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Beilage ju Rr. 116 -es „Amts- un- Aiyeigeblattes." Eibcnstolk, den 1. Oktober 1892. Gesühnte Schuld. Eine Schilderung aus dem Kaufmannsleben von G. Struder. (S. Fortsetzung.) „Das Gebäude, in welchem das letztere sich be fand, bildete den würdigen Sitz einer solchen Welt firma. Es war groß und imposant, und enthielt die Bureaus von wenigstens einem Dutzend bekannter Firmen, die jedoch, ganz im Gegensätze zu Herrn Morrels, ihre Anwesenheit nnr durch gauz kleine Schilder über den verschiedenen in dem Hausflure angebrachte» Briefkasten zu verrathen für gnt befunden hatten. Der Anblick dieses Gebäudes und der zahlreichen augesehcuen Name», welche sich um die Firma Alexan der Morrels wie ans einem kostbaren Schmucke edle Perlen um einen noch edleren Brillanten zn grnppiren schienen, flößte Paul eiucn nicht geringen Respect von dieser Firma ein. Etwas zaghaft klopfte er an die jenige Thüre, auf welcher zum zweiten Male der Raine A. Morrels prankte und trat hierauf mit dem Hute in der Hand ein. Im höchsten Grade enttäuscht blickte er nm sich. Das Bureau bestand aus zwei kleinen, durch eine weit offenstehende Doppelthüre mit einander verbun denen Zimmern, die Paul trotz ihrer eleganten Ein richtung für ein solches Welthaus doch viel zu be schränkte und unansehnliche Räumlichkeiten zu sein schienen. Noch mehr aber erregte es sein Befremden, daß auf den Bureaus der Firma Alexander Morrels nur ein einziger Herr beschäftigt war, der ihn mit kühler und gemessener Höflichkeit frug, was zu seinen Diensten stände. Erst als dieser Herr auf die Erwiderung Paul'S bemerkt hatte, daß er selbst Herr Morrels sei, betrach tete dieser sich denselben etwas genauer. Es war ein großer und stattlicher Mann mit einem regelmäßigen, von einem dunkeln und dichten Bollbarte umrahmten Gesichte, aus dem zwei ebenso dunkle Augen selbstbewußt und überlegen hervorschauten. Seine Haltung war ganz diejenige eines reichen Kauf mannes, der cs weiß und cs fühlen lassen will, daß er Geld besitzt und welchen Werth er selbst durch dieses Geld hat, und mit dieser Haltung stand auch die Kleidung des etwa sechSunddreißigjührigcn Mannes in bestem Einklänge. Bis auf die weiße Weste und die weiße Cravatte war er von oben bis unten in ein tadelloses Schwarz gehüllt, während eine schwere goldene Uhrkette sowie kostbare Diamantringe noch besonders aus de» Reichthuin des EigenthümcrS der Firma Alexander Morrels hinwicsen. „Womit kann ich also dienen?" frug Herr Morrels, nachdem er sich zu erkennen gegeben hatte, weiter, wo rauf Paul entgegnete: „Mein Name ist Paul Lindner, und ich bin der selbe Commis, für welchen gestern bei Ihnen eine Caution deponirt wurde. Ich kam hierher, um mich Ihnen vorzustellcn, wobei ich mir erlaube zu benierkcn, daß es mir am angenehmsten wäre, wenn ich meine Stelle so bald wie möglich antreten könnte." Der überlegene Ausdruck in den Augen des Herrn Morrels wurde geradezu impertinent. „Ah, Sie sind der Commis!" erwiderte er ge dehnt. „ES ist ja richtig, ich erinnere mich dessen erst wieder, daß ich gestern Abend auf den Vorschlag jenes Mannes, Sie zn cngagiren, cingegangen bin und daß derselbe auch eine kleine Caution bei mir hinterlegte. Freilich jetzt ist hieran nichts mehr zu ändern, obwohl ich so ungern fremde Leute um mich habe, daß ich meine Arbeiten am liebsten selbst erledige. Diese Commis, wie sie heutigen TageS sich anzubieten pflegen, die glänzen in der Regel mehr durch schöne Bersprcchungen und Redensarten in Betreff ihrer Leistungsfähigkeit, als durch wirkliche Kenntnisse und wahren Eifer." „Das käme auf den Versuch an," erwiderte Paul, dein das Blut zu Kopfe stieg, „außerdem aber sollte ich meinen, Sie hätten dergleichen Bedenken Vorbringen sollen, ehe Sie sich die Caution auShändigen ließen." „Wenn ich nicht gewohnt wäre," lautete die sehr ruhige Antwort, nur die Leute mit kühlem Blute anzusehen und Sie für das zu nehmen, waö Sic wirklich sind, so würde ich jetzt sagen: „Ihre Offenherzig keit gefällt mir, junger Mann, sie bildet für mich den Beweis von Ehrlichkeit und Geradheit, und bitte ent schuldigen Sic gütigst, daß ich Sie anfangs so sehr verkannte. Da ich mir indessen durch nichts impo- nircn lasse, am allerwenigsten durch das Auftreten von Jemand, der von mir Geld verdienen will, so erkläre ich Ihnen von vornherein, daß Sie sich den Ton, welchen Sie soeben anznschlagcn beliebten, ein für allemal abgcwöhnen müssen. Und nunmehr kommen wir zur Sache. Zunächst: wie viel Gehalt verlangen Sie eigentlich?" Mit mühsam erzwungener Ruhe sagte Paul: „In meiner letzten Stellung erhielt ich 250 Francs per Monat." „So, so! Und wie hieß Ihr damaliger Principal?" „Johann Vandervelden." Paul schien cs so, als blitzte eS einen Moment eigenthümlich in den Augen des Herrn Morrels auf, aber er mußte sich wohl getäuscht haben, denn in demselbem apathischen Tone, in dem er bis dahin gesprochen, fuhr Jener fort: „Hat Herr Vandervelden Sie weggejagt und wenn ja, weshalb hat derselbe dies gethan?" „Ich bin noch nie ans einer Stelle weggejagt worden, sondern ich ging freiwillig, weil ich mir die Art, wie Herr Vandervelden mich behandelte, nicht länger gefallen lassen konnte." „Hm, hm! Besitzen Sie ein Zcugniß von Herrn Vandervelden?" „Hier ist cs." Herr Morrels laS dasselbe flüchtig durch und reichte es alsdann Paul zurück. „Soweit ist Alles ganz gut, nnr handelt es sich noch um das Gehalt, welches ich Ihnen aussctzen soll. Wenn ich Ihnen weniger bezahlen werde, als Herr Vandervelden, so geschieht dies nicht etwa des halb, weil ich mir nicht dieselben Ausgaben wie Jener — hier lächelte Herr Morrels überlegen — erlauben könnte. Vielmehr war cs stets mein Princip, junge Leute, die ich beschäftige, ausschließlich nach ihren Leistungen zu bezahlen, immer aber mit einem ganz kleinen Gehalte zu beginnen, uni sie hierdurch zn rechtem Eifer und zu dem Bestreben anzusporncn, sich durch eigene Kraft bald eine bessere Position zu schaffen. Richt anders würde ich cs auch Ihnen gegenüber halten und Ihnen demgemäß ein Anfangs gehalt von 125 Francs per Monat aussetzen, welches sich indessen bei großem Fleiße Ihrerseits schon nach Ablauf eines Jahres leicht verdoppeln könnte." „Für 12b Francs den Monat arbeite ich nicht, Herr Morrels," entgegnete Paul sehr ruhig. „Wer wie ich fünf Sprachen fließend schreibt und spricht, der darf auch einige Ansprüche erheben und jedenfalls ein höheres Gehalt verlange», als ein Burcaudiener oder Hausknecht." „Sie beherrschen fünf Sprachen! bemerkte erstaunt Herr Morrels. „Ja, warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Ich hätte Ihnen alsdann anstatt l25 Francs direct 150 angeboten. „Sie sind sehr gütig, Herr Morrels, indessen wurde ich auch diese Offerte abgelehnt haben. Kurzum, unter 225 Francs NnfangSgehalt, womit die feste Zusage auf baldige Ausbesserung verbunden sein müßte, trete ich bei Ihnen nicht ein, convenirt Ihnen dies aber nicht, so verzichte ich auf die Anstellung bei Ihnen und überlasse es Herrn Rehberg seine Caution zurückzuziehcn. „ES ist zu viel, was Sie verlangen! Ich will ein AeußersteS thun und Ihnen 200 Francs für den ersten Monat bezahlen. Ihnen dagegen schon im zweiten, wenn Sie sich als recht tüchtig und brauchbar er wiesen haben werden, die verlangten 225 geben. Nun entscheiden Sie sich. Höher gehe ich unter keinen Umständen." Nach kurzem Zögern erklärte sich Paul mit deni Vorschläge des Herrn Morrels einverstanden, und es wurde hieraus verabredet, daß er am andern Morgen um neun Uhr seine Stellung antretcn sollte. Eben wollte Paul sich entfernen, als Herr Morrels mit einem Male zu ihm sagte: „Was ich Sic noch fragen wollte, Herr Lindner: dieser Herr Rchberg ist wohl ein naher Verwandter von Ihnen? „Durchaus nicht, Herr Morrels. Ich habe den Herrn nnr ganz zufällig vor Kurzem kennen gelernt." „Was hat derselbe denn für ein Geschäft?" „DaS kann ich Ihnen nicht sagen." „DaS ist doch sonderbar! Aber Sie wissen doch jedenfalls, daß er sehr reich ist?" „Auch hierüber vermag ich Ihnen absolut keine Auskunft zn ertheilcn." „Hm! Nun, also bis Morgen, junger Mann, und seien Sie ja recht pünktlich; sollte ich aber viel leicht noch nicht hier sein, so warten Sie einfach, bis ich komme." Paul war von seinem neuen Principal keineswegs sehr erbaut. Das ganze Auftreten desselben gefiel ihm einfach nicht, sowohl in gesellschaftlicher wie in kaufmännischer Beziehung. Er fand daS Benehmen des Herrn Morrels abstoßend, prozig und überhebend, und noch weit unangenehmer als die wenigstens natürliche Derbheit und Grobheit seines früheren Principal«, der ihm auch als Kaufmann weit über Herrn Morrels zu stehen schien, trotz des überlegenen Lächeln des Letzteren, als er vorhin den Namen Vandervelden nannte." Denn nicht allein, daß dieser elf Commis auf seinem Bureau beschäftige, machte auch seine ganze Erscheinung einen weit gediegeneren Eindruck. Herr Vandervelden war eben ein Mann, der sich mit seinem Gelde nicht breit zu machen brauchte, weil er wußte, daß Jedem sein solider Reich- thnm bekannt war, während eS ihm bei Herrn Mor rels so vorkam, als wäre Alles in seinem Betragen darauf berechnet, den Glauben an enorme Gelder, über die er verfüge, zu erwecken. Daß derselbe Vermögen besaß, daran war ja nicht zu zweifeln, nur schien er dasselbe größer machen zu wollen, wie eS in Wirklichkeit war. Inmitten seiner Betrachtungen fiel es ihm ein, einmal nach der Uhr zu sehen. Sie zeigte auf elf und er hatte bis zum Mittagessen daher noch andert halb Stunden freie Zeit, die er zu einem Spazier gange der Schelde entlang zu benutzen sich entschloß. ES war ein wunderbarer Herbstmorgen. Kein Wölkchen trübte den azurblauen Himmel, aus welchem die Sonne ihre erwärmenden Strahlen auf die Straßen und den Fluß mit den Hunderten von bunt- bewimpcltcn Masten herniedersandte. Ueberall herrschte ein emsiges Treiben und Leben. Dampfkrahnen hoben mit rasselnden! Geräusche die gewaltigsten Lasten wie spielend aus den Schiffen in die nebenan ans den OuaiS stehenden Eisenbahnwaggonö, zischend und schnaubend zogen von beiden Richtungen kommende Locomotivcn lange Güterzüge über die Geleise auf den Quais, schwerbeladene Lastwagen kamen an und ent fernten sich, und dazwischen hörte man die Commando- rufe der Offiziere und Bootsleute auf den Schiffen oder daS Geschrei der Fuhrleute und der mit Aus- und Einladen beschäftigten Arbeiter. Eine Stimme aber übertönte all' dieses Lärmen und das war die jenige der Glocke in dem großen Thurme der benach barten Kathedrale, die ernst und feierlich aus schwin delnder Höhe ihre majestätischen Klänge erschallen ließ. Und diese Töne mit ihrem weihevollen Ernste drangen allniälig auch tief bis in da« Herz des jungen Mannes, der anfangs mit ungetheiltcm Interesse das imposante Schauspiel auf dem Flusse und den Quais betrachtet hatte. Erst fühlte er sich auf eine eigen- thümliche und ihm unerklärliche Weise bewegt, dann war cs ihm, als mahne die Glocke ihn daran, wie nichtig doch all' dieser Reichthuin vor seinen Augen sei, dessen Besitz so vielen Menschen als höchstes Lebensziel vorschwebe, und zuletzt überfiel ihn mit immer stärkerer Wucht der Gedanke an sein eigenes armes und freudenloses Dasein. In frühester Jugend hatte er die Eltern verloren und an ihrer Stelle einen Vormnd erhalten, der ihn sehr strenge behandelte und ihn später, als das kleine, von den Ersteren hinterlassene Capital von den Kosten für seine Erzieh ung verschlungen war, bei fremden Leuten unter brachte, wo er sich erst als Lehrjunge und Ausläufer und später als Commis seinen Unterhalt erwerben mußte. Unter Beschwerden und Erfahrungen aller Art nnd unter harter Arbeit waren seine schönsten Jugend jahre dahingeschwunden, nie hatte er sich eine Er holung gegönnt, vielmehr sogar jede freie Stunde zur Erweiterung seiner Kenntnisse benutzt, aber trotz alle» Ringens und Duldens war er heute doch immer noch nichts weiter als ein armer Commis, der sich mühsam eben durch's Leben schlug und dcyi, wenn er einmal krank werden sollte, weder Existenz mittel noch irgend ein Tröster oder Helfer zur Seite stehen würde. War ein solches Dasein cs eigentlich werth, daß er so viele Mühe auf seine Erhaltung verwandte, und thätc er vielleicht nicht besser daran, wenn er auf einem dieser stolzen Schiffe vor ihm nach irgend einem fernen Welttheile führe, um sich dort als Soldat anwerben zu lassen und entweder sein Glück zu machen oder rasch und rühmlich aus diesem armseligen Leben zu scheiden? Während er in solche Betrachtungen versunken langsam dahinschritt, fiel sein Blick mit einem Male ans etwas Gänzendes am Boden. Mechanisch bückte er sich, um den Gegenstand aufzuheben, und bemerkte nun, daß es ein einfaches goldenes Medaillon war, wel ches er, von Neugierde getrieben, öffnete. In demselben befand sich, umkränzt von einer kleinen Flechte glänzend schwarzer Haare, das Bild eines auffallend schönen, nur etwas allzu üppigen WcibeS von 30 bis 40 Jahren. Die Züge desselben kamen ihm bekannt vor und doch erinnerte er sich nicht, dieses Gesicht jemals in seinem Leben gesehen zu haben. Nachdenklich steckte er das Medaillon zu sich, um eS gelegentlich auf einem Polizeibureau abzuliefern und setzte als dann seinen Weg weiter fort. Vielleicht dreißig Schritte mochte er zurückgelegt haben, als er eine weibliche Gestalt auf sich znkom- men sah, deren Anblick ihm alles Blut stürmisch nach dem Herzen jagte, ihn aber auch sofort darüber auf klärte, weshalb daS Bild in dem Medaillon ihm so bekannt vorgekommcn war. DaS Antlitz auf diesen! Bilde hatte nämlich eine außerordentliche Achnlichkeit mit demjenigen von Eugcnie Vandervelden, welche mit gcrölhetcin Antlitz und mit allen Zeichen großer Aufregung ihm entgegeneilte. Sie hatte jedenfalls daS Medaillon verloren und war zurückgckehrt, um eS zu suchen, nnd er hatte das Glück gehabt, das Verlorene zu finden und eS ihr überreichen zu dürfen.