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Sie stand noch lange so starr und bleich, Etty wagte cS nicht, sie anzureden — dann nahm sie Sidneys Ring, ihre Kette mit dem goldenen Herzen vom Halse und legte beides verächtlich bei Seite. — „Treue, Dankbarkeit? Alles hohle Phrase." Und zu derselben Stunde nahm Sidney Abschied von ihrem Bild, ihren Andenken, die in zierlicher Stickerei seine Taschen füllten. Er sargte Alles in einen großen Kasten ein und schrieb darauf: „Hier liegt Sidneys Herz begraben; — »»eröffnet ver brennen !" Tornhill, dem seine verweinten Augen ausgefallen waren, suchte ihn auf. „Wie, Sie packen, mein Junge? Was in aller Welt haben Sie vor?" „Verehrter Freund," entgegnete Sidney fast schüchtern, „haben Sie wohl das Zutrauen, niir die Kosten für eine Ueberfahrt nach Indien zu leihen? Ich gehe mit deni nächsten Dampfer fort und ich werde niemals wiederkehrcn — nie." XXI. Bon allen Menschen, die Doktor Martigny haßten, gab eS Einen, der es ihnen zuvor that — und das war Jim! Hatte er nicht blindlings dem Arzte ge horcht? Gab es etwas, worüber Jener sich zu beklagen hatte? Selbst die niedrigsten Verbrecher da draußen in Australien hätten das nicht gethan! — Zuerst hoffte er noch, Doktor Martigny würde ihn befreien, durch Bestechung des Schließers oder sonst ein Mittel, und er würde ihm in irgend einer Verkleidung nach Amerika helfen. Im Grunde war doch nicht er, sondern O'Neill der Verbrecher, er selbst nur das willenlose Werkzeug desselben. Hätte jener befohlen, aus dem brennenden Hause etwas zu retten, statt es anzuzünden, er würde diesen Befehl ausge führt haben, wie jenen, und man hätte seine That gepriesen, ihn belohnt. Nach und nach, als die Hoff nung auf Rettung schwand, setzte sich ein Haß, eine Wuth in seiner Seele fest, die unmenschliche Rachcge- danken brütete. Feige Menschen, die zu einer That unschlüssig sind, entwerfen immer die grausamsten Ge danken — Rache. Dann aber, als Lieutenant Brown, der sich seiner sehr annahm, ihm versicherte, daß Begnadigung ausgeschlossen sei und er wiederum de- portirt werden würde, — faßte der Plan, sich selbst zur Flucht zu verhelfen, festen Fuß — da draußen in Martignys Haus hatte er nuter einem Dachspar ren das Gold versteckt, welches O'Neill ihm reichlich gegeben/dorthin zu gehen, fürchtete er sich nicht, — Niemand wittert den Fuchs in seinem Bau. — Ge lang es ihm, dort eine Verkleidung aufzutreiben, so war seine Rettung relativ leicht! Zuerst untersuchte er seine Zelle, die unter deni Dach lag — vielleicht aus Mitleid hatte Brown ihm in diesen Tagen diejenige geben lassen, durch welche der Schornstein ging — es war wenigstens warm da oben. Spät am Abend, wo er sicbcr war, daß nicht geheizt wurde, und nach der Kontrole versuchte er, einen Mauerstein zu lösen — dann mehrere, und er zwängte den Kopf durch. Dicht über ihm schiene» die Sterne — er war fast am Ende des Schornsteins, aber es schien un möglich, diese engen Kaminröhren hinaufzukommen — das war bei dem Bau auch wohl veranschlagt worden, sonst wäre die Anlage durch eine Zelle kaum denkbar gewesen. Doch Jim war sehr schmal gebaut und sehr geschmeidig, — er entkleidete sich völlig, band die Kleider in ein schmales Paket, und dies an seinen Fuß fest. Sein Taschenmesser, welches Jim bei der Unter suchung nach seiner Festnahme mit durchgeschmuggelt hatte, nahm er quer in den Mund, dann kroch er, sich an den unebenen Wänden hochziehend, im Kamin dem Ausgang zu. Einen Moment glaubte er ersticken zu müssen, er konnte nicht weiter, mit den Schultern saß er fest. Doch die Verzweiflung gab ihm verstärkte Kräfte — ein Ruck, der die Haut von den Schultern nahm, und er war gerettet. Es war eine dunkle, kalte Nacht, er fühlte die heißeste Tropenhitze, der Schweiß rann ihm von dem mageren Leib. Hinter dem Kamin zog er hastig Stück für Stück seines schwar zen Martigny'schen Anzugs an, — dann suchte er vom Dach Herabzugclangen. Bei dem farbenreichen Aufputz des Rathhauses war das wohl immerhin noch schwer, doch nicht unmöglich — das Gesims, welches rings über den ersten Stock hinläuft, brachte ihn bis zu dem Flurfenster — er fand eS offen, der Dunst der an« Tage dort augcsammelten Menschen findet hier sein Ventil. Darauf hatte er gerechnet. Ein weiterer günstiger Umstand war eS, daß die Ronde schon vorüber war. In diesen weiten Gängen sind Nachts nur spärliche Lampen; laut und frech ein Lied pfeifend, um unverdächtig zu erscheinen, ging er die Treppe hinab durch den Flur, zog die Schnur und war draußen. Zu seinem Unglück stand dort ein Polizist, der ihn hcrauskommcn sah — eS war Crail. Der trat dicht an ihn Hera», erkannte ihn ohne Zweifel, doch sagte er, weil der Ruß des Kamins JimS Gesicht schwarz gefärbt hatte: „Machen Sie, daß Sie weiter kommen, Schornsteinfeger!" „Gott segne Dich," murmelte Jim und befolgte den Rath, langsam ging er- weiter, froh des Bewußt seins, daß der Ruß ihm als MaSke diente. Wohin aber jetzt? Vor Tagesanbruch konnte er die Anstalt nicht aufsuchen; nun, da er entschlossen war, seine Rolle als Kaminfeger durchzuführen, han delte es sich zunächst darum, das Handwerkszeug des selben sich zu verschaffe» und ein Nachtquartier zu gewinnen. Hinter dem Parke, am Ausläufer des Moores, lag eine Herberge niedrigster Sorte, der Wirth war Hehler und Helfershelfer des stehlenden Gesindels, doch zu schlau, nm sich je überführen zu lassen. Jim hatte als Polizist dort öfter Einkehr gehalten, mehr um einen Whisky zu trinken, als ihm Ungelegcnheitcn zu machen. Dorthin lenkte er seinen Schritt, — diese Gelegenheit war wie bestellt. Der Wirth, ein breitköpfiger, schlauer Ire, er kannte Jim auf den ersten Blick, ohne sich zu vcr- rathen. „Ein Nachtquartier? Können Sic auch bezahlen?" fragte er scheinbar ablehnend. Jim flüsterte etwas, der Wirth übertrug seiner Frau das Schenkamt und steckte eine Laterne an. „Kommen Sie." Er öffnete eine Hintcrthür; die Beiden gingen hinaus. (Fortsetzung folgt.) Auch eine Pfingstreise. Skizze von Eugen Gavain. (Schluß). Merkwürdig, wie solche einsame Begegnungen die Zunge lösen und selbst angeborene Sprachfehler mindern. Tobias erzählte seine Erlebnisse und fand eine theilnehmende Zuhörerin, auch als er allmählich seine persönlichen Verhältnisse auseinandersetzte. Fräulein Elise ihrerseits konnte auch plaudern und bald wußte Tobias, daß sie eine Waise und Er zieherin auf deni Gute des Freiherr» vo» H. sei. Man wanderte lange mit einander und schied mit freundlichem, sonderbar langem Händedruck, nicht ohne, daß Tobias sich genau über die Lage deS GnteS orientirt hatte. Fräulein Elise war im Begriff, eine Freundin auf einein Nachbargute zu besuchen und wollte am Pfingstmontag Abend wieder zu Hause sein. Sie hatte Tobias noch einige schöne Punkte im Ge birge namhaft gemacht und beschrieben und Tobias wußte nun, daß er nach Vollendung dieser Art Rnndtour am nächsten Abend ungefähr in der Nähe des von H.'schen Gutes sein werde. Auch von dem Leben auf dein Gute hatte Fräulein Elise manch' hübsche Skizze entworfen, u. A. von dem Streite uni die hübsche Magd Kathinka, der ein „Auswärt'scher" den Hof mache, der dafür in Gefahr sei, gelegent lich von den Knechten gehörig verbläut zu werden. Bis zum Spätabend kletterte nun Tobias wieder allein in den Bergen umher und znin Schluß, ehe er in das schon sichtbare Dorf Bornhagen hinab ging, wollte er den auf dem Axisberge errichteten Anssichtsthurm besteigen. Der Weg war beschwerlich. Vielfach stehen bleibend und Athen« holend, war er endlich auf der Höhe angekommen und richtete eben seinen Blick nach dem Thurme, als plötzlich in raschem Laufe ein Mann an ihm vorbcischob, in den Büschen verschwindend. Erschrocken starrte Tobias dem anscheinend Flüchtenden nach und hob dann ein Stück rotheS Tuch, einen Fetzen, den der Mann ver loren, vom Boden auf. Im nächsten Augenblick knackte es wieder im Gebüsch und ein Gendarm zeigte sich dem nicht wenig erschrockenen Tobias. Schon gab er Fersengeld, — warum, wußte er selbst nicht, aber ein dunkler Instinkt rieth cS ihm, — da hatte ihn aber auch schon der Mann des Gesetzes am Kragen. „Na, da haben wir ja das sozialdemokra tische Bürschchen und frisch bei der That erwischt, das ist ja nett", rief der Beamte. Schreckliche Ahnungen stiegen in Tobias Seele auf und er nahm allen Muth und seine Sprachwcrkzenge znsamnien, um dem Gendarmen klar zu machen, daß er den Unrech ten gefaßt habe, daß der Rechte eben in den Büschen verschwunden sei, daß er selbst ja noch gar nicht auf dem Thurm gewesen und daß er von auswärts, ein Vergnügungsreisender sei. Der Gendarm besah Tobias von oben bis unten und meinte nnr: „Net ter Vergnügungsreisender, kennen wir schon. Na Männeken, so lange ich Sic im Auge habe, werden Sie nicht durchbrenncn, aber ich muß erst Ihr Werk da oben herunter holen, so lange muß ich Sie fesseln." Und also geschah es. Der Gendarm war kein Unmensch; nachdem er von der Spitze deS AuS- sichtSthurnieS eine rothe Fahne herabgcholt hatte, nahm er Tobias die Fesseln ab, dafür aber mußte dieser die Fahne und den rothen Fetzen tragen. Hoffnungslos schritt Tobias neben dem Beamten her; sein Pfingstgcschick erfüllte sich. Der Herr Amtmann kann unmöglich am schönen Pfingstsonntag zu Hause sitzen, um auf das Ein bringen eines sozialdemokratischen Demonstranten zu warten. So kam cS, daß Tobias wiederum die schöne Pfingstnacht in einsamer Zelle zubrachte, dies mal aber infolge seiner Müdigkeit, wennschon auf hartem Lager, den Schlaf des Gerechten schlief. Der Amtmann ain nächsten Tage machte ein ernstes Ge sicht, das aber zusehends heiterer u. lustiger wurde, als Tobias seine Fahrten erzählte. Zum Glück war Born hagen Post- und Telegraphenstation. Für alle Fälle und der Ordnung wegen, mußte bezüglich der Angaben unseres Tobias in seiner Hcimath telegraphisch an gefragt werden und da man immerhin von der breiten Heerstraße etwas entfernt war, ging der Vormittag dahin, ehe Tobias unter den Wünschen des Amtmannes für „ferner" glückliche Reise und viel „Vergnügen" entlassen werden konnte. In Tobias Seele war dumpfer Groll. Am liebsten wäre er zur nächsten Bahnstation geeilt und nach Hause gefahren; da schwebte aber vor seinem Auge Fräulein Elise, die ihn so liebreich in seinem Pech getröstet hatte. Wenn er die ganze Tour machte, die sie ihm beschrieben, war eS kaum mög lich, noch am Pfingstmontag das Gut des Freiherr» von H. zu erreichen. Also schien eS am besten, die Tour etwas abznkllrzen. Und das that denn Tobias nach besten Kräften. Jndeß hatte er sich doch bei sei nem Ans und Ab und Kreuz und Quer stark verrechnet und die Sonne war längst untergegangen, als ei endlich den Weg betrat, der ihn am kürzesten nach dem Gute bringen sollte; von da aus hoffte er Geleit nach dem nächsten Dorfe zu finden. Wieder ziemlich wohlgemuth war er durch die Waldidylle ge schritten und in der einsamen Stille bis an eine Waldhüttc gelangt, von der eS nicht mehr weit bis zum Gute sein sollte. Schon war er ganz nahe an die Hütte herangekonnnen, als an dieser eine weib liche Gestalt, die er bei der Dunkelheit nicht erkennen konnte, vorbeihuschte. Nur noch einige Schritte machte Freund Tobias, da fühlte er sich gepackt und nieder geworfen nnd schon fielen die Schläge hageldicht ans ihn hernieder. Die Sinne vergingen ihm, aber noch einmal blitzte ein Gedanke durch sein Gehirn und „ach Kathinka" jammerte er; die Folge war, daß es noch mehr Hiebe gab. „So jetzt genug", sagte Jemand, „er wird jetzt wissen, daß wir hier keine Außerhalb'schen brauchen." Als Tobias nach dieser Lektion wieder zum Be wußtsein kam, fand er sich im Innern der Wald bütte wieder. Vergeblich war sein Rütteln an der Thür, sein Reißen an den primitiven Wänden, er war eingespcrrt, zum dritten Mal ans seiner Pfingst- tour Gefangener. In dieser Nacht that er kein Auge zu; er wartete auf Schritte von irgend Jemand- der ihn aus der Gefangenschaft befreie. Der Morgen des Pfingstdicnstags zog leuchtend, sonnig und klar herauf. Dem Gefangenen war cs, als ob sich im Gebüsch etwas rege. Sofort fing er an zu rufen und au der Thür zu rütteln. Jetzt kamen Schritte näher, ein Riegel ward von der Thür fortgeschobcn und im Rahmen derselben erschien — Fräulein Elise, die auf ihrem Morgen-Spaziergang begriffen war. Zuerst stahlen sich Thränen in ihre schönen Augen, als sie Tobias Zustand bemerkte; der aber erholte sich rasch nnd als er nun gar er zählte, wie er jetzt zum dritten Mal eingesperrt worden sei, da brachen sic Beide in Lachen aus. Nun, diese kleine Geschichte ist zu Ende; denn auch die Leiden unseres Tobias hatten ihr Ende er reicht. Der Gutsherr kam Tobias so freundlich ent gegen, daß dieser gern das Anerbieten, ein paar Tage noch zu verweilen, anuahm. Jene Waldhütte, in der er so viel Leid erduldet, ist die Stätte seines Glückes geworden; denn dort hielt Tobias, bevor er schied, seine Braut Elise umfangen und von dort hat er sie später als Frau hinweggeführt. Roch heute halten Herr und Frau Tobias Löffelmann jene Waldhütte hoch in Ehren. 'Niemals wieder aber ist Tobias allein auf die Wanderschaft ge gangen. Literarisches. „Die Steuerfreiheit der Reichsnnmiltelbaren", „Die Ent hüllung des Radetzky-Denkmals in Wien", „Die sechshundert jährige Jubelfeier der Stadt Celle", „Moltke in seinen Briesen" aus Anlaß der Wiederkehr seines Todestages und andere zeit gemäße Stosse behandelt in Wort nnd Bild die ,,Harlenkaul>e" in ihrem 6. Hefte. Ernst Scherenberg feiert in schwung vollen Versen das erste dentsch-akademische Sängerscst, das vom 4. bis 7. Juni in Salzburg stattfindet, nnd Paul Lindenberg führt uns in meisterhaften Schilderungen, denen höchst charak teristische Abbildungen beigegeben sind, mitten hinein in die Schlupfwinkel der Berliner Verbrecherwelt. Die Schloßfreiheit, nut der ein interessantes Stück Alt-Berlin in Bälde dahinsinkcn soll, wird uns im Bilde veranschaulicht, und den rheinischen Passionsspielen zu Stieldors widmet das beliebte Familien blatt ebenfalls eine illustrirte Besprechung. Von allgemeinem Interesse werden auch di« übrigen Artikel sein, von denen wir nur die über Entziehungsdiät und über EmS und das herr liche Lahnthal hervorheben »vollen. WaS aber vor Allem die Leserinnen anziehen wird, da ist der novellistische Theil des Heftes. Außer dem Schluß M. von DorsnerS „Onkel Christian» sieben Lieben", welcher der Erzählung eine ganz eigenartige, überraschende Wendung giebt, bringt er uns eine überaus feinsinnige Novelle von Rudolph Lindau, betitelt „Der Kommissionsrath", und daneben nimmt der Hochlandsroman „Der Lllosterjäger" ans der Feder Ganghofer» mit der den Geschichten dieses Autor eigenen ergreifenden Darstellung-weise seinen spannenden Fort- bzgaz den Bilderschmnck des Hefte« anbelangt, so reiht e» sich seinen Vorgängern würdig an und bietet ganz besonder« in seiner Beilage, „Der Geschmack" von R. Rößler, ein Blatt, das in echt künstlerischer Weise ausgesührt ist. Druck und Verlag von S. Hannebvhn in Eibenstock.