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Beilage m Rr. 80 des „Amts- und Ameigeblattes." Eibenstolk, den 9. Juli 1892. Das Räthsel in Marmor. Original-Novelle von Gustav Höcker. (I. Fortsetzung.) Wolfgang war zwar während seiner Ferien schon vielfach ans Reisen gewesen, er hatte die Schweiz, Italien nnd Griechenland besucht, aber die Residenz nur ein paar Mal gesehen, und das war schon ziem lich lange her. Jetzt wollte er die Gelegenheit benutzen, seine flüchtige Bekanntschaft niit der Hanptstadt zu er neuern nnd zugleich einem dort wohnenden Vetter einen Besuch zu machen. Dieser war der Sohn von Frau Ritters verstor bener Stiefschwester und der einzige Verwandte, von dessen Existenz Wolfgang und seine Mutter Kenntniß hatten. Der Vetter, Franz Rabeling, lebte in sehr beschei denen Verhältnissen nnd fühlte sich im Bewußtsein seiner Unbedeutenheit durch die ihm von dem reichen Verwandten erzeigte Ehre nicht wenig geschmeichelt nnd gehoben. So beschränkt die Räumlichkeiten seines uralten Hauses waren, das nur zwei Fenster Front besaß, so ließ er es sich doch nicht nehmen, seinen vornehmen Besuch bei sich zu beherbergen, dessen Edelmuth ihm ohnehin gute Tage bereitete. Noch unverheirathct und um einige Jahre älter als Wolfgang, hatte Rabeling den erlernten Apo- thekerbernf aufgegebcn und ein Droguengeschäft be gonnen, nm eine selbstständige Existenz führen zu können. Er sann Tag nnd Nacht nach, wie er es nur anfangen sollte, um das Geschäft in die Höhe zu bringen. Wo ein neuer, Gewinn versprechender Handels artikel auftanchte, da griff er zu, und so kam es, daß seine Praxis sich nicht nnr auf die üblichen Droguenwaaren erstreckte, sonder» auch Haarfarbe-, Barterzeugungs- und eine Menge anderer Geheim mittel in ihr Bereich zog, die seinem Geschäfte einen etwas schwindelhaften Anstrich gaben. Für Wolfgang war die MenschenspezicS, die er in seinem Vetter kennen lernte, neu und sogar er heiternd. Das untersetzte Männchen mit der aufgestülpten Nase, der niederen Stirn und den kleinen braunen, schlaublinzelnden Augen, über welchen sich die kurzen, buschigen Brauen wie zwei große schwarze Kleckse ans- nahmen, bereitete Wolfgang Ergötzen, namentlich wenn Rabeling auf das von ihm erfundene Putzpulver zu sprechen kam, von dessen unvergleichlichen Vorzügen die einschlägigen Behörden der Staatseisenbahnen und des Kriegsministeriums zu überzeugen sein höchstes Streben war. Wo immer er sich in der Oeffentlichkcit zeigte, schnappte er nach Gunst und Protektion. Man konnte ihn auf der Straße keine zwei Minuten verfolgen, ohne daß man ihn mehrere Kratzfüße hätte machen sehen. Da Rabelings unmittelbarer Nachbar nichts Ge ringeres als Gcheimrath war, so versäumte er natür lich keine Gelegenheit, dem hochgestellten Beamten und seiner Familie seine Ergebenheit zu Füßen zu legen, wobei er es ziemlich bequem hatte, indem ein großer Theil des vornehmen Nachbargartens, in wel chem sich der Gcheimrath mit seinen Angehörigen zu ergehen pflegte, an Rabelings Hof stieß und von demselben nur durch ein eisernes Geländer getrennt war. Des Vetters tiefe Bücklinge, die Wolfgang von den auf dem Hofe hinausgehcnden Fenstern seines Zinimers ans beobachtete, lenkten seine Aufmerksam keit auf die Person, der diese Huldigung galt, und er fühlte plötzlich etwas wie Herzklopfen, als er in derselben jene Fremde wieder zn erkennen glaubte, nach welcher er in der Heimath vergeblich geforscht hatte und deren Bild keinen Augenblick aus seiner Erinnerung gewichen war. . Rasch entschlossen befand er sich nach wenigen Sekunden an der Seite seines Vetters, welcher sich in höflich gebückter Stellung und halb geschmeichelt, halb schüchtern die Hände an einander reibend, mit der Dame eben freundschaftlich unterhielt. Wolfgang war enttäuscht. Allerdings sah er ein junges, anziehendes Mädchen vor sich, welches mit seiner Unbekannten den dunklen südlichen Teint, das tiefe Blauschwarz der üppigen Lockensülle, den wunderbaren Glanz der großen, schönen dunklen Augen und sogar einen gewissen Familicnzug gemein hatte; aber sie selbst war es nicht und schon- bei dem Näherkommcn hatte Wolfgang unterschieden, daß ihre Gestalt wohl um einen halben Kopf dem hohen schlanken Wüchse jener Fremden nachstand. Wolfgang, der sich nichts von seiner Enttäuschung merken ließ und diesem Zusammentreffen am Garten geländer den Anschein de- Zufälligen zu geben wußte, wurde von seinem Vetter der Geheimrathstochter vor gestellt und hatte ihr in wenigen Minuten über die kunstgerechte Anlage ihres Gartens, die Auserlesenheit der Zierpflanzen und den geschmackvollen Stil des Gartenpavillons in einfach nnd sachlich gehaltenem Tone niehr Angenehmes gesagt, als Vetter Rabeling mit all' seinen ausgesuchten Schmeicheleien und Komplimenten in Jahren. Wolfgang wußte mit einer gewandten Redewend ung sich im rechten Augenblicke von der Unterhaltung los zu machen, nachdem diese gerade so lange gewährt hatte, als es einer Dame von guter Lebensart hinter einem Gartengitter und einem Fremden gegenüber angenehm und schicklich erscheinen kann. Rabeling konnte nicht umhin, die feine Taktik seines Vetters zu bewundern, besonders da er selbst, wenn ihm die Ehre eines Gesprächsaustauschcs mit der Nachbarin zu theil wurde, nie das Ende zu finden vermochte. Eine solche Auszeichnung war für den Droguisten eine Seltenheit, umsomehr erstaunte er, schon an dem nächsten Tage die Unterhaltung zwischen Wolfgang und der vornehmen Geheimrathstochter sich wieder holen zu sehen. Damit aber noch nicht genug, erhielt Wolfgang eine Einladung, den Nachbargarten in näheren Augen schein zu nehmen, und so erlebte Rabeling das Un erhörte, seinen Vetter Wolfgang in Begleitung des Geheimraths und seiner Tochter zwischen den Blumen gebüschen auf den Sandwcgen lustwandeln zu sehen, die Rabelings Fuß, trotz langjähriger Nachbarschaft, noch nie betreten hatte. Unser Student wollte nur eine halbe Woche in der Residenz verweilen, allein, seine Abreise verzögerte sich von Tag zu Tag. Er war ein täglicher Gast im Hause des Geheim raths Kammrodt geworden, der aus seiner feinen Tournürc und aus der hohen Bildungsstufe, die sich in jedem Worte verrieth, sofort erkannte, daß der junge Mann aus guter Familie stammte. Wolfgang fühlte sich von Albertine Kammrodt eigenthllmlich angezogen. Er hatte sie gefragt, ob sie nicht eine Schwester besitze, die ihr ähnlich sei. Alber tine bejahte. Ihre etwas größere Zwillingsschwester Friederike theilte mit ihr die Aehnlichkeit mit der verstorbenen Mutter, einer Mexikanerin, deren Vater als mexi kanischer Gesandter am hiesigen Hofe beglaubigt ge wesen war. Ein von Friederike vorhandenes Bild aus ihrer Kinderzeit bot Wolfgang keinen Anhalt; er hätte cs eher für Albertine gehalten. So genau auch Wolfgangs Beschreibung jener fremden Dame auf AlbertinenS Zwillingsschwester paßte, so entschieden lag eine Anwesenheit von der Letzteren in Leipzig an jenem Tage außer dem Be reiche der Möglichkeit. Friederike war Schülerin eines süddeutschen Kon servatoriums, an welchem das von ihr gewählte In strument durch einen hervorragenden Meister vertreten wurde. An dem Unglückstagc, wo Frau Ritter den Schlaganfall gehabt, hatte Friederike von jener süd deutschen Residenz ans dem Vater brieflich zu seinem Geburtsfeste gratulirt, welches einige Tage später fiel. Es war also unmöglich, sich die junge Konser- vatoristin plötzlich nach Leipzig versetzt zu denken. AlbertinenS Aehnlichkeit mit jener Fremden übte auf Wolfgang einen geheimen Reiz ans, dem er sich mehr und mehr hingab. In der Hoffnungslosigkeit, die unbekannte Be hüterin der Mutter jemals wiederzufindcn, übertrug er seine dankbaren Gefühle auf Albertine, die so viele sympathische Züge mit jener gemein hatte, nicht nur in Zeichnung und Farbe des Antlitzes, sondern zuweilen auch im Tonfalle der Stimme, auf Momente sogar in der Eigenart der Bewegung. Bei Wolfgangs täglichem Verkehr mit Albertine gewann die leibliche Wirklichkeit, die er mit seinen beiden Augen vor sich sah, allmählich den Sieg über die Erinnerung; der Unterschied zwischen Beiden ver schwamm mehr und mehr, und bald war die Fremde vollständig in Albertine aufgegangen, so daß Wolfgang die trennenden Unterschiede in der äußeren Erschein ung Beider sich nicht mehr zu vergegenwärtigen ver mochte und sogar da« Maß verlor, um welches die Gestalt AlbertinenS gegen die ihrer Doppelgängerin abwich. Endlich mußte er sich doch zur Abreise entschließen und nach Leipzig zurückkehrcn. Während hier die Einsamkeit des Hause-, in welchem überall die Mutter fehlte, auf sein Gemüth drückte, flüchtete er in die Erinnerung an die in der Residenz verlebten Tage zurück. Nicht nur der prangende Garten des Geheimraths, nicht nur der alte würdige Herr mit dem schneeweißen Haupte, sondern sogar das Stübchen, welches ihn beherbergt, und der seltsame Vetter mit seiner Putz pulver-Anpreisung leuchteten im verklärenden Schim mer der Erinnerung; aber der hellste und der glänzendste Strahl fiel auf das dunkle Antlitz und die Feuer blicke des schönen Kindes der Mexikanerin, und so kam es, daß Wolfgang zur Feder griff, um Albertine» zu schreiben, wie gern er an die in ihrer Gesellschaft verlebten Stunden zurückdcnke, und wie es ihm Be- dürfniß sei, den angeregten Verkehr mit ihr brieflich fortzusctzen. Er erhielt Antwort und bald entspann sich zwischen ihm und der Geheimrathstochter ein lebhafter Brief wechsel. Obwohl nicht behauptet werden kann, daß Alber- tincnS Briefe durch besonderen Geist geglänzt hätten, so entstand doch in Wolfgang allmählich ein Gedanke, der in diesen schriftlichen Austausch einen wärmer und wärmer werdenden Ton brachte. Frau Ritter war nach monatelangem Aufenthalte im Kurorte zurückgekehrt, aber ohne den gewünschten Erfolg. Nach Ansicht der Aerzte, welche Wolfgang um ihre aufrichtige Meinung anging, war für eine voll ständige Genesung überhaupt nur wenig oder keine Hoffnung vorhanden. Wolfgang mußte sich daher mit dem Gedanken vertraut machen, die Mutter vielleicht für ihre ganze noch übrige Lebenszeit auf dem Rollstuhl gebannt zu sehen. Er konnte nicht immer um die geliebte Kranke sein, mußte sie halbe Tage lang sich selbst oder den fremden Leuten überlassen, die für ihre Dienste bezahlt wurden. Welch' süßen Trost würde es der Mutter in ihrem Leiden gewähren, wenn ein weibliches Wesen als guter Genius an ihrem Lager waltete, eine liebende Tochter sie pflegte, sie durch ihre beständige Gegen wart vor quälender Einsamkeit bewahrte und ihr die Sorgen um den Haushalt abnähme. Das Schicksal hatte der Mutter eine Tochter versagt, aber es lag in Wolfgangs Hand, die jetzt so fühlbare Lücke auszugleichen, er konnte durch ein Herzens- und Ehebündniß der Mutter eine Tochter, und dem Hause einen sanft waltenden Genius zuführen. Albertine Kammrodt schien mit allen Eigenschaften ausgerüstet, diese Stellung einzunehmen; den Bezieh ungen, die sich zwischen ihm und ihr bereits geknüpft hatten, ließ sich leicht eine intimere Wendung geben, die auf ein Verlöbniß hinaussteuerte, und da Wolf gang sich im letzten Semester seines Studiums befand und bei seiner glänzenden Vermögenslage auf keine Anstellung zu warten brauchte, so stand seinem Plane kein Hinderniß entgegen. In den Gesprächen mit der Mutter war der Name Albertine Kammrodt seinen Lippen schon öfter entschlüpft; es kam der Kranken daher nicht ganz unerwartet, als er ihr seine Absicht mittheilte, wenn freilich auch verschwieg, daß die Zärtlichkeit des Sohnes dabei eine größere Rolle spielte, als das eigene HerzenSbedürfniß. - Frau Ritter gab ihrem Sohne über sein Vorhaben ihre unverhohlene Freude kund ; sie war überzeugt, daß er eine glückliche Wahl getroffen habe, und segnete seinen Entschluß. Dem Briefe, in welchem er Albertine seine Hand antrug, folgte eine zusagende Antwort und auch die Einwilligung des Geheimraths, der über Wolfgangs Familien- und Vermögensverhältnisse von zuverlässiger Seite vas Günstigste erfahren hatte, ließ nicht auf sich warten. So reiste Wolfgang abermals nach der Residenz und erschien eines Abends in Rabelings Droguenladen, sein altes Stübchen wiederbegehrend und den staunen den Vetter mit der Nachricht überraschend, daß er gekommen sei, seine Verlobung mit Albertine Kamm rodt zu feiern. Bei der vorgerückten Abendstunde zog er vor, sich Albertine und ihrem Vater erst morgen zu zeigen; dazu fand er ein geheimes Vergnügen daran, seiner Braut, die ihn heute noch nicht erwartete, so nahe zu weilen, dem festlichen Verlobungstage in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft cntgegenzuschlummern, ohne daß sie eine Ahnung davon besaß. Da stand er wieder in dem kleinen, rasch für ihn hergerichtetcn Zimmer, vom Vetter Rabeling endlich allein gelassen, ver ihn mit Glückwünschen ganz über schüttet hatte und sich von der Aussicht auf das künftige verwandtschaftliche Verhältniß zu dem Ge heimrath keine geringe Chance für sein Putzpulver versprach. Der Garten nebenan sandte milde Wohlgerüche zu Wolfgangs Fenster hinein, denn er prangte eben im herrlichsten Frühling-schmucke und war von weißen und blaßrothen Blüthenflocken überschneit, deren Heller Schimmer allmählich in der Dunkelheit verschwamm. Plötzlich drangen wunderbare Töne in Wolfgang» Ohr. (Fortsetzung folgt.)