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Das Vorhandensein alter dieser Gegenstände bot keinen Anhalt, daß eS sich um einen Raubmord handeln könne. „Kennt vielleicht Jemand zufällig die Frau?" wandte sich der Kommissar an seine Unterbeamten. Nein, Niemand erinnerte sich, sie vorher unter den Hundcrttansenden dieser Stadt gesehen zu haben. „Ist Ihnen auch Niemand bekannt, der diesem Herrn ähnlich sieht?" frug der Kommissar und ließ das Medaillon, weiches er der Leiche abgenommen und geöffnet hatte, die Runde machen. Es war der photographische Porträtkopf eines Offiziers, der in den vierziger Jahren stehen mochte und MajorSepau- letlen trug. Ein dicker Polizeiwachtmeister betrachtete das Bild mit besonderem Interesse, bald brachte er es dicht ans Auge, bald hielt er es weit davon ab, wobei er mit der anderen Hand fortwährend die Spitzen seines gewaltigen grauen Schnurrbarts drehte. „Will mich hangen lassen, wenn ich den Mann nicht gekannt habe," unierbrach er endlich die er wartungsvolle Stille. „Er war Compagnicches in den, Bataillon, bei dem ich stand, mag so ein zwanzig Jährchen her sein. Spater wurde er mit dem ganzen Regiment von hier ins Reichsland hinunter versetzt. War ein Hitzkopf! Da hak ihn etwa vor ein Dutzend Jahren der Teufel wieder einmal hierher geführt, auf Urlaub, glaub' ich, und da gab'S irgend einen bösen Handel mit einem Andern, ein Pistolenduell, wobei er erschossen wurde. Je länger ich das Bild ansehe, desto gewisser wirb mir's, daß e>'s ist; aber auf seinen Namen kann ich mich nicht mehr besinnen." Ter Polizeikommissar halte am Fundorte der Leiche nichts mehr zu thun, als ein Protokoll auszunchmen, welches er vom Kapitän des Dampfers und den bei der Auffischung zunächst betheiligten Leuten unter zeichnen ließ. Dann wurde der Körper in'S Boot gebracht und mit den Polizeibeamten ans User ge rudert, wo bereits zwei Träger mit einem Korbe warteten, um die unheimliche Last nach der Leichen schauhalle zu tragen, begleitet von einer neugierigen, unterwegs fortwährend anschwellenden Menge. In zwischen nahm an Bord des Dampfers die Kette mit dumpfem Geräusch ihre Arbeit wieder auf, die Eisen glieder, woran noch Strähne des langen Frauenhaars hingen, rollten über die Trommeln hinweg, um sich I hinter dem Schiffe an derselben Stelle, wo sie den Fund emporgebracht hatten, wieder in die Tiefe zu versenken, und der Dampfer zog mit seinem durch die Nacht sprühenden Funkenschwarm und seiner langen dunkeln Schleppe wieder seine Bahn dahin, den hel seren Warnungsschrei weit vor sich hin über die Fluchen entsendend. * * . * In einer der am Stromnfer gelegenen Vorstädte stand in noch wenig angebauter Gegend ein schmnckes einstöckiges Gebäude, hinter welchem sich eine weite Garienanlage mit Gewächshäusern ausdehnte. Neben dem Hause führte eine Gitlerpforte in den Garten und über derselben erhob sich in einem Halbbogen ein blechernes Schild mit der Aufschrift: „Kunst- und HandelSgärtnerei von Eduard Ritter." Etwa eine Stunde vor der eben erzählten Begebenheit saß in einem Parterrezimmer des Hauses der genannte Gärt ner an einem einfachen hölzernen Tische beim Scheine der Lampe und las mit lauter, eintöniger Stimme aus einem methodistischen Andachtsbuche vor. Der Zuhörer war seine im Bett liegende Frau, welche seil einigen Tagen an Magenkrämpfen litt, einem alten, von Zeit zu Zeit wieverkehrendcn Uebel. Schlicht wie daS ganze Zinimer, dessen einziger Schmuck das lithographische Bildniß John WeSley'S, des Gründers der Melhodistengemeinde bildete, war auch die äußere Erscheinung des in den vier-iger Jahren stehenden Ehepaares. In den Gesichtszügen Beider prägte sich jene Unempfindlichkeit, Herzenseinfalt und weltent fremdete Jnsichgekehrtheit aus, wie sie Leuten eigen zu sein pflegt, bei denen das streng christlich religiöse Leben überwiegt; um den Mund der Frau trat hin zu noch ein gewisser herber Zug. Sie trug, der welt lichen Mode zum Trotz, ihr flachsfarbenes Haar noch so, wie ehrbare Hausfrauen es vor einem halben Jahrhundert getragen hatten; in der Mitte durch einen schnurgeraden Scheitel getheilt, der mit jedem Jahre breiter wurde, und an Schläfen und Ohren eine sackartige Ausbiegung bildend; was dann noch daraus wurde, war das Gehcimniß einer mächtigen weißen Haube, die selbst einem Madonnenkopfe etwas abschreckend GespensterhafteS verliehen haben würde. Während der Gärtner in seiner Vorlesung eine Pause eintreten ließ, schlug die alte Schwarzwälder Uhr neun, was in ihrer Sprache aber so viel wie ein viertel zehn hieß, da sie mit großer Pünktlichkeit stets eine Viertelstunde nachging und in dieser be rechtigten Ligenthümlichkeit von ihren Besitzern auch nicht verkümmert wurde. - „Wo nur Anna mit Frau Rollenstein bleibt!" sagte Frau Ritter. „Die AbendgotreSvenste gehen lange vor neun zu Ende und von unserer Kapelle bis hierher braucht man keine Viertelstunde." „Anna freilich nicht unv wir beive auch nicht," entgegnete der Mann, „aber die alte lahme Dame, die am Krückstock gehen muß." „Man soll nicht über die Gebrechen Anderer spotten!" unterbrach ihn die Frau streng. „Das ist Sünde!" „Aber Sophie, das habe ich ja gar nicht gethan," verwahrte sich Ritter in sanft beschwichtigendem Tone, „ich habe nur —" „Wenn wir in unser Inneres schauen," eiferte sie weiter, „so finden wir da viel schlimmere Gebrechen, die deS Krückstocks bedürfen. Leider sehe ich seit einigen Tagen auch Anna an solch' einem inneren Krückstöcke gehen." „Meine Schwester Anna?" fragte der Gärtner. „Wen könnte ich denn sonst meinen? Du freilich merkst nichts, denn Du siehst das Mädchen mit ande ren Augen an, als ich." DaS war allerdings der Fall. Unser Gärtner, der jüngste unter sechs Brüvern, war eben der Schule ennvachsen gewesen, als ihm daS einzige Schwesterchen bescheert worden war. Er hatte sie gepflegt, gewartet, ihre ersten Schritte geleitet, und als in späteren Jahren ihm seine Verhältnisse gestatteten, sie bei sich aufzunehmen, räumte er ihr in seinem Herzen neben dem Platze einer Schwester zugleich denienigen einer Tochter ein, zuma: er selbst keine Kinder besaß. Seine Frau empfand es mit Bitterkeit, daß ihr das Mutter glück versagt war, sie konnte in der erwachsenen Schwä gerin keinen Ersatz erblicken; die Selbstständigkeit und Energie des Characters, die sich in Anna herausgebildet hatten, während sie draußen in der Welt sich ihr eigenes Brod erworben, stießen Frau Ritter ab, sie schätzte Demuth und Unterwürfigkeit höher, besonders bei einer Person, die daS Brod ihres Mannes aß. Daß Anna sich im Geschäfte sehr nützlich machte, betrachtete die Schwägerin als eine selbstverständliche Pflicht, daß daS nicht unbegabte Mädchen einen gewissen Anspruch auf Bildung besitzen wollte, auf welche der Bruder stolz war, erregte den Neid der einfachen Frau, die über die Durchschnittsbilbung der Volksschule nie hinausgestrebt hatte. „Was ist's denn, Sophie, was Du gegen Anna vorzubringen hast?" fragte Ritter. „Was soll ich denn nicht merken?" „Daß sie seit einigen Tagen vergeßlich, zerstreut und geistesabwesend ist", antwortete die Frau. Sie träumt mit offenen Augen am hellichten Tage. Ich, die ich jetzt an's Bett gefesselt bin und Anna nur während der Mahlzeiten und Abends sehe, habe das bereits hcrausgefunden, — und Du, der Du sie täg lich im Geschäft nm Dich hast, scheinst wie mit Blind heit geschlagen." „Ich habe nicht darauf Acht gegeben", entschul digte sich Ritter achselzuckend. „Dann ist es Dir wohl auch noch garnicht auf gefallen", fragte die Frau spöttisch, „daß sie plötzlich ihr Haar anders trägt und den schlichten glatten Scheitel mit der neuesten Modeihorheit vertauscht Hal?" „O ja, das habe ich wohl bemerkt", sagte der Gärtner. „Sie hat sich vorn über der Stirn das Haar kurz abgeschnitten unv nach dem Gesicht hcrab- gekammt, was man, glaub' ich, Ponnyfranien nennt. Mir gefallt das sehr. Es steht ihr so gut zu Gesichk. Ich hab' mich darüber gefreut unv hatte sie beinahe nicht wiever erkannt." „So, das gefällt Dir also?" rief die Frau inst sichtlicher Entrüstung. „In allen Dingen, vie Deine Schwester Anna betreffen, bist Du weltlich gesinnt, wie ein Heide unv dabei doch so harmlos, daß Du nicht einmal eine Ahnung hast, was hinter dieser plötzlich erwachten Gefallsucht, hinter diesem Träumen und Brüten steckt." „Was soll denn dahinter stecken?" „Es sind die sichern Anzeichen einer sündhaften Liebe, die sich in ihr Herz eingeschlichen hat. Be greifst Du das nicht?" „Hm! hm! meinst Du, Sophie? Aber warum sündhaft? Ein Mal muß bei einem Mädchen doch der Rechte kommen. Seit sie bei unS ist, hätte sie ja schon mehrere gute Parthieen machen können, uno gerade Du geriethst aus dem Häuschen, weil ihr kein Freier anstand. Sagtest Du nicht erst letzthin, an ihrem siebenundzwanzigsten Geburtstage, es wäre die höchste Zeit, daß sie endlich unter die Haube käme, wenn keine alte Jungfer aus ihr werden sollte? Unv nun soll es plötzlich eine Sünde sein, daß —" „Ja, mit jenen Freiern war daS ein anderes Ding", fuhr Frau Ritter auf, „die traten offen und ehrlich auf, und wir kannten sie als rechtschaffene Männer. Aber jetzt spinnt sich etwas hinter unserm Rücken an. Sie macht ein Geheimniß daraus, und hinter einer geheimen Liebe verbirgt sich stets die Sünde." „Sünde!" wiederholte der Mann, den Kopf mit leidig nach der einen Seite neigend. „Für meine Schwester Anna verbürge ich mich, und übrigen«, Hand aus« Herz, Sophie, haben wir Beide uns nicht auch schon längst ganz im Geheimen gel.ebt, ehe wir'« Deinen Eltern gestanden?" „Frau Ritter richtete sich im Bett auf und machte ein Gesicht, wie ein Verbrecher, der sich seine längst abgcsessene Missethat nach langer Zeit plötzlich wieder vorwerfen hört nnd sich in seiner Ehre schwer gekränkt fühlt. <Aorls«tzung solgt.l Etwas von der Weltausstellungs-Stadt. Als die am meisten amerikanische Stadt Amerikas wird bei uns Chicago angesehen, ^dieses Emporium deS amerikanischen Westen-, wo sich die Eigenheiten und Seltsamkeiten des typischen Uankeethums in viel höherem Grave zeigen als irgendwo anders, sei eS New-Uork oder San Francisco, sei eS Boston oder New - Orleans. T hatsachlich aber giebt cs in den Vereinigten Staaten keine Großstadt, deren Einwohner schaft weniger amerikanisch wäre, als die Chicagos. Chicago ist eine amerikanische Stadt, aber voll von Europäern, eine Taschenausgabe des vielgestaltigen, vielsprachigen Europa in amerikanischem Einband, mit amerikanischem Titelblatt. Keine Stadt der Ver gangenheit und der Gegenwart, so schreibt Ernst v. He>se Wartegg in der „Voss. Ztg.", erinnert so sehr an da« alte Babel wie die Metropole des Michigan sees. Der Amerikaner giebt cs dort 3M,000 und selbst von diesen in Amerika geborenen Einwohnern Chicagos sind 100,000 von direkter ausländischer Abstammung. Den ganzen großen Rest von 1^00,000 Chicagoer bilden eingewanderte Ausländer. Um sich die Zuiamniensetzung dieser verschiedensprachigen Ein wohnerschaft recht vor Augen führen zu könne», denke man sich Chicago aus der Einwohnerschaft der fol genden Städte zusammengesetzt: Cincinnati, Hamburg, Dublin, Pi-scn, Krakau, Malmö, Bergen, Oxsor, Vichy, Rostow, San Remo, Helsingör, Enkhuyzen, Fogaras, Sulina, Interlaken; denn Chicago besitzt gerade so viele Amerikaner, als Cininnati Einwohner hat, gerade jo viele Deutsche wie Hamburg, so viele Jrlänver als Dublin rc., und zu diesem merkwürdigen Gemisch kommen noch 2000 Chinesen, 14,000 'Neger, je lOO Malaye», Polynesier und Indianer; ferner lö,Ooo Kanadier, 800 Belgier, eben so viele Griechen, 300 Spanier, dann Portugiesen, Südamerikaner rc., so daß wohl wenige Rassen oder Nationen in Chicago nicht vertreten sein dürften. Bei der jüngsten Präsi dentenwahl erließ die „JUinoiS-StaatSzcitung" einen Wahlaufruf in 46 verschiedenen Sprachen, für die sie mit Leichtigkeit Uebersetzer fand. In Chicago besteht also in der Thal die Einwohnerschaft zu vier Fünfteln aus Ausländern, und dennoch ist vie Stadt typisch amerikanisch, ja man könnte in dem eigentlichen Geschäftsviertel mit seinen Dutzenden von Riesenhotels wochenlang wohnen, ohne eine andere Sprache zu vernehmen als vie englische. Leben irgendwo in einer europäischen Stadt zwei oder mehr Nationen mitein ander, so merkt man dies häufig schon in der ersten Stunde, und wenn auch nur an den Droschenkutschern. In Chicago muß man sich andere Sprachen, andere Zeitungen, mit einem Worte, die anderen 'Nationen erst suchen. Theilweise liegt dies an der Leichtigkeit, mit der sich manche europäische Stämme entnationali- siren — darunter leider nicht zum mindesten die Deutschen — theilweise liegt cs auch an der enormen Anssaugungsfähigkeit Amerikas. Sie liegt, sozusagen, in der Luft. Kommt ein Böhme, Schwede oder Ita liener nach Deutschland, so bleibt er, was er ist, und fühlt sich als Fremder. In dem Augenblicke jedoch, wo derselbe Böhnie, Schwede ober Italiener den amerikanischen Boden betritt, fühlt er sich als Ameri kaner unv erkennt die Ueberlcgenheit der Englisch- Amerikaner wie etwas Selbstverständliches an. Diese Letzteren schwimmen in den Vereinigten Staaten immer oben auf, wie Oel in einem großen Wasser topfe. Das Wasser sind die Znwanverer anderer Nationen. Je mehr Wasser hineingegossen wird, desto höher steigt die Oelschicht, ohne daß eine Vermeng ung einträte. Beide Stoffe sind wohl in einem Topf, aber Sie bleiben getrennt. Selbst wenn man sie recht tüchtig untercinanverrührt, kommen sie doch wieder auseinander, die Amerikaner oben, die Anderen unten. DaS englische Wesen ist jedoch nur in dem Geschäftsviertel und in den vornehmen Straßen der Südseite und eines Theiles der Nordseite von Chicago vorherrschend. Sobald man mittels der Kabelbahnen oder der Pferdebahnwagen nach Westen ober 'Nord westen fährt, verliert sich daS englisch amerikanische Wesen immer mehr, und man gelangt in deutsche, böhmische, schwedische, polnische u. s. w. Bezirke. In diesen mehren sich auch Aufschriften, Firmentafeln u. s. w. in den betreffenden Sprachen; in den Tabakläden oder Buchhandlungen werden Chicagoer oder europäische Zeitungen dieser Sprache verkauft, man sieht dort Schulen, in denen der Unterricht, Kirchen, in denen der Gottesdienst deutsch, böhmisch, schwedisch u. s. w. abgehalten wird; jede Nation in Chicago hat ihre Kirche», Schulen, Klubhäuser, Vereinslokale, Theater, Zeitungen, selbst großcntheilS eigene Hospitäler und Wohlthätigkeitsanstalten. Wie groß die Frembenko- lonien Chicagos sind, geht am deutlichsten aus der Presse hervor. In Chicago werden im Gan zen gegen 600 Zeitungen veröffentlicht, darunter 24 Tagesblätter und 260 Wochenschriften. Von den TageSblatiern erscheint die Hälfte in englischer Sprache, vie andere Hälfte verthcilt sich auf deutsch, böhmisch, polnisch, norwegisch, schwedisch. Unter den Wochen blättern giebt eS holländische, dänische, italienische, französische, ja selbst ein hebräisches Blatt. Druck UN» Arrlag von <L. Hannebsyn IN «w«nsr»ck.