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Crliintermigeri. Wie die Kantate „Ein' feste Burg", so stammt auch das heutige Kautatemvcrk „Wachet auf! ruft uns die Ltimme" aus Bachs letzter, reifster, glücklichster Schassensperiodc. Auch sie ist eine Choral-Kantate von gewaltigen, Bau, eine Ton schöpfung ersten Ranges. Gab dort das Luthcrlied die textliche und musikalische Unterlage für das Ganze ab, eine künstlerisch-religiöse Ausbeulung und Vertiefung erfahrend, wie sie eben nur Bach zu geben vermochte, so liegt der diesmaligen Tondichtung das Kirchenlied Philipp Nikolai's „Wachet auf!" nach Wort und Weise z» Grunde. Dorl am Anfänge schmetternde, gltinzendc Trompctcnsanfarcn, heroische, das protestantische Schlacht lied umspielende Sicgeshymncn, hier mhstischc Töne, die jedoch in der Folge sich zu majestätischer Pracht und Jubel erheben. Der Dichtung dient das Gleichnis Jesu von den fünf klugen und süns törichten Jungfrauen (Matth. 25, 1—13) als stofflicher Hintergrund; Gedanken aus dem allegorisch gedeuteten Hobenliedc Salomonis und der Offenbarung Johannis (Kap. 21) sind hineinvcrwcbt: Der Heiland der erwartete Bräutigam, die gläubige Seele die harrende Braut. Wie viele der schönsten lyrischen Stücke Bachs, namentlich Duelle, verdanken diesem Gleichnis ihre Entstehung! Die erste Strophe „Wachet auf!" ist eine Choralphantnsic, wobei der Sopran den schlichten Lantus tirmus singt, während den poetischen Gehalt der Melodie die anderen Stimmen durch Tonreihen von austerordenilichcr Plastik ansdeuten. Von besonderer Schönheit ist hier die kolorierte Stelle „Halleluja!", wo dem Alt die Führung zufällt. Die Bor- und Zwischenspiele des Orchesters rahmen die einzelnen Vcrszcilen wunderbar ein. Die Gruppen der Streicher und Bläser werfen sich gegenseitig ein ritterliches, rhyihmisch markiertes Thema zu. Erste Oboe und erste Violine singen ein weiches Duo zwischen hinein, das von heim lichem Glück zu reden scheint; eine Fülle von Pracht und Anmut ist über diesen Satz aus gebreitet. Nach dem kurzen, die Situation erklärenden Rezitativ des Tenor: „Cr kommt! Der Bräut'gam kouinit!" folgt ein Zwiegesang zwischen der Seele und Jesus: „Wann kommst du. mein Heil?" „Ich komme, dein Teil!" in dem bräut liches Sehnen und Hoffen einen rührenden musikalischen, keusch-innigen Ausdruck findet. Die Solo-Violine singt mit hinein und breitet in wogenden Zweinnddrcißigstel-Figuren gcwisscrmasteu einen dusligen Schleier um das Paar. In der sich nun anschließenden zweiten Strophe des Chorals, einem Trio für Solo-Tenor, Violine und Orgel: „Zion liort die Wächter singen" klingt der mystische Ton wohl am vollsten aus. „Es ist wie ein Reigen seliger Geister, was sich hier in den tieferen Lagen sämtlicher Geigen mit selt samem, unerhörtem Ausdruck hin- und herwiegt." (PH. Spitla.) Nachdem Jesus der Seele in einem von verklärendem Schimmer hoher Gcigcnklängc umslossenen Rezitativ die Er füllung ihres Schncns zngcsichert hat, vereinigen sich die Beiden wieder zum Duett und besingen das tiefe, reiche, ewige Glück, das in dem Glauben und der Gewißheit liegt: „Du bist mein und ich bin dein!" Die Solo-Oboe begleitet diesen innigen, wundervollen Gesang, der in mehreren melodischen Wendungen säst „modern" anmutet. Glanzvoll und majestätisch sagen Chor, Orchester und Orgel alles zusammen, als „Jdcalgcmeindc" das „Cloria, mit Menschen- und Cngclznngen" anstimmend. Möchte auch dieses Werk, das heute vor 175 Jahren in der Leipziger ThomaS- kirche zum 1. Male erklang, einen Beweis erbringen von der Künstlergrößc des Lankor Oerirurnisk und uns zugleich das Wort Robert Schumanns in Gedächtnis zurückrufcn: „Wenn Unverständige Bach trocken nennen, so bedenken sic nicht, daß dieser tausendzackige Blitz in einem Augenblicke Blumen und Sterne berührt!" Möchte auch der seiernden Gemeinde von neuem deutlich werden, daß hinter dem Glauben eines Bach Reali täten stehen, Wesenheiten und Wirklichkeiten, mächtiger als alles, was unsere irdischen Augen sehen und was unser Geist sonst kennt! Sonnabendvespcr, den I. Dezember, nachm. 2 Uhr. Leb. Buch: „Null komm' der Heiden Hcilmid", Kantate für Chvr, Soli, Orchester nnd Orgel.