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Beilage m Rr. 113 -es „Amts- un- Anjeigeblattes." Cibenstolk, den 24. September 1892. Gesühnte Schuld. Eine Schilderung aus dem Kaufmannsleben von G. St rüder. (I. Fortsetzung.) Der Gedanke, daß er die gut bezahlte Stelle ver loren hatte und jetzt brodlos war, beschäftigte ihn keinen Augenblick; ganz allein das aus den rauhen Worten Vandervelden'S hervorklingende Wohlwollen hatte diese veränderte Stimmung in ihm erzeugt. Er hatte das Gefühl, als wäre dieses Wohl wollen von ihm nicht in der rechten Weise gewürdigt, ja sogar mit Undankbarkeit erwidert worden, und wie die so unerwartet bewiesene Güte des alten Herrn sein Gemüth mit einem Male seltsam bewegt hatte, so wurde dasselbe durch die Erinnerung an sein Auftreten auf's peinlichste gequält und beunruhigt. Nachdenklich und mit gebeugtem Haupte schritt er langsam durch den langen Corridor, welcher von dem Bureau der Firma A. I. Vandcrvelden nach der Eiugangöthür zu dem Hause führte, als plötz lich eine sanfte weibliche Stimme zu ihm sagte: „Entschuldigen Sie, mein Herr, können Sic mir vielleicht mittheilcu, ob Herr Bandervclden sich augen blicklich auf seinem Bureau befindet?" Ueberrascht schaute Paul auf. Bor ihm stand eine elegant gekleidete und wohlgewachsene Dame von höchstens zwanzig Jahren mit einem so wunderbar schönen, regelmäßigen und edlen Gesichte, daß der junge Mann sich sofort gestand, ein auch in nur ähn lichem Maße vollkommenes Menschenantlitz noch nie mals gesehen zu haben. Es war das Antlitz einer Madonna, umrahmt von einer Fülle der prächtigsten schwarzen Locken und mit fast ebenso schwarzen, großen und glänzenden Augen. Wäre Paul länger in der dcrühmten Scheldestadt gewesen und hätte er bis da hin mehr mjt den dortigen Menschen verkehrt, so würde er sofort gewußt haben, daß er eines jener Gesichter vor sich erblickte, wie man sie in Antwerpen selbst unter der ärmsten Classe mitunter antrifft und in denen die Schönheiten des romanischen und des germanischen Typus zu eiuem herrlichen Ganzen sich vereinigen. Auf die langjährige Herrschaft der Spanier in den Niederlanden weist heute noch das prachtvolle, glänzend schwarze Haar so vieler Flam- ländcrinncu hin, aber auch in den Zügen der letzteren verräth sich häufig genug und unverkennbar die Ab stammung von jenen. Paul war so verblüfft über den Anblick des schönen Mädchens, daß er anfangs kein Wort hervorzubringen vermochte. Er konnte nur staunen und bewundern, wie mit magnetischer Gewalt hefteten sich seine Augen auf dieses Engelsantlitz, in dem er eine überirdische Erscheinung in diesem Augenblicke zu sehen vermeinte. DaS unverwandte Anstarren schien der jungen Dame unangenehm zu sein und sie in Verlegenheit zu setze». Sie wandte den Kopf etwas zur Seite und bemerkte diesmal in französischer Sprache: „Sic haben mich wohl nicht verstanden, mein Herr? Ich frug Sie soeben, ob Herr Bandervclden, mein Vater, sich noch auf seinem Bureau befände, und außerdem möchte ich wissen, ob derselbe keinen Besuch von Geschäftsfreunden hat. Da Sie allem Anschein nach von seinem Bureau kommen und, wie ich vermuthe, ein Angestellter meines Vaters sind, so werden Sic mir jedenfalls Auskunft hierüber erthcilen können." Paul war mit einem Male, er wußte selbst nicht warum, glühend roth geworden. „Ihr Herr Vater weilt allerdings auf seinem Bureau, mein Fräulein," brachte er mühsam hervor, „und zwar befindet er sich ganz allein auf demselben. Ihre Frage hatte mich so sehr in Verlegenheit gesetzt, weil ich nicht im entferntesten auf die Ehre gefaßt gewesen war, mit Fräulein Banderveldc» zu sprechen." „Nun, was diese Ehre angeht," versetzte sic mit einem entzückenden Lächeln, „so wird dieselbe tagtäg lich so vielen Menschen zu Thcil, daß Niemand mehr hierin eine besondere Auszeichnung zu erblicken braucht. Einstweilen indessen besten Dank für Ihre Auskunft, mein Herr." Leicht grüßend entfernte sic sich in der Richtung nach den Bureaus, während Paul ihr so lange nach schaute, bis die graziöse Gestalt seinen Blicken ent schwunden war. Wie in einem Traume befangen setzte er seinen Weg weiter fort. DaS also war die Tochter des reichen Vandervelden, von deren Schönheit seine Be kannten auf dem Bureau schon so häufig gesprochen hatten, ohne daß jedoch die überschwänglichsten Acußer- ungen derselben auch nur im entferntesten der sinn berückenden Wirklichkeit glcichgckommcn wären! Und jetzt, wo er diese wunderbare Schönheit einmal gesehen, wo er fühlte, wie nur der Gedanke an eine nochmalige Begegnung mit ihr ihn stürmisch erregte, da mußte er fort aus diesem Hause und hiermit allen Hoffnungen auf ein Wiedersehen, auf das Glück, ihre Stimme zu hören und vielleicht zum zweiten Male mit ihr sprechen zu dürfen, für immer entsagen. Denn wo hätte für ihn, den armen Commis, eine solche Ge legenheit sich sonst wohl bieten können, als in der Nähe ihres Vaters, den sic jedenfalls noch öfters auf seinem Bureau aufsuchen würde. Seine Gemüthsstimmung wurde eine immer un behaglichere, er war ärgerlich und dauiedergedrückt und dabei so mit seinen Gedanke» beschäftigt, daß er hierüber seine Umgebung vollständig vergaß. Als er endlich aufschaute, um sich in der hereinbrechenden Dunkelheit darüber zu orientiren, wo er sich denn eigentlich befand, bemerkte er zu seinem Erstaunen, daß er in eine ihm ganz unbekannte Gegend gerathen war. giach kurzem Ueberlegcn schritt er auf ein Estaminct zu, welches er nicht weit von sich entdeckte, uni mit einem Glase Bier seinen Verdruß hinuuterzuspülen und sich gleichzeitig Rath darüber zu holen, welchen Weg er einzuschlagcn hätte, nm nach seiner Wohnung zu gelangen. Paul hatte kaum einige Minuten in dem Locale gesessen, als ein etwa 40 bis 50 Jahre alter, be scheiden, aber anständig gekleideter Mann eintrat, welcher beim Anblicke des Ersteren sofort stehen blieb und ihn mit seinen grauen und durchdringenden Augen so scharf fixirte, daß diesem die Röthc des Un willens in den Kopf stieg. Bei dieser Beobachtung mußte der Fremde, dessen mittelgroße Gestalt trotz ihrer Hagerkeit auf eine be deutende Körperstärke hindeutete und der ganz kurz geschnittene Haare sowie ein völlig glatt rasirtes, wetterhartes Gesicht hatte, lächeln. Er trat dicht vor Paul hin und sagte: „Sic sind gewiß noch nicht lange in Antwerpen, junger Herr?" „Allerdings nicht," erwiderte der Erstere, erstaunt über diese Anrede. „Aber inwiefern intercssirt Sic dies und weshalb fragen Sie mich hiernach?" Ohne die Einladung hierzu abzuwarten, ließ sich der Fremde Panl gegenüber au dem Tische nieder und entgegnete: „Weil ich Sic sonst sicher schon bemerkt habe» müßte. Denn Ihr Name ist doch Lindner und Sie stammen aus Düsseldorf." „Das stimmt ganz genau," bemerkte Paul mit steigender Verwunderung. „Sic kennen mich und doch erinnere ich mich nicht, Sie jemals in meinem Leben gesehen zu haben. Vielleicht kehrt indessen die Erinnerung in mir wieder zurück, wenn Sie die Güte haben wollen, mir nunmehr anch Ihren Namen mit- zutheilen." „Der Name thut nichts zur Sache, Herr Lindner," lautete die mit freundlicher Miene erthciltc Antwort. „Oder meinetwegen können Sie mich auch Rehberg nennen, denn da wir jedenfalls noch öfter Zusammen treffen werden, so müssen Sie doch einen Namen für mich haben. Befinden Sie sich hier auf der Durchreise, vielleicht gar als Auswanderer oder sind Sie etwa zu dem Zwecke nach Antwerpen gekommen, um sich Hierselbst eine Stelle zu suchen?" „Ich verstehe es wirklich nicht, was Sie, einen für mich ganz Fremden, dazu veranlaßt, alle diese Fragen an mich zu richten," entgegnete Paul nicht ohne Mißtrauen. „Mir wenigstens würde es nie mals einfallen, Jemand, den ich zum ersten Male in meinem Leben sähe, nunmehr ohne weiteres in dieser von Ihnen beliebten Weise auSzuforschcn." „Daß ich für Sic keineswegs ein ganz Fremder bin, ersehen Sie daraus, daß ich Sie sofort erkannt habe, außerdem aber kann ich Ihnen die Versicherung geben, daß ich mich auf's lebhafteste für Sie inter- essire und daß ich allein aus dem Grunde meine vorigen Fragen an Sie stellte, weil ich hoffte, Ihnen vielleicht »och einmal nützlich sein zu können. Daß es mir zu diesem Zwecke weder an gutem Willen noch auch uulcr Umständen an dem erforderlichen Einflüsse gebricht, darauf dürfen Sie sich ruhig ver lassen." Die bestimmte, sichere Sprache Rchberg's blieb nicht ohne Eindruck auf Paul. Seine Haltung wurde etwas zugänglicher und höflich erwiderte er: „Bin ich auch noch immer in hohem Grade er staunt darüber, was in Ihnen ein solches Interesse für mich hervorruft, so sehe ich doch nicht ein, weshalb ich Ihren Worten keinen Glauben bcimesscn sollte, und ich kann daher Ihre Frage um so unbedenklicher der Wahrheit gemäß beantworten, als ich vor Nie mand etwas zu verbergen habe. „Um Ihre Neugierde nicht länger unbefriedigt zu lassen, bemerke ich Ihnen, daß ich mich seit etwa vier Wochen in Antwerpen befinde, wo ich in einem großen kaufmännischen Geschäfte die Stelle eines Commis be kleidete, daß ich indessen diese Stelle seit etwa einer Stunde verloren habe." „So daß Sie sich augenblicklich in großer Ver legenheit befinden, was Sie anfangcn sollen?" forschte Rehberg weiter. „Und vielleicht sehen Sie gar mit schlimmer Besorgniß der nächsten Zukunft entgegen, weil — nun weil junge Leute in Ihrem Alter und von Ihrem Berufe selten über größere Mittel verfügen." „So gefährlich sieht es mit mir nun gerade nicht aus. Habe ich doch eben erst mein Gehalt erhalten und außerdem hatte ich meine kleinen Ersparnisse nach Antwerpen mitgebracht, von denen immer noch einiges übrig ist. Aber Sic fragen mich so viel," fügte er lächelnd hinzu, „daß ich mir wohl anch eine Frage erlauben darf: Ginge Ihr Interesse für mich etwa so weit, daß Sie mir im Falle einer wirklichen Noth auf meiner Seite anch materiell zur Hilfe zu kommen gedachten?" „Ich weiß, was Ihre Frage bezweckte," entgegnete gelassen der Erstere, wobei er aus der Seitentasche seines Rockes eine dicke Brieftasche hervorzog und dieselbe öffnete. „Sie dachten mich mit derselben in Verlegenheit zu setzen, indem Sie mir sagen könnten: ja, sehen Sie, lieber Herr, mit schönen Worten können Sie wohl Ihr Interesse für mich betheuern, aber so bald cs gilt, dasselbe auch durch die That zu beweisen, dann ziehen Sie sich vorsichtig zurück. Aber darin irren Sic sich. Hier sind fünfhundert Francs, die ich soeben einkassirt habe. Wollen Sie sich derselben bedienen, so greifen Sie zn, mehr habe ich leider nicht bei mir. Sie brauchen mir keine Quittung zu geben und können das Geld an mich zurückbezahlen, wenn und wie es Ihnen beliebt." Diesmal war Paul so verblüfft, daß er anfangs gar nicht wußte, was er sagen sollte. „Aber um des Himmels Willen, wer sind Sie denn eigentlich, der Sie mir ein solches unerhörtes Anerbieten machen?" rief er endlich aus, worauf der Andere ernst, beinahe feierlich erwiderte: „Ich bin Ihr Freund, junger Mann, oder ich hoffe es wenigstens zn werden, nachdem ich Sie etwas näher werde kennen gelernt haben. Vor 'Noth oder pecuniiiren Sorgen brauchen Sie von jetzt an keine Furcht mehr zu haben, denn ich werde stets zu Ihrer Hilfe bereit sein, so lange ich überzeugt bin, daß Sie auf geraden Wegen durch das Leben wandeln und nicht etwa leichtsinnig oder zum Müßiggänge geneigt sind. Und nun eine andere Frage: Weshalb haben Sie Ihre bisherige Stelle verloren, Herr Lindner?" ,SZeil ich die brutale Behandlung von Seiten meines Principals nicht länger zu ertragen vermochte," entgegnete Paul, auf dessen Gemüth der seltsame Fremde bereits einen solchen Einfluß ausübte, daß er überhaupt nicht im Stande war, ihni, wie vorhin, eine ausweichende Antwort zu geben. „Und wie hieß Ihr Principal?" „Johann Bandervclden." Herr Rehberg lächelte bei dieser Antwort. „Daß Sie dort nicht geblieben sind, kann ich verstehen, denn Herr Vandervelden ist bekannt als ein jähzorniger und grober Mensch, obgleich er im übrigen keineswegs einen schlechten Character besitzt. Den Armen zum Beispiel erweist er sehr viel Gutes, wie er überhaupt für alle Unglücklichen stets eine offene und hilfsbereite Hand hat. An dieser Großmuth soll freilich die meiste Schuld die Tochter Eugenic tragen, ein ebenso freundliches und liebenswürdiges wie durch seiue ungewöhnliche Schönheit bekanntes Fräulein. Aber Sic werden ja mit einem Male ganz roth, Herr Lindner! Kennen Sie denn die jnngc Dame?" „Ich habe dieselbe ein einziges Mal gesehen," erwiderte Paul, der vergebens seine Erregung zu verbergen suchte, „und zwar ebenfalls vor ungefähr einer Stunde, in der ich das Glück hatte, mit dem Fräulein einige Worte wechseln zu dürfen." „Hm, hm! In diesem Falle muß dieselbe entweder einen außerordentlichen Eindruck auf Sie gemacht haben oder es ist sonst ctlvaS zwischen Ihnen vorge fallen, daß das Zusammentreffen mit Fräulein Eugenic Sie in dieser Weise aufzurcgen vermag. Bei meiner ersten Bemerkung crröthetcn Sic wieder, bei der zweiten wurden Sie zornig, die erste traf also das Richtige und das bedaure ich Ihretwegen sehr, Herr Lindner. Denn in diesem Falle müßten wahrschein lich in Ihnen Wünsche entstehen oder vielleicht auch schon entstanden sein, deren Verwirklichung, soweit ich den alten Vandervelden kenne, ganz und gar aus sichtslos wäre." „Herr Rehbcrg," sagte Paul, dessen Brust sich ersicht lich hob und senkte, „ich bitte Sie, dieses Thema ab- zubrcchen, denn cS ist mir peinlich. Daß die Schön heit des Fräuleins einen außerordentlichen Eindruck auf mich machte, will ich nicht bestreiten, aber um aus ihrem einmaligen Anblicke nun sofort chimärische Hoffnungen für mich abzuleitcn, dazu bin ich denn doch nicht sanguinisch und phantastisch genug veranlagt." „Bravo! diese Sprache gefällt mir an Ihnen," rief der Erstere freudig aus. „Suchen Sie das Bild des jungen Mädchen« zu vergessen, und'zwar'so schnell wie möglich, denn die Erinnerung an dasselbe kann nur Ihrem anderweitigen Streben und Ihrer Carriöre hinderlich sein. Sprechen wir also von der