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Unter den Waisenmädchen war auch eins, das hieß Etty. Etth gehörte den Jahren nach noch zu den Kleinen — bis zum zehnten Jahre erhielten diese die ersehnte WcihnachtSpuppc — das elfte Jahr gehörte bereits dem Ernst des Lebens und der Nützlichkeit an. Nun war Etth trotz ihrer neun Jahre aber ein wahres Ricsenkind; manche Sechzehn jährige, die in den Dienst ziehen mußte, war weniger groß und stark als dies Enakskind. Die Vorsteher innen hatten denn auch beschlossen, sie der größeren Abtheilung beizugesellcn, da ihre entwickelte Gestalt unter den Kleinen Spottlust Hervorrufen konnte, wo durch der Ernst der heiligen Handlung litt. So kam es, daß Etth an ihrem neunten Heilig abend keine heißersehntc Puppe erhielt, sie war trost los, und nur die Strenge der Disziplin hinderte sie au lautem Weinen. Als aber Gesang und Predigt vorüber waren, schlich sie hinaus, und draußen ans dem öden Korridor legte sie ihren hübschen Kopf gegen die Wand und heiße Thränen strömten aus ihren treuherzigen Augen. „Wie, hier weint ein kleines Mädchen?" fragte da eine Helle Madchenstünme; Etth fuhr hoch und glaubte einen Augenblick, das Christkind selbst wäre zu ihr gekommen. Da stand ein blutjunges Mäd chen in weißem Kleid, ein goldener Mantel von Haaren floß um ihre Schultern und sie richtete mit ihrer laienhaften Hand das betrübte Köpfchen des Waisen kindes hoch. „Was fehlt Dir, mein liebes Kind? — Weshalb weinst Du?" Etth hatte diesem gütigen Ton und Blick gegen über Zutrauen. „Man hat mir keine Puppe geschenkt, und ich bin erst neun Jahre alt." — Welche Tragik der Anmuth darin lag! DaS goldeuhaarigc Mädchen sagte Aehn- liches zu dem alten Herrn, der sie begleitete, daun tröstete sie die große Kleine. „ Verlaß' Dich darauf, Du bekommst Morgen von mir eine wunderschöne Puppe — sage inir nur, wie Du heißt, damit ich sie Dir schicken kann." „Ich heiße Etty." „Und wie weiter?" Weiter? — Das Kind sah sic verwirrt an, es verstand noch nicht, daß jedem Vornamen auch ein Vaternamen folgen muß. Das schöne Mädchen fühlte das und brach rasch ab, indem sie das Haar des Kindes streichelte, welches straff hochgekänunt, sich gegen alle Disziplin auf der Stirne und im Nacken in kleinen Locken kräuselte. „Also morgen erhält die schwarze Etty eine wnn- derschöne Puppe." — Die Kleine sah sic mit ver zückten Auge» an. „Und sie muß so lange goldene Haare haben wie Sie, Fräulein, und sie soll auch so heißen wie Sie heißen, Fräulein — heißen Sic Marie?" „Nein, Kind, ich heiße Adah. Weshalb glaubst Du denn, daß ich Marie hieße?" „Weil Sie so schön und gut anssehe», wie die heilige Jungfrau," sagte Etth naiv, „aber Adah ist auch ein wunderschöner Name." Herausströmendc Gäste und Waisenkinder brachen das Gespräch ab. — Am folgenden Morgen aber er hielt Etty die angekündigte Puppe, und sic war stumm vor Entzücken, als sic das blondlockige Wachsfigürchcn der Hülle entnahm, und ihre Puppe Adah blieb ihr heiliges Besitzthum, noch bis in die Zeit hinein, wo die Tändelei der Kindheit längst der herben Arbeit gewichen war. Die goldhaarige Taufpathin Adah sah sie nie wieder, doch gedachte sie ihrer in Dankbarkeit, im Wache» und im Traum. Jene war ihre Schutz patronin, ihre Heilige — dieses heimathlosc Waisen kind, welches für Niemand zu beten hatte, vergaß niemals den Namen Adah in ihr tägliches Gebet cin- zuschließen. Darüber waren Jahre vergangen und Etty eine wahre Riesin geworden. Aber so robust und unzart ihr Aeußeres, so weich und echt weiblich war ihr Gemüth. Dabei war sie ein hübsches Mädchen mit ihren schwarzen Augen und dem welligen Haikr, nur das ungewöhnliche Maaß ihrer Erscheinung isolirte sie von dem landläufigen Begriff: Schönheit. ES war das Prinzip der Anstalt, keines der Waisenmädchen vor dem vollendeten sechzehnten Jahre zu entlassen. Vom vierzehnten Jahre bis zu dieser Zeit lernten sie die Pflichten einer Dicnstmagd im Hause, — auch mit Etty hatte man keine Ausnahme gemacht. — O'Ncill, der als oberster Patron des Waisenhauses hin und wieder einen Rundgang durch das Ganze machte, fragte denn auch, als er Etty in ihrer überragende» Größe gewahrte, ob dieses Mädchen nicht alt genug sei, eine Stellung anzu nehmen. Die Antwort, daß sie noch nicht 16 Jahre zähle, überraschte ihn, er behielt sie im Gedächtniß, unbewußt fast, als ob alles Außergewöhnliche dazu da sei, ihm zu dienen und sich seinen Befehlen zu stellen. Etty nun war ihm eingefallen, als er einer ro busten Wärterin für seine Frau bedurfte, und hier her, nach dem Hause der grauen Waisen, lenkte er am Spätnachmittag seine Schritte. Wohl wollte er seine Frau zu Doktor Martigny bringen, aber selbst dort sollte eine zuverlässige weibliche Person, seine Kreatur, zu ihrer Bedienung und ihrem Schutz bleiben. Ob Dargan O'Ncill dic Gerüchte von Mord und Verbrechen, die mau Martigny nachsagte, glaubte, war fraglich, aber er kannte dessen Don JUan-Na- tur und Schwärmerei für schöne Frauen. In dieser Beziehung traute er ihm Sünden bis zum Verbrechen zu — und die Einsamkeit der Anstalt war gefähr lich. Besser, ihr eine zuverlässige, riesenstarkc Wär terin zu geben, die nicht nur seine Frau, sondern allenfalls auch den Arzt überwältigen konnte. ES schlug sechs Uhr, als O'Ncill läutete, der Portier zog dic Schnur und salutirte, als er die Uni form gewahrte. — O'Ncill fragte nach der Vorsteh erin. Die Dame war sogleich mit Freuden bereit, ihn zu empfangen, und seine Frage, ob Etty als Dienerin bei seiner armen Fran eintretcn könne, fand eifrige Bejahung. Die sensationelle Nachricht, daß Frau Adah O'Ncill, die schöne Goldfce, am Abend vorher fast ein Opfer der Flammen geworden wäre, der Mord ihres populären Vaters, das Verbrechen ihres Vetters, war wie ein Lansfeuer von allen Zeitungen verbreitet, auch bereits in dies stille Haus der Barmherzigkeit gedrungen. Und mehr als Alles hatte der Schluß dieses Dramas die Herzen bewegt: Der Irrsinn, dem das arme Opfer aller dieser Verbrechen anheimgefallen. „Ich möchte das Mädchen gleich mitnehmcn," sagte O'Ncill, „wollen Sie das Nöthige veranlassen." Die Oberin klingelte und befahl, daß man Etty Freitag herbeirufe. — „Es ist der Name, den sie von der Anstalt erhalten hat, sie wurde an einem Freitag ausgenommen — es war ein so zartes, rei zendes Kind, mau hätte niemals vermuthet, welche Riesin aus ihr würde. Aber Sie haben eine gute Wahl in jeder Beziehung getroffen, Sir, es ist ein lenksames, gehorsames Gemüth in dem Mädchen." „Wer die Eltern waren, weiß man also nicht?" fragte O'Neill, um keine persönliche Fragen auf kommen zu lassen." „Nein, sie wurde auf der Straße gefunden, es scheint, die Elten sind gestorben — sie weinte nach Papa und Mama — ich glaubte auch zuerst, daß sie den Namen ihrer Eltern wisse, denn sie wurde angst voll, wenn man sie dringend fragte, — aber es ist doch wohl nicht anzunehmen, daß ein so junges Kind, kaum füuf Jahre alt, konsequentes und bewußtes Schweigen bewahrte — jedenfalls ist sie eines unserer besten Kinder." Es klopfte, eine llnterlehrerin führte Etty ein. Diese armen Kinder haben keinen eigenen Willen; sagt inan ihnen, daß sie gehen müssen, so gehen sie in stummem Gehorsam, ohne daß sic Rechenschafe er warten oder erhalten. „Etty," sprach die Oberin, „dieser Herr hat eine kranke Frau, welcher Gott hoffentlich Genesung ver leihen wird. Wir setzen das Vertrauen in Dich, ge wissenhaft ihre Dienerin zu werden, und alles zu ihrem Besten zu thuu, Du wirst sogleich mit Herr» O'Neill fahren, packe schnell Deine Sachen und sage Deinen Saalschwestern Adieu." Etty neigte stumm den dunklen Kopf und ging. Ein Schmerz zog durch ihre Seele, für den sie sich keine Rechenschaft geben konnte. Daß sie ein paar Wochen vor der Zeit, und so plötzlich aus diesem Hause scheiden mußte, konnte cS nicht sein. Die meisten anderen Mädchen gingen ja gern in die Welt hinaus, von der sie so selten einen Schimmer gesehen — aber Etty fühlte, es war doch die Heimath, die sie verlasse» mußte, und so manches Kind, welches ihr weiches Herz liebgewonnen. Ihre Altersgenossinnen hingen sich mit Küssen und Thränen an sie, als sie ihnen nun Lebewohl sagte, daun halfen sie ihr schnell die kleine Kiste packen, welche die ärmlichen Kleider der Waisen auf nahm, Gebetbücher und eine Bibel war das ein zige, was sie außerdem besaß, und dann noch einen Gegenstand, sorgfältig in Watte eingepackt und in einer Pappschachtel verwahrt: eine hübsche blonde WachSpuppe. In fünf Minuten war es geschehen, Etty band ihr Tuch um die Schultern und setzte den kleine» Hut auf ihr schwarzes Haar, — zwei andere Waisen trugen die kleine Kiste, die einem Kindersarg ähnelte, zum Portier hinab, der eine Droschke anrief und Herrn O'Neill sagen ließ, der Wagen warte. Da wieder Schnee vom Himmel rieselte, befahl Herr O'Ncill dem Mädchen, welches znm Kutscher hinaufsteige« wollte, sich in den Wagen hineinzu setzen, dann folgte er. Zwar gehörte er selbst zu den großen stattlichen Männern, dennoch überragte Etty ihn um Kopfcshöhe; sie stieß sitzend fast an den Fond der Droschke. O'Neill lächelte, als er ihren deshalb gesenkten Kopf bemerkte. „Sie sind noch nicht sechzehn Jahre — wenn Sie noch ein wenig so mit Wachsen beibtciben, können Sic sich als Riesin für Geld sehen lassen," scherzte er, ihm lag daran, sic zutraulich zu machen, um sie ganz zu beherrschen, und junge Mädchen gewinnt man sicherer mit Güte als mit Strenge. — Aber sie grübelte diesen Worte» nach, ohne sie zu verstehen, — was wußte dies weltfremde Waisenkind von Schau stellungen lebender Menschen und ihre Bezahlung dafür. Da« Rassel» de« Wagens machte ein weiteres Gespräch unthunlich — Etty saß stumm auf dem Rücksitz, dic Hände gefaltet — cS stürmte draußen, das Wasser der Liffey floß dunkel und lautlos dahin — als sie über die mächtige Brücke fuhren, polterte es, als würfe mau Schollen aus einen Sarg. Noch ein paar Minuten, dann hielt der Wagen vor der Townhall, hier stiegen sie aus. Der Chef führte das scheue junge Mädchen durch dic lauge Reihe von Polizisten, die stramm vor ihrem Obcrhcrrn Honneurs machten — er wollte ihr imponiren, um sie gefügig zu machen, — dann ließ er sie hinter sich in sein Privat-Bureau cintreten. Sie zitterte von Kopf bis zu Fuß, ihr wurde klar, daß er ein mächtiger Mann war. Er gab ihr Zeit, dies »achzufühlen und zählte etwas Geld auf den Schreibtisch. „Sehen Sie hier, Etty, dies ist eine Vorauszah lung, damit Sic sich etwas Garderobe anschaffen können — Sic scheinen nur sehr wenig zu besitzen, dazu können Sic den morgigen Vormittag benutzen, jetzt will ich Sie zu meiner Frau führen — «nein Haus liegt dicht nebenan. „Vorher aber empfangen Sie meine Instruktion, für dic Zeit, dic Sie meine arme Frau noch in meinen, Hause bedienen werden — später begleiten Sie dieselbe in eine Heilanstalt — doch davon später mehr. Vorerst: meine Frau ist von der irrthümlichen Meinung in ihrem Wahnsinn befangen, daß ich ihr feindlich gesonnen bin. Sic klagt mich der schreck lichsten Verbrechen an. Das wird sic auch bei Ihnen thnn, Sie dürfen nicht danach hören — am besten ist, Sic stellen sich, als glaubten Sie alles, das wird sie am ehesten beruhigen — Sie haben mir genau, Alles, Wort für Wort wiederznsagen was sie spricht — haben Sie verstanden?" „Gewiß, Herr." (Fortsetzung folgt.) Lcbeiisvcrlängerung. Es hat die Erfahrung gelehrt, daß zu Gunsten eines laugen Lebens auch immer ein gewisser Grad von geistiger Kultur zu der physischen hinzutretcu muß — denn die vergleichende Statistik der Völker mortalität weist nach, daß der unkultivirte, wilde Mensch niemals so lauge lebt, wie der gesunde Kultur mensch. Diese geistige Kultur muß aber auch natur gemäß sein. Mit zunehmender Gehirnansbildung verfeinert sich auch die ganze Organisation deS Men schen und er tritt durch die mannigfaltigere Empfäng lichkeit und Gegenwirkung seiner Gchirnfuuktion in ganz neue Beziehungen zu der Schöpfung. Je mehr aber ein lebender Körper äußere Einflüsse aufnehmen, dieselben verarbeiten und dagegen wirken kann, um so reicher und vollkommener und damit dauernder ist seine Existenz. Und gerade durch die Seele tritt der Mensch in Verbindung mit einer allen Pflanzen und Thiercn verborgenen geistigen Welt. Von ihr erhält er ganz neue Eindrücke, Nahrung und Erweckung durch die feineren sinnlichen und moralischen Em pfindungen und deren Wirkungen auf den Gesammt- zustaud der Seele. Und durch die höchste Seelen kraft, die Vernunft, hat der Mensch einen Regulator seines Lebens erhalten, mittelst dessen er daS Zweck mäßige suchen und das Schädliche meiden, den thicrischen Juftinkt leiten, rohe Leidenschaft und deren konsumirende Einflüsse auf den Körper mäßigen kann. Blödsinnige und geiststumpfe Personen behalten stets den thierischen Ausdruck des Leibes und Instinkts und werden nicht alt. Eine gesunde Seele giebt sich durch Heiterkeit, Zufriedenheit, Thatkraft, Muth, Hoffnung und durch eine harmonische sinnliche Ver mittelung mit der Außenwelt kund; sie belebt den Blick, giebt der ganzen Gestalt des Menschen einen frischen, kräftigen Ausdruck uud dem Leben selbst eine Planmäßigkeit. Wie in der physischen Welt diejenigen Thiere am längsten leben, welche in zwei Welten existiren können, z. B. dic Amphibien, die im Wasser und auf dem Lande leben, so hat auch der Mensch zwei Welten, eine physische und eine geistige, deren jede ihn erweckt, ernährt, stärkt und erhält. Für seine feinere, durchgeistigte Sinnlichkeit sind ihm die Erquickungen und Lebcnsanrcgungen der Künste, wie Musik und Malerei — für seinen Geist sind ihm die Poesie, die Wissenschaft, die GlaubenSerhebung der Religion dargeboten — alle sind eine unerschöpf liche Ouellc von LebenSnahrung und Kraft; sie bringen Harmonie, Frieden, Freude und Zuversicht und damit Dauer in das Leben. Frohsinn und hoffnungsreiche Scclenstimmung sind aber die wichtigsten Erhaltungs mittel des Daseins und sie wirken auf das physische Leben direkt hin, indem sie die Lebenskraft in har monischer Regsamkeit, Herz-, Verdauung«- und Haut funktion in gehöriger Thätigkcit, und Seele und Leib in Uebercinstimmuug erhalten. Deshalb sagt ein Kenner deS Lebens: „Glücklich sind auch in ihrer physischen Natur die Menschen, denen der Himmel daS Talent einer zufriedenen und heiteren Seele verliehen hat, oder die sich durch Geisteskultur und moralische Bildung dieselbe verschafft haben. Sic tragen den schönsten und reinsten Lebensbalsam in sich." Druck und Verlag von S. tzannebotzn in Eibenstock.