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Die wirtschaftliche Bilanz des Bolschewismus Bon unserem russischen Mitarbeiter. Drei Jahr« lang Haden die Bolschewisten ihre Unfähigkeit, die russische Wirtschaft auf sozialistischer Grundlage zu organi sieren, damit begründet, daß der Bürgerkrieg und die Blockade sie daran hindern. Doch als der Büvgerkrieg zu Ende gekommen war und Sowjetrußland mit anderen Ländern in Verbindung treten konnte, erfuhr man immer noch nichts davon, daß sich Sowjekrußland dem Ideal eines sozialistischen Staates nähert. Im Gegenteil, man konnte gleichzeitig mit der Eröffnung des Kampfes gegen die organisierte Arbeiterschaft Westeuropas durch den zweiten Kongreß der kommunistischen Internationale immer wieder von den Führern der Kommunisten hören, daß unter den gegebenen wirtschaftlichen Verhältnissen die Verwirklichung des Sozialismus sehr schwierig sei. Diese Ausführungen, die von Lenin, Radek und Genossen des öfteren gemacht wurden, liehen darauf schließen, daß die russischen Kommunisten die Politik der selben .Sozialverräter" nachzuahmen im Begriffe waren, die sie in einer bis jetzt in der sozialistischen Bewegung unerhört schroffen Weise bekämpft hatten. Und je schroffer und unbeugsamer die Bolschewisten gegenüber den westeuropäischen Sozialisten auf traten, je unduldsamer sie gegen die verschiedenen Richtungen dtzk westeuropäischen sozialistischen Bewegungen wurden, desto nach giebiger waren sie bei sich in Rußland, indem sie immer mehr ein zusehen begannen, daß wirtschaftlich die Fragen nicht mit Gewalt gelöst werden können, sondern daß sie vom geschichtlichen Entwick lungsgang bedingt sind. Immer deutlicher zeigt es sich in letzter Zeit, daß die Bolschewisten zurück zum Kapitalismus abbauen. Dieser Abbau wurde in diesen Tagen von den Führern der bis herigen Wirtschaftspolitik -er Bolschewisten klar ausgesprochen. Auf dem Kongresse der Volkswirtschatksräte, der soeben in Moskau stattfand, haben die beiden Vorsitzenden des oberen Wirtschastsrates, Rykow und Miliatin, Proarammreden gebalten, in denen sie über die nächsten Aufgaben der Wirtschafts politik der Sowjetrepublik sprachen und gleichzeitig selber -viel leicht unl»ewußt, ein vernichtendes Urteil über die bisherige Wirt schaftspolitik fällten. Ueber die bisherige Ernährungspolitik sagte Rykow u. a.: .Mer Jahre lang konnten wir von Jahr zu Jahr die Verminde rung der Saatfläche, bet Ernte und bas fast vollständige Verschwinden einiger für die Industrie, für die Landwirtschaft und für die Aus fuhr wichtige Landwirtschastserzeugnisse, wie Flachs, Hanf u. a. be obachten. Das geschah nämlich darum, weil die Bauern bei dec Politik gewaltsamer Requisitionen von Brot kein Interesse an der Erweite rung ihrer Saatfläche hatten Deshalb war di« Verminderung an der bäuerlichen Wirtschaft eine unerläßliche Folg« jener Ernährungs politik, die wir die ganze Zeit geführt haben. Darum war es not wendig, eine radikale Reform zur Heilung dieses krankhaften Zu standes anzuwenden. Diese Reform bestand tn der Ersetzung der ge waltsamen Requisitionen durch die Naturalsteuer. Diese Steuer be steht darin, daß di« Bauern nur einen Teil, und dabei nur einen gan- geringen Teil, ihrer Erzeugnisie dem Staat übergeben, während sie den anderen, größeren Teil bei sich als Privateigentum in bürger lichem Sinne dieses Wortes lassen und ihn nach eigenem Gutdünken verwenden können.' Dieses Bekenntnis Rykows ist ein offenes Zugeständnis besten -aß die vierjährige Ernährungspolitik -er Bolschewisten eine Politik fortdauernder Fehler war, die das kornreiche Ruß land einer noch nie dagewesenen Hungersnot ausgeiiefert haben. Tausende von Menschen wurden seinerzeit hingerichtet oder sitzen heute noch in -en Gefängnissen, nur deshalb, weil sie «spekuliert', d. h. Lebensmittel oder Industrieerzeugnlsse im freien Handel verkauft haben. Jetzt aber wir- durch das Gesetz über die Natural steuer -er freie Handel von derselben Regierung erlaubt, die ihn vier Jahre lang verfolgt und gänzlich zerstört hat. Nur wer in Rußland war, kann sich ein Bild von den un ermeßlichen Quälen -er Bevölkerung machen, die Lebensmittel und Gegenstände des allgemeinen Gebrauchs in winzig kleinen Mengen vom Staat« «halten hat. .Im sozialistischen Staat,' sagen die Sozialisten, .hat der Staat die Aufgabe, den Bürger in gerechter Weise mit allem was zum Leben nötig ist, zu versorgen.' Doch da Rußland für eine sozialistische Gesellschaftsordnung noch nicht reif war, so mußte notgedrungen die mit Gewalt ein- oesuhrte, auf sozialistischer Grundlage ruhende gleichmäßige Ver sorgung der Bevölkerung in eine für alle gleiche Hungersnot aus- arlen. Die großen Leiden der Bevölkerung waren umsonst, denn die Sowjetregieruna Kehrt jetzt zu denjenigen Wirtschaftsformen zurück, die vor ihr oestanden haben. Und dabei hat Rykow selber zugeben müssen, daß nicht die Blockade und der Bürgerkrieg an der Verminderung der Saatfläche und an der Hungersnot schuld waren, sondern vor allem die Ernährungspolitik der Sowjet regierung. Heber die bevorstehende Politik der Sowjetregierung auf dem Gebiete der Industrie sagte Rykow folgende bemerkenswerten Worte: .Gleichzeitig Mil dem Aufstieg des freien Handels ist es klar, baß wir genötigt sein werden, «ine Reihe von Unternehmungen, die still stehen oder schlecht arbeiten, zur Ausbeutung einzelnen Gesell schaften, Genossenschaften oder Privatpersonen zu übergeben. Wenn irgendeine Fabrik bei einem Privatunter nehmer arbeiten kann, während sie bei ans stillsteht, wäre eS «in Ver brechen, sie einem Privatunternehmer nicht zu geben, sobald wir selber nicht imstande sind sie in Gang zu bringen.' Dieser Umstand, den Rykow als Verbrechen bezeichnete, dauerte vier Jahre lang unter der Herrschaft der Bolschewisten. Sie Auslösung der Eiulvuhnemehr Der Botschafterrat läßt der Reichsregierong «etwas freie Hand'. Paris, S. Juni. Haoas meldet: Die Botschafterkonferenz beschäftigl« tzch in ihrer Sitzung am Mittwoch vormittag mit verschiedenen Frage« über die Anwendung der Friedensverträge, insbesondere der Frage der Ent waffnung und Auflösung der bayrischen Seldstschnh- truppen. Aas der Besprechung geht hervor, daß. saLS sich England immer so standhaft in -er EntwaffnungSfrage zeigt, man geneigt sei, der Reichsregierung in der Frage der Auflösung des Selbstschutzes etwas freie Hand zu lasten. Die ReichsreMerunq hat de, bayri schen Regierung die Daten mitgeteilt, an denen die verschiedenen Hand lungen zur Durchführung der Entwaffnung vor genommen werden sollen. Dieser Plan ist etwas im Rückstände im Vergleich zu dem. der in Berlin durch General Rollet im Namen der Interalliierten Kontroll kommission übergeben worden sei. HSfer rückt nicht weiter vor Lostzd^n. v. Juni. Der Berliner Vertreter -es Renterschen Bureaus erfährt: General Höfer habe dem britischen Befehlshaber in Ober schlesien, General Henalcker, das endgültige Versprechen gegeben, daß er akchk oorrücken werde. Man ist der An sicht, daß das Versprechen die Aufgabe der alliierten Truppen bei der Wiederherstellung -er Ordnung in den Induftriegegenden sehr «leichtern wird. , * London. 9 Juni. Me «Times' meldet aus Kattowitz, es fei zwecklos, zu er warten, daß das Einschieben britischer und französisch« Truppen zwischen die Polen und die Deutschen Kämpfe zwischen diesen beiden verhindern werde. Die Lage sei operettenhaft. Die Anwesenheit -er britischen Truppen habe bisher keine Aende- rung in der französischen Politik -es Geschehenlassens hervor gerufen. Die Städte des Industriegebietes lasse man nach und nach aus französischer Hand in die Hände der polnischen Auf ständischen gleiten. Trotz dem Ehrenwort des französischen Ge nerals de Braute s, daß Gleiwitz, wo sich mehrere lausend Mann alliierter Truppen befinden, von den Aufständischen nicht anzerührt werden solle, kämen die Pol en und feuerten ihre Gewehre regelmäßig unter den Augen der fran zösischen Posten ah. Alle Anzeichen deuteten darauf, daß die Polen beabsichtigen, Gleiwih nächstens zu nehmen. Die Be setzung irgendeiner Stadt durch die Polen bedeute bei ihrer augen blicklichen Disziplinlosigkeit Unruhe, Plünderungen, Raub und Mord. Der Berichterstatter schließt, mit -em allen könne in wenigen Tagen Schluß gemacht werden, wenn die Alliierten ener gisch und gemeinsam handeln würden. Man müsse dann jedoch den Truppen die Erlaubnis zum Feuern geben. Das französische Flottenprogramm (Eigener Drahtbericht.) Paris. 9. Juni. Das französischeFloktenprogramm, das heute in der Kamm er zur Beratung kommt, gibt Ausschluß über die Lehren, die die französischen Sachverständigen aus dem letzten Kriege gezogen haben. Vor dem Kriege hatte man die Flottenausgaben aus 90 Millionen Franken festgesetzt, wovon 10 Millionen für die Luftflotte bestimmt waren. Dies brachte den Fortfall von 5 Schlachtschiffen der Normandleklasse mit sich. Sie wurden schließlich dort- noch bewilligt; doch wurde ihr Bau durch den Ausbruch des Krieges aufgeschoben. Die französischen Sachverständigen sind nun zu d« Ansicht gekommen, daß das Und erst jetzt, da die ganze Wirtschaft -aniederliegt, nichts mehr vorhanden ist, was noch weiter ruiniert werden kann, sind Rykow und seinesgleichen zu der Erkenntnis gekommen, daß ihre Wirt schaftspolitik ein Verbrechen gegenüber Rußland und ein Verbrechen gegenüber dem Sozialismus gewesen war, in dessen Namen die bankerotte Politik geführt wurde. Ein noch vernichtenderes Urteil über die bisherige Wirt schaftspolitik der Bolschewisten hat der zweite Vorsitzende Mi- liutin gefällt, indem er den Satz auszusprechen wagte: .Von -er Oktoberrevolution an konnte unsere Industrie von den Vorräten zehren, die schon früher vorhanden waren.' Mit diesen Worten ckbt MUiuttn zu, daß während der vier jährigen Verlade der bolschewistischen SozialisterungSexperimenle die russische Industrie nur konsumiert, nicht aber produziert hat. Und nachdem nun die reichen Vorräte zu Ende gegangen sind, mußte auch den Experimenten ein Ende gemacht werden. Jetzt wird ein Teil der Industrie dem Kapitalismus Angeführt. .Bis jetzt haben wir,' sagt Rykow, .unsere Konkurrenten ge tötet und erschlagen auf -em Wege von Requisitionen, Konfiskationen, jetzt ober müssen wir nicht auf b«m Weg -er Gewalt, sondern durch eine bessere Arbeitstüchtigkeit siegen.' Diese Worte Rykows klingen wie ein schlechter Witz. Ls ist doch lächerlich, daß dieselbe Wlrtschastsmethode, di« während -« letzten vl« Jahre, ohne Konkurrenten zu haben, vollständig Bankerott gemacht hat, jetzt, nachdem sie gezwungen gewesen ist, um die kläglichen Ueberreste der Industrie zu erhalten, sich selber Konkurrenten zu schaffen, diese Konkurrenten überwinden will. Schlachtschiff immer noch einen wichtigen Faktor im Seekriege bildet. Der Bau anderer Schiffe wäre selbstmörderisch, wenn sie nicht durch Riesonschiffe im Hintergrund unterstützt werden könnten. Da man es sich aber nicht leisten kann, große Schiffe vom Typ der amerikanischen, britischen und javanischen zu bauen, so ist man zu dem Schluß gekommen, die Flottenöauten überhaupt «inzuschränken und die französische Flotte auf eine Defensivmacht umzustellen. Daher will man 8Kreuzervon 7000 oder 8000 Tonnen für die Kolonialgewässer uird 18 Zerstörer bauen. Ferner wird vorgeschlagen, sofort mit , dem Bau von 12 großen Hochu nterseebo oLen zu be ginnen, die in der Lage sind, längere Zeit auf dem Ozean zu kreuzen. Der Wiederaufbau Rußlands Berlin, S. Juni. Ein deutsch-englisches Abkommen über den Wiederaufbau Rußlands ist nach amtlicher Auskunft nicht abgeschlossen worden. ES ist aber ganz natürlich, daß zwischen den privaten Industrie- und Wirtschaftskreisen Englands und Deutschlands Verhandlungen über die Rußland betreffenden Fragen schweben. DaS deutsche Auswärtige Amt hat keine Nachricht darüber, daß Lenin nach London kommen werde. Es liegen auch keine Anzeichen dafür vor, daß sich Sinojew und Radeck augenblicklich in Deutschland aufhalten. Die Anfchlutzkrise in Oesterreich Rechtfertigungsrede -es Bundeskanzlers Dr. Mayr. Wien, 9. Juni. In der gestrigen Sitzung des Christlich-sozialen Parteitages gab Bundes kanzler Dr. Mayr zu, daß die Regierung schwach sei. Das könne nicht anders sein, weil ihr F u n d a m e n t viel zu schwach sei. Die Regierung, sagte er, ist ein Produkt der Christlich-sozialen Partei, die die Macht und die Mehrheit im Nationalrat besitzt, und darauf eben kommt es an. 3n der Aussprache wurde anerkannt, daß in den aus wär- tigen Beziehungen manches erreicht worden ist. Ich gestehe offen ein, daß es mir zur Freude gereicht, es ermöglicht zu haben, mit den aus- wLttige«, «ameMich den entscheidenden Mächten zu guten Beziehungen zu gelangen. Jetzt beginnt aber die Arbeit auch in unfern auswärtigen Verhältnissen ungemütlich zu werden. Es hatte den bestimmten Anschein, und ich gebe mich der Hoffnung hin, daß die ausländische Kredit- aktton zustande kommt. Seit kurzem setzt das Widersachertum überall ein und konterminiert selbst die besten Absichten. Wenn ich in einem Teil -er Presse lesen muß, daß meine Wenigkeit etwa gar von Ententemächten Drohnoken gegen die Abstimmung erbettelt habe, so ist das ein so albernes und verleumderisches Geschwätz, daß ich darüber eigentlich kein Wort verlieren möchte. Ich habe nicht nur nichts erbettelt, sondern von allem Anfang an in unzähligen Noten und Besprechungen den Groß mächten und der Kleinen Entente die Rechtslage Klargemach k, und die Gründe sowie die Stimmung der Bevölkerung dargelegk, die zur Tiroler und Salz bu r g er Ab sti m mu ng geführt haben. Meinen Bemühungen gelang es, für beide Abstimmungen In demnität zu erreichen. Die Drohnoten jedoch sind spontan ge kommen, je mehr die Aufregung wegen der Abstimmung bei der Großen und Kleinen Entente wuchs. Abg. Kunschak erklärte, wenn der Patteilag, ohne der Regierungs und Patteikrise Herr zu werden, auseinandergehe, so werde sich eine schleichende Krise ergeben, die sicherlich den Staat und die Partei in den Abgrund reihen würde. Es sei zweifelhaft, ob im Wege des Anschlusses die Lebensmöglichkeiten Oesterreichs sichergeflellt werden könnten; denn Deutschland sei im Augenblick selbst macht- und wehrlos. Wir haben die Pflicht, erklärte Kunschak, Oesterreich der deutschen Volksgemeinschaft zu erhalten, und müssen die Hilfsquellen restlos ausn ätzen, die uns durch die Kreditaktion erschlossen werden sollen: dann können wir Oesterreich territorial, national und volkswirtschaftlich unversehrt erhalten, damit, wenn es einmal wirklich zur Aufrichtung eines größeren Deutschlands kommt, dieses Oesterreich bereitsteht, als ein mächtiger Faktor dem deut schen Aufstiege zu dienen. Welche Folgerungen sind nun für die weitere Entwicklung Rußlands aus dem neuen Kurs der bolschewistischen Wirtschafts politik zu ziehen? Auf diese Frage wird uns am besten Rykow selbst Antwort geben können: .Das alles bedeutet,' sagte er, .die Wiederherstellung des Eigen tums, lm bürgerlichen Sinne dieses Wortes, und führt unerläßlich zur legalen Entwicklung der Bourgeoisie auf wirtschaftlicher Grund- läge. Jetzt wird die Periode der Konkurrenzen beginnen, und wo das freie Privateigentum sich breit inachen wird, muß man sich klar bewußt fein, daß dies die Fortsetzung des .^lassenkampfes bedeutet, den wir vor der Oktoberrevolution geführt Haden.' Kann noch deutlicher und klarer der Bankerott der vier jährigen Wirtschaftspolitik der Sowjetregierung zugegeben wer den? Vier Jahre lang wurde das große Rußland der Schau platz eines fürchterlichen und grausamen Bürgerkrieges. Städte und Dörfer wurden zerstört, Millionen von Menschen wurden un beschreiblichen Leiden preisgegeben. Alle diese Qualen wurden in dem wahnwitzigen Glauben hervorgerufen, die sozialistiscl-e Ge sellschaftsordnung in einem wirtschaftlich rückständigen Lande ein führen zu können. Und jetzt erfahren wir aus berufenem Munde, daß der .Klassenkämpf", -er vor -er Oktoberrevolution geführt wurde, von neuem fortgesetzt wird. Der Leidensweg des russischen Volkes unter der Gewalt herrschaft -er Bolschewisten ist ein warnendes Beispiel für West europa. Cs lehrt, -aß die Gewalt allein nicht fähig ist, die wirt schaftlichen Problem« im Sinne des Sozialismus zu lösen. di, 3, ö.