten sah . . . Die Dame ist mit Jenny nicht wieder zu rückgekehrt. In der Konditorei haben sich Beide eine Viertelstunde aufgehalten, und man hat nur noch gesehen, daß die Dame beim Verlassen ein vor- überfahrendeS Cab anrief, dasselbe mit der Kleinen bestieg und rasch davonfuhr. Alle polizeilichen Recher chen sind bis jetzt erfolglos geblieben. Man sagte