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Bachs Kantaten. Seit der Leipziger Thomaskantor Müller (um das Jahr 1804) die Kantaten Joh. Seb. Bachs wieder aus dem Archive hervorsuchie, Rochlitz dieses Ereignis begeistert verkündete und Marx die erste kleine Folge in den Druck gab, ist der Ruhm dieser Werke hundertmal beredt angcstimmt worden. Ost ist es gesagt: Wer die Kantaten Bachs nicht kennt, dem entgeht einer der schönsten und eigensten Abschnitte deutscher Kunst! Das Gesamtbild Bachs entbehrt ohne seine Kantaten einige wesent liche Züge! Sic sind die Raritätenkammer, in welcher seine gestaltende Hand ilnc seinstcn Griffe übte. Von den Passionen und Messen aus ahnt man doch noch nicht die Wunderdinge formeller Bildung, an denen nur wenige dieser Kan taten ganz leer aus gehen. Namentlich ist jedermann überrascht über die koloristi schen Mittel, welche Bach in diesen Werken entfaltet, über die feinen und fesselnden Farbenmischungen, welche er für viele seiner Kantaten-Arien erdacht und aus- gesührt hat. Wer voll Bewunderung über die Fruchtbarkeit, welche unsere neueste Musik^ Periode auf diesem Spezialgebiete entwickelt, zum erstenmal die ganz eigenartigen uno charakteristischen Orchcstcrbilder vor sich sieht, welche Bach manchen seiner Arien bcigegeben hat, wird geneigt sein, in den Ausruf jenes Enthusiasten mit cinzustimmcn: „Es gibt nichts Neues, was nicht Bach schon gebracht hat!" lind sehr Vieles, darf man hinzu- fllgen, was Bach in den Kantaten bringt, hat noch keiner wieder gebracht In geistiger Beziehung entrollen die Kantaten einen eigentümlichen Zug der Bachschen Natur zu großer, zu halbschnueilicher Deutlichkeit. Dies ist die Sehnsucht nach Sterben, Tod und Leben bei dem Herrn. Dieses Thema schlägt er in seinen Kamaten häufiger an, als irgend rin anderes. Als Kraflnatur kennen wir ihn in allen Situationen, groß und grandios ist auch seine Freude und Heiterkeit. Aber niemals, glauben wir, arbeitet seine Empfindung und seine Kunst mit vollerer Energie und Hingabe, als wenn seine Texte der Erdenmüdigkcit, der Sehnsucht nach dem letzten Stündlcin Ausdruck geben. Die Inbrunst, welche sich dann in immer anderen Registern, in zarten und stürmischen Regungen äußert, hat etwas Dämonisches! Jeder größeren Stadt wäre ein Chor zu wünschen, welcher die praktische Bekanntmachung dieser Kantaten zu seiner einzigen, beson deren Ausgabe machte. Denn die Summe der Kunst, welche in diesen Werken niedergelegt wurde, ist quantitativ und qualitativ zu groß, als daß ihr die Chöre nebenbei gerecht werden könnten! Prof. vr. Hermann Kretz schm ar*) in „Führer durch den Konzertsaal". II. Abtlg., 1. Teil. Leipzig, A. G. Liebeskind. Sonnaöendvesper den 30. November, nachmittags 2 Uhr: Seb. Bach: „Wun komm' der Keiden Keikand", Kantate für Chor, Soli, Orchester und Orgel (2. Komposition, U-woII). ') Ehemaliger Alumnus und Präfekt des Kreuzchores.