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Beilage m Ar. 35 des „Amts- und Ameigeblattes". Eibcnstolk, den 21. März 1891. Ein verhängnißvoller Schnitt. Criminal-Erziihlung aus dem Postleben von Th. Schmidt. (8. Fortsetzung.) „Und a»S welchem Munde, mein Fräulein? Ich erlaube mir zu bemerken, daß es meinen Freund tief schmerzte, den gesellschafilichen Verkehr gerade mit Ihrer Familie abbrechen zn mässen. Wer und was die Veranlassung hierzu gab, das brauche ich wohl nicht zu wiederholen. Trotzdem ihn keine Schuld traf, hat er doch bis heute der Stunden des Verkehrs in Ihrer Familie stets mit Vergnügen gedacht. Hat denn Ihr Herr Vater nicht mit Ihnen über die seltsamen Gerüchte gesprochen?" Die junge Dame wurde verlegen; zögernd ant wortete sie: „Allerdings haben wir in letzter Zeit über dieselben gesprochen." „Waren Sie der Ansicht Ihres Herrn Vaters?" fuhr Linde fort. „Dessen Mißtrauen gegen einen jungen lebenslustigen Mann kann man ja entschuld igen. Ihr Vater ist alt nnd in Folge dessen ist er allzu vorsichtig und schwarzsehend geworden. Dagegen müssen Sie, da Sie Bäumer im näheren Umgang kennen gelernt und er Ihnen, wie ich bestimmt an nehmen darf, Geheimnisse anvertraut hat, sich ein freieres und günstigeres Urtheil über seinen Charakter haben bilden können. Ist es nicht so?" „Und wenn ich nun," antwortete die Gefragte in verächtlichem Tone, „Ihren Wunsch erfülle und zugebe, daß ich wußte, woher Bäumer Zuschüsse zu seinem Gehalt erhalten hat, demnach wohl keine Schulden haben konnte, und wenn ich weiter erkläre, daß ich an all' die Gerüchte über ihn nicht glaube . . . was kann Ihnen schließlich an meinem Urtheil liegen? ... Ich habe aber wahrhaftig auch keine Ursache, Ihren Freund gegen Angriffe in Schutz zu nehmen. Sein Benehmen gegen mich gab ihm kein Recht dazu, Rück sichten von mir zu fordern . . . Verschonen Sie mich jetzt mit weiteren Fragen," fügte sic mit gutge- .spielter Entrüstung hinzu. Linde sprang wüthend auf und dicht vor ihr hintrctend, herrschte er sie an: „Sic haben durch Verschweigen der wahren Thatsachcn Ihrem Vater gegenüber den besten der Männer ins Gefängniß gebracht. Ihr Haß, Ihr unbezähmbarer Haß ließ cs geschehen, daß man falsche Aussagen gegen ^hn vor brachte, die ihn erdrücken mußten?" Die junge Dame mochte cs sich vorher nicht überlegt haben, daß ihre Handlungsweise solche Folgen nach sich ziehen könnte; sie erbleichte. „Sein Betragen, sagen Sie, gäbe ihm kein Recht, von Ihnen Rücksicht zu fordern?" fuhr Linde fort. „Hierauf bemerke ich Ihnen, daß jeder Mensch das Recht, das in der Sitte und der Moral liegende Recht stillschweigend für sich beanspruchen kann, auch selbst von seinem Feinde in diesem außergewöhnlichen Falle rücksichtsvolle Offenheit zu verlangen. Denken Sie an das Wort des Dichter-Fürsten, das er einer edlen Frau in den Mund legte: Nicht zum Hassen, Zum Lieben sind wir da! Nm keinen Preis möchte ich später an Ihrer Stelle vor meinem Freunde stehen. Ich gehe jetzt . . . mögen Sie sich mit Ihrem Gewissen abfinden!" IX. Als Linde seine Aufregung niedergekämpft hatte, nahm er die Untersuchungs-Acten an sich nnd begab sich in die Wohnung des Kaufmanns Adens. Er traf den Chef des HauscS nicht im Geschäftslocal an. Im Comptoir flüsterte er daher dem Buchhalter einige Worte in's Ohr, worauf er dann dem voran schreitenden alten Mann in das Arbeitszimmer des Prinzipals folgte. Hier nahm Linde das Wort und bat leise um Aushändigung einiger Telegramm- Ausgabcformulare; nachdem der Buchhalter sie ihm gereicht und er sie kopfschüttelnd besichtigt hatte, wandte er sich mit der Frage an Jenen, ob man im Geschäft vielleicht noch andere Formulare außer diesen ihm gezeigten gebrauche. „Andere Formulare benutzcu wir nicht," erwiderte befremdet der Angeredete. „Diesen Bestand haben wir vor etwa vierzehn Tagen auf der Post gekauft." „So! darf ich mir vielleicht ihren gauzen Bestand ansehen, Herr Buchhalter?" fragte Linde weiter. „Bitte . . . hier liegt er! Ich begreife übrigens nicht, weshalb der Chef diesen Schrank nicht ver schlossen hat . . . er muß es offenbar vergessen haben, es ist sonst nicht seine Gewohnheit, sich, ohne Alles verschlossen zu haben, zu entfernen." „Demnach scheinen Ihre Formulare doch nicht so ängstlich gehütet zu werden, wie es in den Unter- suchungs-Actcn angeführt ist," entgegnete Linde. „Es wäre ein seltsamer Zufall, wenn gerade nur heute das Verschließen des Schrankes vergessen sein sollte." „Doch, doch, Herr Linde," vertheidigte sich der Buchhalter. „ES ist . . . reiner Zufall! Ich möchte fast behaupten, daß mein Prinzipal noch nie, während er abwesend war, den Schrank offen gelassen hat." I „Run, es kann ja sein," gab Linde kurz zur Antwort. Dann nahm er die oberen Formulare, etwa achtzig Stück, ab und nun entdeckte er zu seiner großen Freude, daß unter den abgenommcncn noch zwanzig Stück Formulare mit der älteren Bezeich nung lagen. Schnell drehte er diese um, damit der ihm zur Seite Stehende nicht etwa den Unterschied der Bezeichnung der alten und neuen Formulare bemerken konnte. Dann sich an den Buchhalter wendend, bemerkte er init eigenthümlich erregter Stimme: „Sie werden mir gestatten, daß ich diese For mulare, die schon vom Liegen gelb geworden sind, an mich nehme. Für dieselben übersende ich nachher andere." „Mit dem größten Vergnügen!" „Run erlaube ich mir noch eine Frage, Herr Buchhalter. Kommt eS wohl hin und wieder vor, daß Ihnen oder Ihrem Prinzipal ein solches Tele gramm-Formular bei 'Riederschrift der Depesche un brauchbar wird, so daß sie gezwungen sind, es zu vernichten, und wo lassen Sie dann das zerrissene Telegramm?" Jetzt sah ihn der Buchhalter groß an . . . seine Stirn runzelte sich . . . also dahinaus ging's! Der Mann da vor ihm spielte sich ja wie ein wirklicher Untersuchungs-Richter auf. Dem Falkcnauge Linde'S entging die Veränderung in den Gesichtözügeu des alte» Mannes nicht. In vertraulichem To» fügte er daher hinzu: „Sie können sich denken, weshalb ich diese Fragen an Sie richte. Die Beantwortung derselben fasse ick als reine Ge fälligkeit Ihrerseits auf. Eine persönliche Anspielung liegt mir gänzlich fern." „Nun, es liegt ja auch meiner Ansicht nach gar kein Grund vor, weshalb ich Ihnen diese Ge fälligkeit nicht erweisen sollte," antwortete der schnell besänftigte alte Mann. „Meines Wissens habe ich ebenso wenig, wie auch mein Prinzipal in der letzten Zeit, in den letzten vierzehn Tagen ein Formular vernichten müssen ... es wird überdies augenblicklich sehr wenig dcpeschirt, wir sind mit unserem Geschäfts zweig noch in der sogenannten tobten Saison. Wenn ich genöthigt bin, ein Formular zu zerreißen, so werfe ich die Fetzen in der Regel in den Papierkorb." „So, so! Nun, ich danke für Ihre freundliche Auskunft." Linde verabschiedete sich rasch. Er eilte mit den Acten zum Richter. Dieser, ei» kleiner Herr mit kurzgeschorencm Haar und Bart und klugen Augen, hörte aufmerksam an, was der Beamte ihm mitzuthcilen hatte, von Zeit zu Zeit Beifall nickend oder den Kopf hin und her wiegend. „Ihre Vermuthungcn, Herr Linde," sagte er, nachdem Jener geendet, „sind scheinbar richtig . . . ich sage: scheinbar, denn Sie werden einsehen, daß der Verhaftete nach einem bestimmten Plan verfuhr. Zu diesem gehört auch die beabsichtigte Benutzung des Formulars älterer Bezeichnung. Er wird dieses schon seit Langem zu seinem verbrecher ischen Zwecke aufbewahrt haben, um später bei der Untersuchung des Falles beweisen zu können, daß ein solches Formular im Postdienstzimmcr zur Zeit der That überhaupt nicht vorhanden war. Ich ge stehe aber auch zu, und darin haben Sie Recht, daß Jemands im Adens'schen Geschäfte diesen Abriß in gleicher Absicht schon eine Zeit lang verwahrt haben und von der Verschiedenheit der Bezeichnungen der Formulare keine Ahnung haben konnte. Stach meiner Ansicht zeugt der Streifen, wenn ich beide Möglichkeiten mit einander abwäge, gegen Ihren Freund. Das werden Sie einschen müssen. Aller dings sind die gleichmäßig vergilbten Ränder an dem Abriß sowohl als auch diejenigen an den aus dem Adens'schcn Geschäfte stammenden Formularen überraschend .. indeß können beide Theile ein gleiches Alter haben. Run, eS ist immerhin schon ein schwacher Anhalt. Sie haben übrigens eine bcmerkcnSwcrthe CombinationSgabe ... ich mache Ihnen mein Com- pliment!" Linde machte ein Gesicht, das im Zweifel ließ, ob es freundlich oder ärgerlich sein sollte. „Wichtiger," begann der Richter aufs Neue, „ist für mich Ihre Erklärung, daß der Verhaftete nicht nöthig hatte, aus Geldverlegenheit die That zu begehen, da er, wie Sie behaupten, in geordneten pccuniärcn Verhältnissen lebte, ja sogar noch an seine Mutter und an die Schwester Ueberschüsse von seinem Gehalt abgab. Ihrem Wunsch, auf diese vorgelegten Jndicien hin Ihren Freund aus der Haft zu entlasse», ka»n ich leider nicht entsprechen, umsomehr jetzt noch nicht, weil ich mich noch nicht in der Sache genügend habe informtren können . . . Sie können also bestimmt behaupten, daß Sie ein solches Formular wie das von dein Kaufmann Adens mitgebrachtc nicht mehr in dem angcnblicklich von Ihnen vertretenen Postamte vorräthig haben?" „Jawohl, das kann ich!" „Gut!... Es soll mich freuen," sagte der Richter, „wenn Ihr Freund, dessen Onkel ein alter Bekannter anö früheren Jahren von mir ist, bald wieder auf freien Fuß gesetzt werden könnte. Ich habe schon sämmtliche Polizeiorganc in Bewegung gesetzt; Jeder, der hier nur in einiger Beziehung zur Post und auch zu dem Absender des fraglichen Briefes steht, wird scharf beobachtet." Linde verabschiedete sich. Seine Erwartungen waren nicht erfüllt. DeS Richters Ansicht über den Formular-Abriß überzeugte ihn, nnd das ver stimmte ihn noch mehr. War der Freund wirklich der Thäter? Fast möchte er sagen: ja! Sollte er wirklich in einem schwachen Augenblick, gedrängt durch momentane Geldverlegenheit, sich vergessen haben? Er konnte es sich nicht denken. Der Freund hatte Bekannte, die jeden Augenblick ihm beisprangcn, wenn er Geld brauchte. Er ließ sich die Einzelheiten der Untersuchungen noch Minal durch den Kopf gehen und kam zu der Ueberzcugung, daß er vielleicht an Stelle des Inspektors mit Bäumer ebenso verfahren haben würde. Alles, Alles zeugte gegen den Freund, nur nicht der Um stand, daß derselbe, wenn er die Absicht verfolgte, einen Brief zu berauben, doch nicht solche, jedem Postbeamten in D. bekannte Packpapier-Fetzen würbe benutzt haben. Auch der Richter hatte das zugegeben, aber auch sogleich dabei bemerkt, daß Derjenige, der den Brief bcrauhte — Bäumer — in diesem Um stand einen Entlastungsgrund habe suchen können, denn ganz treffend habe sei» Freund beim Verhör betont, daß diese Sache wiederum dafür spräche, einem Postbeamten das Verbrechen in die Schuhe zu schieben. Am Tage nach der Unterredung Linde'S mit dem Richter sehen wir diesen an seinem Arbeitstisch in den Acten vertieft sitzen. Es ist zehn Uhr Morgens. Ein Polzeibeamtcr tritt ein und meldet kurz, daß in der Postvicbstahlsangelegenheit noch nichts entdeckt sei. Der Richter sieht auf und überreicht dann mit einigen erklärenden Worten dem Beamten einen be schriebenen Bogen Papier. Der Beamte grüßt dienst lich und verläßt das Gerichtszimmer. Nach einer Viertelstunde erscheint der Ausgesandtc wieder und ineldet, daß der Befehl ausgeführt sei. Der Richter antwortete nur: „Soll eintreten!" Die Thür wird geöffnet, und herein tritt mit gespannter Miene Frank. Wir kennen ihn bereits aus der Untersuchung des Postinspcctors und Linde'S. Da er nicht gleich voin Richter angeredet wird, läßt er seine Blicke über die Gegenstände im Gerichts zimmer gleiten. Auf dem in flacher Bogcnform über dem Eingang des Gcschworenenzimmers angebrachten Spruch: zustiti» et perent inunäus" läßt er seine Blicke lange ruhen. Vielleicht ist dieser Spruch dem jungen Comptoiristen ein Orakel. . . Gerechtigkeit!... Braucht er vor dieser zu erzittern? Jetzt wird er durch die Stimme des Richters in seinen Betrachtungen gestört. Eine Handbewegung desselben bedeutet ihn, näher zu treten. Bedächtig schreitet er gegen die Schranken. Sollte er Furcht haben? . . . Aus seinem verschmitzten Gesicht wird man nicht klug, Nach den üblichen Fragen über Alter, Beruf rc. forderte der Richter Frank auf, zu erzählen, was er mit dem von seinem Chef erhaltenen Briefe am Abend des 7. September gethan habe. Während der junge Frank erzählte, sieht ihn der Richter mit seinen kleinen stechenden Augen durch bohrend an. Der Erzähler hat einen Augenblick des Richters Blick ausgehalten, dann aber die Augen auf andere Gegenstände gerichtet . .. wer kann auch solch einen durchdringenden Blick aushaltcn! „Hm!" macht der Richter, als der junge Mann geendet. „Ihre Aussagen sind für Sie sehr ver dächtigend, junger Mann. Sehen Sie das ein?" Ein Pause entsteht, der Angeredete wechselt einen Moment die Farbe, dann antwortete er mit etwas unsicherer Stimme: „Ich . . . begreife nicht . . ." „So?" entgegnete der Richter. „Nun, dann hören Sie einmal an, was ich Ihnen jetzt erzählen werde! Sie führen an: Den Brief habe ich um 7 Uhr an dem fraglichen Abend erhalten... das ist richtig, die Zeugen aus Ihrem Geschäfte haben dies auch ausgesagt. Wenn Sie nun auch weiter meinen, daß Sie sich gleich nach 7 Uhr mit dem Briefe nach der Privatwohnung Ihres Principal- begeben und bi- zu derselben 2b Minuten Zeit ge braucht haben, so meine ich, daß da- eine Unwahr heit ist; daß Sie ferner von der Privat-Wohnung des PrincipalS bi- zur Postanstalt 25 Minuten Zeit gebraucht, da- ist wiederum eine Unwahrheit." (Fortsetzung folgt.)