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Beilage M Rr. 98 des „Amts- und Ameigeblattes." Eibenstock, den 20. August 1892. Das Räthsrl in Marmor. Original-Novelle von Gustav Höcker. (7. Fortsetzung.) Jeder Zug, den Wolfgang Henle in des Vetters Benehmen beobachtet, jede Aeußerung, jede Maßnahme desselben lag jetzt in allen ihren hinterlistigen Grün den klar vor Wolfgangs Ange: deö Vetters heftiger Widerspruch, als Wolfgang ihm die Absicht zn er kennen gab, in Leipzig der Mutter Grab zn besuchen, seine vorgeschützte Unwissenheit über AlbertinenS Schick sal und Aufenthalt, sein eifersüchtiger Hohn, als sich Wolfgang von ihr ein unvergeßliches Andenken be wahrt glaubte. Ueber die Person nnd die Beweggründe jenes räthselhaftcn Fremden grübelte er umsonst. An sein Spionhandwerk glaubte er nicht mehr. Wohl aber mußte dieser Mann genau mit allen Verhältnissen dieses Hauses vertraut sein und, nach Wolfgangs Schilderung vom Vetter sogleich erkannt, hatte dieser mit großer Geistesgegenwart einen Spion ans ihm gemacht und mit glücklichem Griffe nicht nur Wolfgangs Mißtrauen sofort niedergeschlagen, sondern diesen auch von der Nothwendigkeit einer raschen Flucht überzeugt. So war er den gefährlichen Ankömmling aus Amerika wieder los ; der eilige Aufbruch mittels einer Equipage war eine Komödie und des Vetters Mit fahrt eine Vorsichtsmaßregel gewesen, nm ein etwaiges AnSsragen des Kutschers durch Wolfgang zu verhindern. Wolfgang wollte zunächst untersuchen, wie weit die Aufklärungen reichen würden, die der Bild hauer zu geben im Stande war, und in der Hoffnung, daß derselbe von seiner Reise zurück sei, trat er den Weg nach dessen Atelier an. Er überdachte unterwegs die Lage der Dinge, wie sie sich ihn, nach den neuesten Erfahrungen darstellte. Er hatte Albertine aus Schonung bei dem Glauben gelassen, daß er auch von ihrem Gemahl für todt gehalten worden sei. Gerade das Gegcntheil jedoch, nämlich die für Wolfgang noch iminer unerklärliche Jnszcnirung seines Todes, glanbte er als das wohlüberlegte, planvoll" durchgeführte Werk des Vetters erkennen zu müssen, welcher in seiner Sucht nach Reichthum den flüchtigen, vom Vaterlande losgerissenen Erbe» eines bedeuten den Vermögens für todt ausgegeben hatte, um als einziger Verwandter Frau Ritters die Erbschaft für sich selbst zu sicher». Durch die falsche Nachricht vou dem Ableben der Blutter schnitt er von vornherein die Möglichkeit ab, daß ein Brief Wolfgangs seinen Plan vereiteln könne. Hätte Wolfgang während seiner Flucht Zeit ge funden, auch nur eine Zeile nach Hause zu schreiben, so wäre für Rabeling das Spiel unbedingt verloren gewesen, aber das Glück begünstigte, wie so oft, das Verbrechen. Nachdem Rabeling mit der falschen Todesnachricht den ersten Schritt gethan, that er auch den zweiten durch die durchaus glaubwürdige, ja folgerechte Vorspiegelung, das Erbe des politischen Flüchtlings sei voni Staate eingezogen worden, und benahm da durch jenem den Muth, zur Rettung seines Vermögens etwas zu unternehmen. So war es dem unbedeutenden Verwandten, von dem sich Wolfgang einst beneidet sah, gelungen, voll ständig dessen Stelle einzunchmen: er genoß den Mit besitz des mütterlichen Vermögens und hatte die Braut heimgeführt, die Wolfgang sich erkoren. Eine Regung von Eifersucht konnte natürlich in Wolfgang nicht aufkommen, selbst jetzt nicht, wo er durch die Grabschrift über die ganze Tiefe der Neig ung belehrt worden war, welche die frühere Braut für ihn gehegt und über das Grab hinaus bewahrt hatte, und wo er das hochherzige Opfer kannte, das sie um seinetwillen der Mutter gebracht. Er würde allerdings durch diese Erkenntniß vor dem verzweifelten Schritte geschützt worden sein, den Konflikt seine- Herzens durch den Heldentod lösen zu wollen, — aber ein anderes Gefühl, als das einer übernommenen Pflicht würde ihn auch heute nicht mit Albertinen zum Traualtar gegleitet haben. Jener fieberische Pulsschlag der Liebe hatte Friede riken gegolten, die er nicht besitzen durfte, die seine Leidenschaft nicht erwiderte, und wenn auch Zeit und Entfernung den wühlenden Schmerz hoffnungs loser Entsagung in ihm gedämpft hatten, so war die Wunde doch wieder aufgebrochen, seit er den Fuß auf den Schauplatz alter Erinnerungen gesetzt und einem unwiderstehlichen Drange nachgebend, die volle Gewalt von FriederikenS Persönlichkeit wieder hatte auf sich wirken lassen. Er rang mit sich selbst, den Gedanken an die Künstlerin niederzukämpfen, er schien ihm sündig an gesichts der wiedergesundenen Mutter, die er um ihretwillen schon einmal verloren hatte. Alles das beschäftigte seine Seele während des ganzen Weges, bis er sich vor dem Hanse des Bild hauers angelangt sah. Als er, wieder stumm begrüßt von der singenden Eugelsschaar, die dem Eingänge gegenüber stand, das Atelier betrat, wurde er wie gestern von der Frau des Bildhauers empfange». Seine Befürchtung, daß ihr Mann noch verreist sei, bestätigte sich jedoch nicht. Er war heute zurück gekehrt, augenblicklich aber in Geschäften ausgegangen die ihn voraussichtlich bis zum Abend vom Hause fernhalten würden. „Doch habe ich meinem Manne Ihr Anliegen schon mitgethcilt," fügte die Frau hinzu, „und mir von ihm noch einmal den Hergang bei Auffindung der Leiche Ihres Verwandten erzählen lassen." „Dann könnte ich also jetzt die gewünschte Aus kunft auch von Ihnen erhalten?" fragte Wolfgang und bezwang sich nur mit Mühe, den Schein äußerer Ruhe zu bewahren. „So weit mein Mann sich darüber geäußert hat, allerdings. Aber er war sehr eilig und Alles was er mir sagte, beschränkte sich nur ans einige kleine Sätze. Wenn Ihnen daran liegt, Ausführlicheres zu erfahren, so werden Sie morgen Vormittag »och ei»-> mal Herkommen müssen." „Einstweilen würde ich auch für die oberflächlichste Mittheilung sehr dankbar sein," versicherte Wolfgang in größter Anfrcgnng. „Viel weiter reicht diese freilich nicht," antwor tete die Bildhauersfrau, „als daß mein Man» zu der Patrouille kommandirt war, die Ihren Verwandten suchte, uni ihn gefangen zu nehmen. Jemand hatte es verrathen, daß er sich im Magazin eines Droguen- händlers versteckt halte. Während man ihn suchte, kam der Hausbesitzer selbst und bekannte offen, daß der Gesuchte sich bei ihm habe verbergen wollen; er habe ihm dies jedoch, als einem Rebellen, verweigert, und um der Gefangenschaft zn entgehen, habe sich der Flüchtling vor seinen Augen erschossen. In einem der Wohnräume fand man auch den Todten, mit der Wunde in der Brust. Er war dem Führer der Patrouille und einem diese begleitenden Polizeikom- missar als Wolfgang Ritter und zugleich so vom Drognenhändler bezeichnet worden. Der Letztere räumte die Richtigkeit dieser Angaben ein, und als man in den Kleidern des Todten nachsuchte, fand sich darin eine gestickte Brieftasche, welche den Namen Wolfgang Ritter trug und ein Bündel an den gleichen Namen adressirter Briefe enthielt, die von seiner Braut stammten. Das ist Alles, was mir mein Mann darüber gesagt hat. So dürftig diese Auskunft der Berichterstatterin erscheinen mochte, von so gewichtigem Inhalt war sic für Wolfgang. Bei der Leiche eines Aufständischen also hatte man seine Brieftasche, AlbertinenS Geschenk nebst ihren Briefen gefunden. Wie der Vetter zu jenem todten Gaste gekommen war, blieb Wolfgang jetzt 'Nebensache. Daß aber Rabeling diese Gegenstände vorher dem Todten zugcsteckt nnd dadurch Wolfgangs Personalien auf denselben übertragen hatte nnd daß der fremde Leichnam auf dem Namen Wolfgang Ritter beerdigt worden war, schien zweifellos. Auch darüber, wie die Brieftasche sammt ihrem Inhalt in Rabelings Hände gelangt sein könnte, hatte Wolfgang seine Vermnthung, die an Klarheit kaum zu wünschen übrig ließ. Es fiel ihm sogleich Rabelings Gehilfe ein, welcher im Auftrage des Gehcimraths Kammrodt diese Gegen stände ihm abgefordert und dafür den Verlobungsring und die Briefe überbracht hatte, die Albertine von Wolfgang besaß. Der Austausch dieser Andenken durch die Hand Trimborns ließ keinen Zweifel mehr zu, daß der Letztere wirklich als Bevollmächtigter des Geheimraths handelte. 'Naturgemäß mußte aber Wolfgang jetzt auf den Gedanken gerathen, daß Trimborn seine Vollmacht mißbraucht und die Brieftasche sammt den Inhalt seinem Prinzipale ausgeliefert habe, der sich ihrer dann bediente, um die nach Wolfgang suchende Pa trouille über dessen Person zu täuschen. Noch war hierbei manches Räthselhafte, denn un möglich konnte Rabeling voraussehen, daß Wolfgang als Flüchtling bei ihm Schutz suchen werde, wenn auch der von Trimborn an ihm geübte Verrath sicher das Werk eines Einverständnisses zwischen Prinzipal und Gehilfe gewesen war, denn Wolfgang wußte sich von Trimborn sehr gehaßt; er hatte den ihm durchaus unsympathischen Menschen, der mit ihm im Hause wohnte, nie Beachtung geschenkt und sich durch dieses vornehme Uebersehen sein Uebelwollen zugezogen, dessen erste Folge offenbar war, daß er dem Ge heimrath Wolfgangs Theilnahme an dem Straßen kampfe verrieth. Wolfgang dankte der Frau für ihre Mitthcilung nnd verließ das Atelier mit dem Vorhaben, am nächsten Vormittage noch einmal wieder zu kommen, um vielleicht noch Ausführlicheres von dem Bildhauer selbst zu erfahren, dessen Zeugniß von Wichtigkeit werden konnte, falls Rabeling sich weigerte, die Wahr heit zu bekennen. Es war Nachmittag nnd seit dem heute Früh im Hotel genommenen Frühstück hatte Wolfgang weder Speise noch Trank genossen, auch fühlte er sich infolge der gewaltigen Eindrücke, die er heute empfangen, in hohem Grade abgespannt. Er suchte daher wieder das Hotel auf, um sich der Ruhe hinzugeben. 'Nach seiner Ankunft daselbst warf er rasch erst noch ein paar Zeilen an Albertine nieder. Es sei für die Aufhellung des Thatbestandeö wichtig für ihn, theilte er ihr mit, zu wissen, an welchem Tage sie aus Trimborns Händen jene Brief tasche mit ihren Briefen zurückempfangen und ob sie dieselbe stets in sicherer Verwahrung gehalten habe. Wolfgang übergab das Billet einem Diener, der ihm vom Wirthe als besonders zuverlässig empfohlen wurde, und beauftragte denselben, den Brief nur dann abzugeben, wenn Frau Rabeling, die er dem Boten ganz genau beschrieb, ihn selbst in Empfang nähme. In diesem Falle sollte er auf Antwort warten. Das Billet, mit welchem nach einer geraumen Zeit der Bote zurückkehrte, trug AlbertinenS wohlbekannte Schriftzüge. Wolfgang las es kopfschüttelnd. Tag und Stunde, wo Albertine die Brieftasche sammt den Briefen von Trimborn ausgeliefert worden war, stimmten genau mit der Zeit, zu welcher Wolfgang dem Droguenge- hilfen beides übergeben zu haben sich genau erinnerte. Die Ablieferung war somit ohne Verzug erfolgt. Auch hatte Albertine, wie sie hinzufügte, die Gegen stände an einem Orte aufgehoben, der keiner fremden Person zugänglich war; sie hatte sie auch niemals vermißt und sie fanden sich heute noch in ihrem Besitze. VII. Es war am anderen Morgen, als Rabeling in das Kabinet trat, welches an die Offizin stieß nnd ihm als Arbeitszimmer diente. Er begann sein Tage werk damit, daß er auf die Glocke drückte, die vor ihm auf dem Schreibtisch stand. Die Glocke versagte mehrere Male unter dem allzu heftigen Druck und der Ton, den sie endlich von sich gab, klang sehr schrill. Für die Gehilfen in der Offizin war das ein Zeichen, daß Einer von ihnen in das Kabinet de« Prinzipals kommen solle, um dessen Befehle entgcgen- znnehmen. So pünktlich die letzteren sonst vollzogen wurden, so rührte sich doch heute Keiner der Gehilfen von der Stelle. Mit einer einzigen Ausnahme, sahen sich Alle betroffen an, denn wenn die Glocke jenen schrillen Ton von sich gab, so war der Prinzipal "in böser Laune, und dann zitterte Jeder vor ihm, auch wer noch so ein reines Gewissen hatte. Daher wollte Keiner den schweren Gang thun; Einer deutete auf den Anderen, daß dieser gehen sollte, und Jeder wies die Zumuthung durch ein Kopfschütteln ab, bis das Glockenzeichen fünf- oder sechsmal hinter einander erklang und nun Alle zugleich in das Kabi net stürzten, der eine ausgenommen. Gegen Erwarten setzte es keine Rüge ab, ein so finsteres Gewölk sich auch um die schwarzen Kleckse über den kleinen Augen des gestrengen Prinzipals zusammengezogen hatte, so zornig auch Hals und Backen sich blähten! „Trimborn!" war Alles, was er in strengem Tone sagte, worauf die Gehilfen eiligst in die Offizin zu- rückkehrtcn, um dem dort Zurückgebliebenen, welchen alle Glockenzeichen kalt und unberührt gelassen hatten, zu melden, daß der Prinzipal mit ihm zu sprechen wünsche. Während der Gerufene dem Befehle nachkam, tauschten die übrigen Gehilfen bedeutungsvolle Blicke, die ihren Kollegen nichts Gutes weissagten, besonders als hinter demselben, kaum daß er das Kabinet betreten hatte, sich sofort der Schlüssel im Schloß herumdrehte. „Trimborn," redete Rabeling seinen Untergebenen an und ließ sich mit der Großartigkeit eines Inqui sitors in seinen Sessel nieder, „Sie haben sich gestern einen freien Tag gemacht. Sie sind keine anderthalb Stunden im Geschäft gewesen. Wer hat Ihnen die Erlaubniß dazu gegeben? „Niemand," antwortete der Gefragte in bescheide nem Tone. „ES würde ein sehr schlechtes Beispiel für Ihre Kollegen geben, wenn ich eine solche Eigenmächtigkeit, eine solche herausfordernde Vernachlässigung Ihrer Pflichten hingehen ließe, Sie sind kein Lehrbube, den