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Beilage M Rr. 143 des „Amts- und Aiyeigtblattes." Eibcnstvlk, den 3. Dezember 1892. Gesühnte Schuld. Einr Schilderung aus dem Aausmannsleben von G. Struder. (ll. Fortsetzung.) »Sic müssen an mich bestimmte Briefe niemals anderen Leuten in die Hände geben," lautete die un- muthige Antwort. „Nun; vielleicht hat der Betref fende mich nicht finden können, da ich in der That nicht in meiner Wohnung war und er wird mir den Brief wohl noch diesen Abend zustellcn, wenn er ihn nicht bereits bei meinem Portier abgcliefert hat. Doch wer war der Herr, welcher jenen Brief an mich schrieb?" Paul war bei den Worten seines Prinzipals im höchsten Grade unruhig und verlegen geworden. „Den Namen desselben kenne ich nicht," erwiderte er mit gepreßter Stimme. „Aber Sie werden doch wenigstens wissen, wie er aussah?" „Dos allerdings. Er war ein mittelgroßer, untersetzter Mann mit einem ziemlich gewöhnlichen Gesicht, dessen linkes Auge etwas schielte." Herr Morrcls stieß einen lauten Fluch aus und frug zornig: „Und dieser Herr suchte mich zu sprechen?" „Ja, und er schrieb in den Brief, an welchem Orte und zu welcher Stunde Sie ihn treffen könnten." „Tod und Teufel," schrie Herr Morrels, der sehr blaß geworden war, „dieser Herr giebt mir in einer dringenden Angelegenheit ein Rendezvous an und Sie rafften sich nicht sofort auf, um mir den Brief zu überbringen? So was ist mir denn doch in meinem Leben noch nicht vorgekommen, für ein solches einfältiges Benehmen giebt es überhaupt keinen Ausdruck mehr?" Die Entrüstung über den brutalen Ton, welchen MorrelS ihm gegenüber anschlug, überwog bei Paul in diesem Moment alle anderen Gefühle, und daher entgegnete er ebenfalls gereizt: „Sie haben mir nicht mitgetheilt, wo Sie woh nen und wo Sie außerhalb der Bureaustnnden zu finden sind; selbst wenn ich dies jedoch auch gewußt hätte, würde eS mir niemals eingefallen sein, für einen so ordinären Menschen, wie der betreffende so genannte Herr es war, Botendienste zu verrichten. Das erkläre ich Ihnen hiermit, Herr Morrcls, im übrigen aber möchte ich Sie dringend ersuchen, sich mir gegenüber nicht auf eine Weise zu benehmen, die ich mir von Niemand bieten zu lassen gewillt bin." „Was, Sie unterstehen sich, trotz des dummen Streiches, welchen Sie begangen haben, auch noch frech zu werden!" brüllte der Andere. „Machen Sie, daß Sie hinauskommen oder ich vergreife mich an Ihnen und bringe Sie auf eine Manier vor die Thür, an welche Sie ihr halbes Leben lang denken sollen." Paul wurde bei dieser Drohung sehr blaß, aber in festem Tone und mit dem Ausdrucke unsäglichster Verachtung erwiderte er: „Ich habe Ihnen schon einmal erklärt, daß ich keinem Menschen erlaube, sich an mir zu vergreifen, selbst Ihnen nicht, und daß ich mich gegen jeden der artigen Versuch energisch zur Wehre setzen würde. Ihre Insulten will ich mit Rücksicht auf den Zustand, in dem Sie sich befinden, verzeihen, dagegen bin ich nicht in der Lage, auf mein rückständiges Gehalt zu ver zichten, und wenn ich daher dasselbe nicht sofort erhalte, so werde ich bereits morgen die Hilfe der Gerichte anrufen. Dieselben werden vielleicht um so eher be reit sein, mir in meinem Rechte beizustehen, wenn ich mich darauf berufe, daß das HauS Alexander Morrels überhaupt nur in Wechseln auf sehr lange Sicht seine Schulden zu bezahlen gewohnt ist, und daß ich daher ein sehr großes Interesse daran habe, sür mein Guthaben möglichst bald gesichert zu sein." Was ihm diese Worte eingegebeu hatte, ob die Erregung oder die Absicht, seinem Prinzipal dessen beleidigende Aeußerungen entgelten zu lassen, wußte Paul selbst nicht, jedenfalls übte die letzte, auf's Ge- radcwohl hervorgebrach'.e Aeußerung einen merk würdigen Eindruck auf Herrn Morrels aus. Sein Gesicht, das merklich bleicher geworden war, verzog sich zu einer spöttischen Grimmasse und in ein heiseres Gelächter ausbrechend, entgegnete er: „Sie können mir leid thun wegen der kindischen Ideen, die in Ihrem Haupte noch vorhanden sind. Als ob Sie, ohne Geld und ohne alle Beweise Ihrer Forderung, gegen mich einen Prozeß mit irgend welcher Aussicht auf Erfolg einleiten könnten! Sie würden gänzend abgewiesen werden und alle Kosten auf den Hals bekommen, aber um zu dulden, daß Sie durch Ihren eigenen Unverstand in einer solchen Weise her einfallen, dazu bin ich leider Gottes viel zu weich herzig. Ich werde Ihnen daher Ihr Gehalt sofort auszahlen. Hier sind zweihundert Franc«, welche Sie zu fordern haben; und nun gehen Sie nach Hause, um dem Himmel ans den Knieen zu danken, daß er Ihnen einen so gutmüthigen und wohlwollen den Principal bescherte." Paul nahm die zweihundert Francs, welche Herr Morrels langsam und anscheinend mit großem Wider streben auf den Tisch gezählt hatte, an sich und er widerte hierauf, ohne durch den offenbaren Hohn in den letzten Worten seines früheren Vorgesetzten sich irgendwie aus der Fassung bringen zu lassen, mit vollkommener Ruhe: „Eigentlich habe ich zwar zwcihundcrtfünfundzwanzig Francs von Ihnen zu fordern, aber ich will mich mit dem Erhaltenen zufrieden geben und Ihnen den Rest schenken als Belohnung für die von Ihnen an den Tag gelegte wohlwollende Guthinüthigkeit. Denn wer, wie Sie soeben, von sich selbst behaupten darf, daß er derartige vortreffliche Eigenschaften des Gc- müthes besitzt, die kein anderer bis dahin hätte ent decken können, der verdient, daß er hierfür eine Be lohnung empfangt, bestände dieselbe auch nur in der Summe von fünfundzwanzig Francs. Es ist bas Aeußerste, was ein armer Commis wie ich zu geben im Stande ist. Der Umstand indessen, daß diese Summe gewissermaßen eine Art Tugcndpreiö bildet, wird derselben in Ihren Augen gewiß einen tausend fach höheren Werth verleihen und ick» hoffe daher, daß Sic noch vorläufig mit Freude an Ihren Commis zurückvenkcn weroen, da er Ihre Gntmüthigkeit auf eine solche Weise mit Großmuth zu vergelten wußte. Herr Morrels, ich habe das Vergnügen, mich Ihnen für alle Zeiten zu empfehlen." „Unverschämter Patron!" schrie Herr Morrels, aber Paul hörte bereits nicht mehr auf ihn. Er war zur Thür hinausgeschritten und entfernte sich mit dem angenehmen Bewußtsein, diesem brutalen und gleiß- ncrischen Menschen auch einiges gesagt zu haben, was ihn aufregen und erbittern mußte. Er hatte ja so viele Kränkungen von demselben in der letzten Zeit ertragen müssen, weshalb also hätte er sich nicht hierfür in einer erlaubten Weise revanchiren sollen, zumal da er hierbei einen Manne gegen überstand, den er schon deshalb glühend haßte, weil er ihm diejenige, die seine Liebe erwiderte und die ihin also gehörte, entreißen und dieselbe für immer unglücklich machen wollte. Sehr zufrieden war er mit sich selbst darüber, daß er den Namen des ihm so überaus theuren Wesens mit keiner Silbe bei der Unterhalt ung erwähnt hatte, obwohl ihm einmal die Bemerk ung bereits auf der Zunge geschwebt, er werde Eugenie und deren Vater über den Character und die kauf männischen Geflogenheiten des Herrn Morrels auf klären und Beide vor ihm warnen. Dann wäre der Name Eugeniens in die aufge regten Debatten hineingezogen und hierdurch gewisser maßen entweiht worden, ohne daß eine solche leidige Thatsache an der allgemeinen Lage der Dinge das Geringste zu ändern vermocht hätte. Er hatte das stolze Gefühl, aus dem Rede-Duell mit Herrn Morrels als unbestrittener Sieger hervorgegangen zu sein, ohne hierbei irgend einen unangenehmen Verstoß oder Fehler begangen zu haben, er hatte jenen Mann zum Nachgeben gezwungen, und zwar, wie er sich plötzlich mit großer Erregung bewußt wurde, dadurch, daß er dessen Gewohnheit, nur in Wechseln zu zahlen, als verdächtig hinstellte. — Sollte Morrels denn wirk lich eine unehrliche Absicht hiermit verbinden? In welchem Verhältnisse stand aber Rchberg zu dem Letzteren und was konnte denselben bewogen haben, den ihm übergebenen Brief thatsächlich zu erbrechen? Und was sollte nun wohl aus Eugenie werden, wo das Erbrechen des Briefes den endgiltigen Beweis dafür liefern mußte, daß Herr Rehberg ein keines wegs in jeder Hinsicht zuverlässiger Mann war, der wahrscheinlich auch mit der Erfüllung seines anderen Versprechens nicht allzu gewissenhaft vorgehen würde! Ein derber Stoß gegen die Schulter weckte Paul aus seiner Träumerei. Einer der Spaziergänger auf dem Trottoir war gegen ihn gerannt, aber obwohl der Betreffende ohne sich umznschauen oder nur ein Wort der Entschuldigung zu sagen, weitcrgeschritten war, hatte Paul ihn doch sofort erkannt. Er war derselbe brutale Mensch, welcher sich ihm gestern als der Freund seines Prinzipals vorgestellt hatte. Noch stand Paul auf demselben Platze und blickte dem sich Entfernenden init zorniger Erregung nach, als er mit einem Male auf dem jenseitigen Trottoir die Gestalt eines alten Mannes bemerkte, der eben falls unverwandt die Augen auf jenen Fremden gerichtet hielt und dcmsebcn zu folgen schien. Hätte Paul auch nicht sofort in dem Alten den räthselhaften Hausirer erkannt, mit dem er einmal unter so eigenthümlichcn Umständen zusammcngetroffen war, so würde dennoch das Gebühren desselben sein Inter esse erregte haben, und daher beschloß er, den Beiden unbemerkt nachzugehen und sich zu überzeugen, wie die Sache weiter verlaufen würde. Der Alte hatte einen merkwürdig rüstigen Schritt. Er kam dem Freunde des Herrn Morrels, der sehr rasch und rücksichtslos über das Trottoir ging, immer näher, so daß Paul Mühe hatte, die Beiden nicht aus den Augen zu verlieren. Auf diese Weise hatten die drei Personen verschiedene Straßen durcheilt, als der erste derselben mit einem Male vor den hell er leuchteten Fenstern eines Casü's stehen blieb und nach kurzem Besinnen in das letztere eintrat. Zum großen Erstaunen Paul's schritt der Alte gelassen weiter, als hätte ihn jener Fremde nie im geringsten intercssirt und als wäre eS für ihn absolut gleichgiltig, was derselbe dort drinnen beginnen würde. Dem Hausirer nachzugehen erschien Paul zweck los, »vcit mehr erregte der Freund des Herrn Mor rels seine Neugierde, und nach kurzem Besinnen war sein Entschluß gefaßt, sich ebenfalls in das Cafv zu begeben und dort jenen Mann weiter zu beobachten. „Vielleicht werde ich ihn dort iin Kreise seiner Freunde sehen," dachte er bei sich, „welche zweifellos auch diejenigen des Herrn Morrcls sind, und es wird mir also zum ersten Male Gelegenheit geboten »verven, mich zu überzeugen, mit was für Menschen mein gewesener Prinzipal eigentlich intimer verkehrt." Paul hatte kaum einen Schritte in das Caf4 gethan, als er seinen Entschluß bereits bitter bereute. Am liebsten wäre er auf der Stelle wieder umgekehrt, denn das Cafe, dessen glänzende Außenseite- ihn ge täuscht hatte, war ein solches, welches ein anständiger Mensch nicht betreten sollte. Die Kellnerinnen, deren abgelebte Züge und geschminkte Wangen genügsam ihren eigentlichen Character verriethen, drängten sich mit frechen», herausforderndem Lachen um den einzigen Gast, den Freund des Herrn Morrels. Ohne wenigstens etwas verzehrt zu haben, konnte Paul nicht wieder zurück, und daher bestellte er sich bei einem der Frauenzimmer, welches sofort auf ihn zueilte, ein Glas Bier niit der Absicht, dasselbe zu bezahlen und sich alsdann, ohne es auch nur anzu rühren, wieder zu entfernen. Kaum hatte er jedoch das Geld auf den Tisch gelegt, als der andere Gast ihn wiedercrkanntc und in einem überaus groben Tone ihm zurief: „Ei, zum Henker, das ist ja derselbe Bursche, der sich gestern mir gegenüber so prozig benahm und dem ich nachher einen Bries an meinen Freund zur Be sorgung übergab! Stehen Sie mir jetzt einmal Rede, Menschenkind, und erklären Sie mir, Ivo Sie mit dem Briese hingekommen sind! Denn daß Morrels den selben nicht erhalten hat, weiß ich ganz bestimmt, da derselbe andernfalls sicher nach dem Rendezvous ge kommen wäre." Paul war sehr verlegen geworden. Ein Scandal schien unvermeidlich, und wenn er sich auch vor dem Manne keineswegs fürchtete, so war ihm doch der Gedanke höchst peinlich, daß an einem solchen Orte sich eine derartige Scene ereignen könnte. Einiger maßen beruhigend wirkte auf ihn die Wahrnehmung, daß Jener augenscheinlich keine Ahnung davon hatte, von wem er eigentlich gestern mit einer solchen Veheinenz zu Boden geschleudert worden war, und daher er widerte er so gefaßt wie möglich: „Den Brief habe ich besorgen lassen, ob jedoch Herr Morrels denselben erhalten hat, weiß ich nicbt, da ich nicht mehr in dessen Diensten stehe." „Er wird Sie vor die Thür geworfelt haben, weil der Brief vergessen oder verloren wurde," brüllte der Erstere, welcher sich abermals in angetrunkenem Zustande befand und durch die ruhige Haltung Paul's immer mehr in Wnth gerieth. Gestehen Sie die Wahrheit, Bursche, oder ich koinme zu Ihnen und breche Ihne»» mit diesen Fäusten das Genick." Unter einem lauten Aufkreischen der Frauenzim mer sprang der Wüthende auf und schritt auf Pauk zu, der sich ebenfalls erhoben hatte, und ihn mit bleichen und entschlossenen Mienen erwartete. In diesein verhängnißvollen Momente wurde aber mals die Thür geöffnet und zwei kräftige Männer in einfacher Kleidung traten ein, die sich sofort zwi schen den beiden Gegnern aufstcllten." „Was wollen Sic von diesem Herrn?" frug der ältere der Beiden in strengem Tone den Freund des Herrn Morrels, worauf dieser zornig ausrief: „Bekümmern Sie sich darum nicht, ich habe mit dein sauberen Monsieur, der mir einen werthvollen Brief an seinen Principal unterschlagen hat, einfach abzurcchnen. Mischen Sie sich also nicht in Dinge, die Sie nichts angchen, sondern machen Sie, daß Sic fortkommen." „Das letztere wollen wir sofort thun," lautete die ruhige Antwort, „nur müssen Sie uns begleiten. Herr Dirkx." Bei diesen Worten Und zumal bei der 'Nennung seines Namens wurde der Letztere aschfahl, suchte aber seine Angst unter einem frechen Trotz zu verbergen und erwiderte daher in unverschämtem Tone: