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174 Herzen, will icki Erbarmen haben mit dir, und suchen, dich zu retten. Es wird das indessen nicht leicht sein. Den Föhn, mein Lieblingskind, dem ich heute die Freiheit gegeben, in den Bergen nach Willkür sich zu tummeln, hält keine Gewalt auf: auch kann ich selbst dich nicht berühren, sonst würdest du zu Eis erstarren. Aber mir stehen noch andere Hilfs mittel zu Gebote, und wenn du nur Kraft genug hast, aus- zuhavron, wird es Wohl gelingen, dich zu halten, bis die Rettung naht." In diesem Augenblicke lösten sich die Schneemassen und stürzten auf Veronika nieder, die nun erkannte, daß die ganze Vision ein Wahngebildc ihrer Phantasie gewesen. Ter Schnee hüllte wie eine undurchdringliche Wolke das zitternde Mädchen ein und bald war er so hoch angewachscn, daß er als ein schützender Wall sic umgab und ihren Sturz in die Tiefe hinderte. Veronika, die jetzt erst die ganze Gefahr ihrer Lage einsah und jeden Augenblick gewärtig sein mußte, vor Gottes Richterstuhl gerufen zu werden, erkannte in diesen schrecklichen Minuten zum ersten Male klar ihre ganze Tor beit und ihr schweres Unrecht an dem geliebten Manne. Sie begriff jetzt selbst nicht ihre Blindbeit der falschen Nannette gegenüber, vor der sie doch durch ihre Mutter genugsam ge warnt war und der sie trotzdem mehr vertraut hatte als ihrem ehrlichen, guten Toni. Alle seine liebevollen Er- mabnnngen, die sie in den Wind geschlagen, die unendliche Geduld, Güte und Treue seines edlen Herzens, das einer Falschheit gänzlich unfähig war, kamen ihr in die Erinne rung. Sie hatte jetzt nur den einen glühenden Wunsch, wieder gut machen zu dürfen, was sie an dein Geliebten ge- frevelt. Und wieder rief cs in ihrem Busen, wie das mahnende Gewissen: „Tie Angst und Reue, die du jetzt empfindest, ist die gerechte Strafe für deine Sünde, womit du den Himmel beleidigt, der dir das höchste Glück geschenkt! Tu hast dich unwürdig gezeigt der Liebe des besten und edelsten Men- sck)en, und ihn durch dein Mißtrauen schwer gekränkt." So klang und sprach cs in Veronikas Innerem, bis eine süße Müdigkeit über sie kam. Alle Gefahr und Schrecken vergessend, wollte sie einschlafen: da ließ eni donnerndes Getöse in ihrer unmittelbaren Räbe sie er schreckt auffahren. Ein Fels war in die Tiefe gestürzt, und als sie voll Entsetzen cmporblickte, gewahrte sie zu ihrer unsagbaren Freude den Retter in der höchsten Rot und hörte nun auch seine angstvollen Rufe. „Hier, hier, Toni, mein Toni!" rief sie mit lauter Stimme, denn die Aussicht auf Rettung hatte ihr neue Kräfte verliehen. Im nächsten Augenblick aber erlosch der Freudenschimmcr auf ihrem Angesicht, um einer verzwei felten Todesangst Platz zu machen, und bittend die Hände ringend, sagte sie: „Allmächtiger Gott, halte meinen Toni zurück von dem durch den glatten Schnee jetzt doppelt gefahrvollen Weg! Laß mich, wie ich cs verdiene, sterben — aber rette, rette ihn!" Toni batte inzwischen ein Seil um sich geschlungen, das von den ibn begleitenden Burschen gehalten wurde, und war schon ein kleines Stück abwärts gestiegen in der Richtung, von woher ibm Veronika-Z Stimme entgegen- geklungcn lvar. Als Veronika, die in der Angst, den Geliebten stürzen zu sehen, die Augen geschlossen batte, abermals wagte, in die Höhe zu schauen, gewahrte sie zu ihrer innigsten Freude, wie er kraftvoll und unbeirrt seinen Weg verfolgte. Ein heißer Tankesblick lenkte sich zum Himmel, und ebe noch eine ^ weitere Viertelstunde vergangen war, lag Veronika wohl- ! geborgen in Tonis Armen, der den Weg nach oben mit der- ! selben Gewandtheit znrücklegte, wie er ilm herabgestiegen j war. — Oben angekommen, streckten sich ihm hilfreiche Hände entgegen, ivelche ihm die inzwischen bewußtlos gewordene , Veronika abnahmen und ihm selbst vollends hinanfhalfcn. In warme Tecken cingehüllt, wurde Veronika auf einer Bahre nach Hanse getragen, und der arme Toni war ganz austzelöst in Schmerz, trenn er das bleiche Antlitz der immer noch ohnmächtigen Braut betrachtete, das ihm heute früh noch, in rosiger Gesundheit blühend, entgegengelächelt hatte. Ten jammernden Eltern berichtete er kurz, wie er Veronika gefunden, dann eilte er selbst, den Arzt herbeizuholen. Veronika war nicht zum Bewußtsein gekommen: au? der Thnmacht fiel sie in ein heftiges Fieber mit wilden Phantasien, und der inzwischen herbeigekommene Arzt kon statierte mit ernster Miene, daß wahrscheinlich ein Rerven- fiebcr im Anzuge sei: denn die Gemütsanfregnng, ver bunden mit der Erkältung im Schnee, lasse ihn schlimme Folgen befürchten. 28. Während dieser Feit, in der es durch des Himmels Fügung, der ein schwaches Kind sich zum Werkzeug der Rettung Veronika-:' ane-erseben hatte, gelungen lvar, das unglückselige Mädchen vor dem Tode im Abgrund zu be wahren, durchlebte Ranuette die schrecklichsten Stunden ihres Leben:-. Als sie von Gewisstw.-c-angst gefoltert, und dennoch nicht den Mut findend, sich selbst auzuklagen, ins HauS getreten war, kam ibr die langjährige Magd des Hauses mit Weinen und Klagen entgegcnaestürzt. „Ach, Iungwr Ranuette, wie gut, daß Ibr kommt, Euer Vater . . ." Ranuette, die totenbleich vor Scbreck geworden, hielt sich nicht mit Fragen ans, sondern stürzte au der Weinen den vorüber in das Zimmer ihres Vaters. Mit einem lauten Scbrei brach sie au der Seite ihres Bettes zusammen, auf dem der Lammwirt anscheinend leblos lag. Ihre Augen richteten sich in kummer-, verzweisluugsvoller Frage aut den um ihren Vater bemühten Arzt, der achselzuckend er widerte: „Ein Schlaganfall, Raunette, herbeigeführt wahrschein lich durch die Hitze oder einen kalten Trunk: Bestimmtes läßt sieb noch nicht sagen." Ec- de.nerle lange Zeit, bi:- der Bewußtlose endlich wie der die Augen aus'cnlng: den Bemühungen des Arzte:- war es endlich gelungen, ibn in-:- Leben zurückzurufen. Vorder hand war nun uicb!-:- weiter zu tun: er gab seine Verord nungen, empfahl vor allen Singen vollständige Rübe und verließ dann den Patienten mit dem Versprechen, in eini gen Stunden wiederzukommen. Ter .Kranke war einge- ichlafeii, und Rannelte saß am Fenster, eine Beute vollstän diger Verzweiflung. Ta klopfte e-:- mit leisem, schüchternem Finger an die Tür, und als Rannette behutsam öffnete, sah sie zu ihrer größten lleberrasclmng Rudi mit verstörtem Antlitz vor sich stoben. ..Ist':- wa.br, was man sich erzählt, Ranuette, Euer Vater . . .?" ...Komm herein, .Kind, und bleibe, wenn du Feit und Lust hast, ein wenig bei mir: aeb, ich bin ja w unglücklich!" „Tie Augst um Euch irieb mich der. Rannette." er widerte Rudi, leite eiutretend. . und ich bin ja so frob, wenn ich Euch helfen, beistebeu darf." „Seltsames .Kind!" erwiderte Raunette weich, „deine Treue und Anhänglichkeit rübrt wirb: rübrt mich doppelt, wenn ich daran denke, wie wenig ich sie verdiene. Rudi, wenn du wüßtest, tvi-e schlecht ich bin. sicherlich würdest du dich mit Schaudern von mir ahmenden." Ein flammender Blitz, dein gleich darauf ein dröhnen der Tonuerscglag folgte, enthob Rudi einer Antwort. Ter Lammwirt war erwach-, nnd riet mit schwacher Stimme nach seiner Tochter. Rannette bat ilm. ruhig zu sein und sich zu schonen: aber er machte -eine ungeduldige Bewegung und sagte: „Ich muß zu dir reden, w lauge es noch Zeit ist. Ich will nicht in meinen Sünden dabinfahren. ohne einiger maßen gesühnt zu haben, was ich verbrochen."