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Bahnhöfen Maßregeln getroffen sind, meine Abreise zu verhindern?" „Das ist leider nur zu sehr zu befürchten," er widerte Rabeling. Mit gesenktem Kopfe und nachdenk lich an die Stirn gelegter Hand ging er ein paar mal im Zimmer auf und ab. - Plötzlich blieb er stehen, zog sein Portemonnaie aus der Tasche, entnahm demselben einen Fahrplan, aus welchem die Abgangs stunden der Eisenbahnzüge verzeichnet waren, und sah dann nach seiner Uhr. „Gerade noch eine Stunde bis zum nächsten Bahnzugc," murmelte Rabeling. „Ich besitze zwei rasche Pferde; die können Dich wieder nach der Station bringen, auf der Du umgekehrt bist; Du wirst früher da sein, als der Zug, und setzest dann mit dem letzteren Deine Fahrt fort. Das wäre die ein zige Möglichkeit für Dich, aus der Stadt zu ent kommen." „Gut," sagte Wolfgang, „ich nehme Deinen Bor schlag an." Rabeling zog die Klingel und befahl dem ein tretenden Mädchen, den Kutscher herauszuschicken. Dieser erschien rmd erhielt die Weisung, sogleich an zuspannen; cS solle der Landauer genommen und das Verdeck geschloffen werden. Er sagte dem Kutscher noch, wohin eS gehen solle, und schärfte ihm ein, die Pferde laufen zu lassen, so rasch sie könnten. Als der Kutscher entlassen war, rieb sich Rabeling vergnügt die Hände; in seinen kleinen Augen glänzte es listig. Er war fast in aufgeräumter Stimmung über feinen glücklichen Plan, an dessen Gelingen er nie mals gezweifelt hatte. Bald verkündete ein dumpfes Rollen rmd ein leises Zittern des Zimmers, daß der Wagen irr den Hausflur vorgefahrcn sei. Schon im Begriffe, den Vetter hinabzubeglciten, überlegte Rabeling einen Augenblick rind entschwand dann plötzlich in das nächste Zimmer, aus welchem er sogleich wieder zurückkchrte und den Hut auf dem Kopfe hatte. „Es wird wohl besser sein," antwortete er auf Wolfgangs Blick, „wenn ich mit Dir fahre." Hierauf eilt» r Beide die Treppe hinab und stiegen dann in den Wagen, der dröhnend aus der Halle fuhr. . In die weichen Polster zurückgelehnt und durch die grünseideneu Feustcrvorhänge den Blicken der Außenwelt entzogen, wurden die Vettern in heftiger Schaukelbewegung davongeführt. Die Räder prallten über die Steine und das Aufschlagen der Pfcrdehufe gab Kunde von dem raschen Tempo, in welchem der Wagen durch die Straßen sauste. Bald lag das Pflaster der Residenz binter den Reisenden und Hufe und Räder flogen sanft über den Boden der Chaussee. Die Insassen öffneten nur selten einmal den Mund zum Sprechen. Es hätte ihnen sicher nicht an reichem Gesprächsstoff gefehlt; wie viel Hütten sic einander erzählen können, was sic durchlebt, seit der Ozcan Beide trennte; — und dennoch saßen sic schweigsam neben einander. Rabeling blickte finster vor sich hin; er schien unmuthig über die Ungclegcnheitcn, die ihm der heutige Tag gebracht und dazu mochte ihm wohl auch die schwere Kränkung, welche er von dem miß trauischen Verwandte» erfahren hatte, im Kopfe so wirr hcrumgehen. Wolfgang seinerseits mußte sich als den Urheber dieser Mißstimmung «»klagen und schwieg wie in inne rer Beschämung. So verlies die Fahrt ziemlich eintönig und wortkarg. Endlich hielt der Wagen still. Rabeling drückte den Kutschenschlag auf und ließ Wolfgang aussteigen, der sich wieder vor dem ihm wohlbekannten Stations gebäude sah. Ein eben ertönendes Glockenzeichen kündigte das Hcrannahen des Zuges an. Die Vettern reichten sich freudig einander die Hände, Rabeling zog die Kutfchcnthür wieder zu; das mächtige, mit weißen Schaum bedeckte Rappenpaar wendete uni und dahin glitt der Wagen nach der Residenz zurück. XI. Wolfgang betrat den Perron in deni Augenblicke, wo der Zug eben herangcdonncrt kam. Er ließ sein Auge über die langsam heranrollende Wagcnreihe schweifen und stand plötzlich wie zu Eis erstarrt. Aus eineni der Conpecfcnster streckte sich auslugend das schwarzbärtige Gesicht mit dem weißen Scidenhute hervor. Es war der Reisegefährte von heute Morgen, dem ein Kondukteur auch bereits die Coupeethür öffnete. Mit einem elastischen Sprunge war er auf deni Perron und stand gleich darauf mit forschendem Blicke vor Wolfgang. „Verzeihen Sie," redete er diesen an, „wenn ich Ihnen vielleicht ein wenig aufdriiiglich erscheine." „Aufdringlich?" wiederholte Wolfgang mit vor Aufregung bebender Stimme. „Fürwahr, eine allzu poetische Bezeichnung für einen Polizeispion, der sein Opfer an der Fangschnur hält." Der Fremde schien über dieses Wort sehr über rascht. „Was gicbt ihnen die Berechtigung, mich für einen Spion zu halten?" fragte er. „Ich denke doch, es ist verdächtig genug, daß Sie sich heute zum dritten Male an meine Ferse hängen," versetzte Wolfgang, der cS für gut fand, seinen Vetter ans dem Spiele zu lassen. „Run," erwiderte der Andere, „Verdacht gegen Verdacht. Warum leugneten Sie Ihre wahren Be ziehungen zu einem Manne, bei dem Sie heute schon zweimal ein- und ansgingen, der Sie sogar in seiner eigenen Equipage hierher brachte?" „Damit gestehen Sie nur, daß Sie meine Schritte belauscht haben und Derjenige sind, für den ich Sie halte. WaS wünschen Sie von mir?" Sie sehen mich im Begriff, den Zug zu besteigen. Wollen Sie mich zurückhaltcn?" „Ja!" Es zuckte durch Wolfgangs markige Glieder, den Spion zu packen und ihn wie einen Federball unter die Räder des sich eben in Bewegung setzenden Zuges zu schleudern. Aber er hatte seine körperliche Uebcrlegenheit noch nie zu einer Gewaltthat mißbraucht. Er überwand sich auch diesmal. „Wollen Sic mir nicht wenigstens sagen," fragte Wolfgang in gefaßterem Tone, „für wen Sie mich halten?" „Für einen schwer getäuschten Mann," entgegnete der Andere. „Getäuscht von wem?" fragte Wolfgang mit tiefem Mißtrauen. „ES ist zwischen uns noch von keinem Anderen die Rede gewesen als vom Besitzer der Einhorn- Apotheke." „Wozu bedienen Sie sich auch jetzt noch dieser trügerischen Lockung, da sie mich bereit sehen, Ihnen in die Residenz zu folgen?" „Ich werde Ihnen beweisen, daß während unserer heutigen Fahrt keine einzige Lüge über meine Lippen gekommen ist." „Wenn Sie dies könnten," versetzte Wolfgang zweifelnd, „so müßten Sie ja auch Todtc erwecken können." „Darauf will ich's getrost «»kommen lassen," lautete die hestinnnte Antwort. Wolfgang blickte den Sprecher überrascht und ungläubig an. Hätte ihn die Ueberzcngnng, daß er in den Händen eines Spions sei, nicht mit so großem Miß trauen gegen den Fremden erfüllt, so wäre er ganz genan wieder auf demselben Punkte gewesen, wie am Vormittag. Wenig neugierig auf die ihm in Aussicht gestellten Beweise, wohl aber in schwerer Bcsorgniß für sein nächstes Schicksal und in noch schwererer für das seines Vetters, trat er mit dem nächsten Zuge zum zweiten Male die Rückkehr nach der Hauptstadt an, und abermals theilte er das Eonpee mit dein räthsel- haften Fremden, dessen Redseligkeit von heute Morgen jetzt einem tiefen Schweigen gewichen war. In der Residenz ««gelangt, schritten Beide stumm nebeneinander her. (Fortsetzung folgt.) Rache ist süß. Heiße, schwüle Luft lag über dem Städtchen aus gebreitet. Auf dem großen Marktplatze zeigte sich kein lebendes Wesen, nur ein Pudel humpelte auf drei Beinen zum Brunnen, der sich auf dem öden Platze langweilte, um seinen Durst zu löschen. Allein vergebens, und so lange auch der Pudel in den Wasser stein schaute, die Thatsache blieb bestehen, er war aus getrocknet. Da urplötzlich kam Leben in die leeren Straßen; denn mit den Freudenrufen: „Hitzferien, Hitzferien!" stürmten die Schüler der höheren Bürger schule zum Teinpel hinaus und über den Markt. Der Pudel hörte in ganz unheimlicher Nahe einen Stein vorbei sausen, weshalb er sein lahnics Bein schleunigst durch regellose Flucht in Sicherheit brachte. Den Schülern folgten die Lehrer mit vergnügten Mienen, nm in der nächsten Gartcnwirthschaft zu verschwinden; und als Letzter erschien unter dem hohen Thorbogen der Rektor mit seinen drei Pensionären, zu denen auch ich gehörte. Mit langen Schritten steuerte der Gestrenge feiner Wohnung zu, während wir Jungen im Laufschritt hinter ihm her trotteten. Als wir nahe zur Wohnung gekommen waren, rief plötzlich ein dünnes Stimmchen: „Lieber Rektor, lieber Rektor!" dein Eilenden nach, bis er anhielt. Ein kurzer Wink — wir waren verschwunden, um vom Fenster unseres Stübchens aus Beobachtungen anzu stellen. Der Rufende war der Kaufmann und Rathsherr Fritz, ein kleines, dürres Männchen. Er wohnte der Schule gegenüber, und sein Laden barg neben den Schulsachen alle Herrlichkeiten der Welt vom seidenen Kleide herab bis zum Rollmops. So sehr auch die gcsammte Einwohnerschaft den alten Herrn achtete uns lieble, wir haßten ihn, well er uns gern kleine Anstandslektionen ertheilte, außerdem zik Jedem, der iu feinen Laden kam, zu sagen pflegte: „Was wünschest Du, mein Jüngelchen? Bei mir ist Alles zu haben." Dieses „Jüngelchen" ärgerte uns am meisten; darum nannten wir ihn nach seinem Schilde „I. C. Fritz" auch Jzefritze. Der Rektor und Herr Fritz begrüßten sich herz lich, dann redete Letzterer unter vielem Gezappel mit Händen und Beinen lebhaft auf de» Rektor ein, dessen Gesicht strenger und strenger wurde, bis ihm die Helle Zornesröthe um Stirn und Schläfen flammte. Mit den Worten: „Werde es gründlich besorgen, mein lieber Herr Fritz", die zu uns heraufklangen, stampfte der Schulgewaltige mit mächtigen Schritten auf das HauS zu. Wir verschwanden vom Fenster, um alsbald am Arbeitstische zu hocken. Dröhnend fiel die HauSthür in's Schloß. Jetzt stieg er die Treppe herauf. Wir saßen mäuschenstill und knabber ten erwartungsvoll an unfern Federhaltern. Plötzlich war er im Zimmer, und sofort tanzte sein Spazierstock auf meinen Drillichhosen den allcrschnellsten Galopp. Im nächsten Augenblick saß ich wieder auf meinem Stuhle. Während meine Kameraden zwei wuchtige Ohr feigen erhielten, schrie der erzürnte Schulmonarch: „Wenn Ihr Bengel Herrn Fritz noch einmal in das Ge sicht hinein „Jzefritze" nennt und seinen armen Pudel mißhandelt, dann ergeht cs Euch jammervoll, Jbr Schlingel." Schnell, wie er gekommen, war der Rcftor gegangen. Georg und Ernst saßen sprachlos mit rothen Backen und ich heulte bitterlich. Wir konnten uns wirklich nicht erinnern, Herrn Fritz Jzefritz in das Gesicht hinein genannt zu haben, und mein Stein hatte heute ja nicht seinen scheußlichen Pudel, sondern nur den Brunnen getroffen, daher beschlossen wir Rache zu üben. Das Abendbrod war verzehrt. Wir durften uns bis zur Dunkelheit im Freien tummeln. Wir steu erten auf Herrn Jzefritzes HauS zu. Im Laden, zu deni eine gewölbte Treppe hinauf führte, beleuch tete schon die Hängelampe das spärlich behaarte Haupt unseres Feindes. Wir krochen unter die Wölbung. Nach kurzer Zeit erschien Georg im Laden. Die Thür blieb offen; wir hörten jedes Wort: „Guten Abend, Herr Fritz." „„Guten Abend, mein Jüngelchen, was wünschest Dn? Bei mir ist Alles zu haben."" „Mein Vater läßt fragen, ob Sie viel leicht ein Mistforken (Mistgabel) - Futteral haben?" Wir horchten gespannt. Erst tiefe Stille, dann er scholl Jzefritzes dünnes Stimmchen: „I, Du nieder trächtiger Bengel, Du willst mich wohl ärgern!" Georg flog die Treppe hinab und um die nächste Straßenecke. Herr Jzefritze schloß die Thür. Bald kam Georg zu unö zurück. Wir warteten ein Weil chen, dann stieg Ernst in den Laden. „Guten Abend Herr Jzefritze" sagte er frech. „„Was sagst Du, Schlingel!"" rief Herr Fritz. „Ach entschuldigen Sic nur, Herr Fritz, ich habe mich versprochen, ich habe eS nicht gern gesagt." „„Doch, doch,"" schrie dieser. „Rein, sicher nicht, und sagen Sie cS nur nicht dem Rektor. Ich habe es ganz gewiß nicht sagen wollen." „„Nun, dann will ich Dir glauben. Doch was wünschest Du, mein Jüngelchen? Bei mir ist Alles zu haben."" „Der Herr Rektor läßt Sie bitten, ihm doch ein Mistforken-Futteral zu schicken," sagte Ernst. Herr Jzefritze prallte sprachlos vor dieser Frechheit zurück; Ernst entkam. „Jetzt muß Du hinein," drängten Georg und Ernst. Ich hatte Herzklopfen. „Wir prügeln Dich," drohten sie. Ich fand den Muth nicht. Da nannten sie mich einen erbärmlichen Feigling, und das wollte ich nicht auf mir sitzen lassen. Festen Schrittes ging ich in den Laden. Kaum hatte mich aber Herr Fritz erblickt, so fuhr er auf mich zu, packte mich am Kragen, schüttelte mich und rief: „„Du bist der Dritte im Bunde, Du Galgenstrick!"" Mit ein paar derben Ohrfeigen ließ er mich fahren. Blaß vor Schrecken und Zorn stand ich kleiner Kerl mit fünf rothen Streifen auf jeder Backe stumm iu einer Ladcnecke. Dann fragte Herr Jzefritze: „„Bist Du auch einer von den Schlingeln?"" Jetzt kam mir der Muth wieder. „Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen, und warum Sie mich schlagen. DaS lasse ich mir schon lange nicht gefallen." „„Ich dachte Du gehörtest. zu den beiden Taugenichtsen. Nun, entschuldige nur, mein lieber Junge."" Mit diesen Worten trat er hinter den Ladentisch, dann fragte er zu mir herüber: „„Was wünschest Du, mein Jüngelchen? Bei mir ist Alles zu haben."" „Ein recht großes Mistforken-Futteral" rief ich. „„Natter"" kreischte Herr Jzefritze. Ich stürzte von dannen. Klirrend flogen die Scheiben der in das Schloß geworfenen Thür hinter mir her. Den Lohn für unsere neue That erhielten wir nicht. Am selben Abend wurde die Kriegserklärung Frankreichs an Deutschland im Städtchen bekannt, und am nächsten Morgen war unser Rektor Soldat. Druck und Verlag von E. Hannebohn in Eibenstock.