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Beilage zu Rr. 32 -es „Amts- und Anzeigeblattes". Eibenstock, den 14. März 1891. Ein verhängnißvoller Schnitt. Criniinal-Erziihlung aus dem Postleben von Th. Schmidt. (7. Fortsetzung.) „ES ist mir", bemerkte er, „soeben ein Gedanke gekommen, ans dem ich vielleicht weiter bauen kann." Dann gestattete inan ihm, an Frank einige Fragen zu richten. Diese wurden von dem jungen Mann kurz und klar beantwortet. Der Mensch zuckte mit keiner Wimper, als Linde ihm mit bis in die Seele dringen den Blicken in die Augen sah. Die Aussage des Prinzipals, der jnnge Comptoirist sei treu wie Gold, schien somit glaubhaft zu sein. Linde bedankte sich bei den Herren und ging. Sein Dienst begann heute um l l Uhr Mittags, er schritt daher dem Posthausc zu. Hier angclangt, fragte er den im Dienst anwesenden College» nach Briefen ans B. und S., dem Bestimmungsort des beraubten Briefes. Aus letzterem Orte war ein solcher für ihn eingegangen; er erbrach ihn hastig und schüttelte daun mißmuthig den Kopf. Auch in S. hatte ein ihm befreundeter College die umfassend sten Nachforschungen angestellt, war aber hierbei zu der festen Uebcrzengung gelangt, daß mit dem Briefe in S. keine Veränderungen vorgenommen sein könnten. Während Linde sich anschickte, an seine Arbeiten zu gehen, trat Weise auf ihn zu und meldete ihm leise etwas. „Was!" rief der Angercdete. „DaS fehlt jetzt ge rade noch! Steht es denn schlimm mit dem Herrn Vorsteher?" „Das Fräulein meint cs, Herr Obersekretär." „Hm, hm! fatal.. Der Herr Vorsteher", wandte sich Linde zu den beiden jüngeren Beamten, „läßt niir soeben sagen, daß ich einstweilen seine Dicnstgeschäfte übernehmen möchte, er sei erkrankt; meinen Sie, daß die laufenden Arbeiten ohne fremde Hülfe ordnungs mäßig abgcwickelt werden können?" „O ja, ich will ganz gern einen Thcil Ihrer Ar beiten mit übernehmen", antwortete der allzeit ge fällige Assistent Zeits. „Und Sie, Herr Preis?" Der Angercdete, der an Stelle Bäumcr's Tags vorher in D. eingetroffen war, gab ebenfalls eine bejahende Antwort. Linde ging nun zu seinem Vorgesetzten, der im Posthause selbst in der oberen Etage wohnte. Er traf den alten Mann bereits stark fiebernd im Bette liegend an und erkundigte sich theilnehmend nach seinem Befinden. „Ja, ja, Herr Linde", bemerkte der Kranke im Laufe der Unterhaltung, „solchen Szenen, wie die mit Bäumer passirten, bin ich nicht mehr gewachsen, die dringen bis ins innerste Mark . . . o, wer hätte daran auch wohl gedacht!" Da Linde wußte, daß der alte Mann seit dem Früh jahr eine vorgefaßte Meinung gegen seinen Freund hegte, so brachte er schnell das Gespräch auf andere Gegenstände. „Haben Sie bereits wegen der Untersuchnngsakten nach H. geschrieben?" frug er. „Jawohl, Herr Linde, die können mit jeder Post wieder eingchen. Sobald das geschehen, senden Sie sie zum Untersuchungsrichter, der sie ungeduldig er wartet." Nachdem Linde die Schlüssel des Vorstehers über nommen hatte, kehrte er in das Bureau zurück. Am Nachmittag desselben Tages trafen die Unter- suchungsaktcn in D. wieder ein, mit derselben Post ging auch dem Postamt ein Exemplar einer gedruckten polizeilichen Aufforderung an sämmtlichc öffentlichen Kassen in der Umgegend von D. ein, nach welcher die darin näher bezeichneten gestohlenen Banknoten bei der Verausgabung. angehalten und die Aufgeber derselben dem nächsten Richter behufs Feststellung ihrer Person vorgeführt werden sollten. Linde nahm mit einer gewissen Spannung die Akten zur Hand und machte sich von jedem Blatte die ihm von Bedeutung erscheinenden Auszüge. Jetzt stieß er auf das verhängnißvolle Cozwert. Seine Blicke schienen alle Merkzeichen, welche dasselbe an sich trug, zu verschlingen. Da waren die Zeugen der scheußlichen That. Mit welcher Sorgfalt der Schnitt auf dem schwarzen Strich in das Couvert ausgeführt war! Auch nicht die leiseste verdächtigende Spur war an dem Aeußern desselben zu erblicken. Die niit einem Rothstift auf das Couvert geschriebene Zahl „Neunzig" bedeutete, daß seitens deö Annahme- Beamten neunzig Pfennig an Franko gehoben und in aufgeklebten und hernach mittelst des Stempels cnt- werthetcn Werthzeichen verrechnet waren. Von letz teren waren drei thcilweise über den Einschnitt ge klebt; demnach war die Beklebung mit Freimarken erst nach der Beraubung geschehen. „Sehr verdächtigend ist das für Dich, armer Freund!" sprach Linde vor sich hin. Zunächst prüfte er nun die Stücke Pack-Papier. Richtig! Das war ganz genau dasselbe Papier, wie das bei der Postanstalt zum Verpacken verwendete. Welche Hände mochten diese Fetzen wohl in das Couvert gesteckt haben? . . . Dann fiel ihm auch der Streifen von dem Telegramm-Aufgabc-Formular in die Hände. Er betrachtete ihn aufmerksam von allen Seiten. Kopfschüttelnd wollte er ihn eben zu den anderen Gegenständen legen. . . . Doch, was war das? . . . Blitzartig schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf . . . mit einen» Satz war er an» Schalter, wo die Forniulare in den Fächern aufge- schichtet lagen, und im nächsten Augenblick riß er sänuntliche Telegramm-Formulare aus dem betreffen de»» Fache heraus. Er zählte. Jedes dritte trug die Nummer 0.183», alle aber waren neu und unvergilbt. Schnell ging er dann zu einein größeren Schrank, ii» welchem der ganze Vorrath an gleiche»» Formularen lagerte; auch hier trug jedes dritte das nämliche Zeichen. Hierauf constatirte er durch das Lager-Register, daß diese Formulare erst seit einigen Monaten neu eingeführt und mit einem anderen Zeichen bedruckt waren, wie dasjenige, von welchem der Verbrecher das vorliegende Theilchcn »nit in den Brief eingelegt hatte. Das ii» den Werth brief eingeschlossen gewesene Formukarthcilchen war bedruckt mit dem Zeichen 6. 182». Durch den Unterbcamten, der für den täglichen Bedarf ai» zugeschnittencn Formularen zu sorgen hatte, erfuhr der Beamte nun, daß die alten Formulare mit dein Zeichen 6. 182» schon seit zwei Monaten sämmt- lich aufgebraucht seien und sich demnach wohl ein solches nicht mehr im Dienstzimmer auffinden würde. Ei»» Durchsuchen der alten Bestände an Formularen bestätigte die Aussage des Unterbeamten. „Endlich etwas Licht!" sagte Linde hoch erfreut. Mai» würde nun aber irre gehen, wenn man an nehmen wollte, daß der Beamte durch das von den anderen, angenblicklich im Gebrauch befindlichen For mularen verschiedene auf das verdächtige Zeichen 0. 182» aufmerksam geworden wäre; dem war nicht so, den»» bei der großen Summe von Dicnstformularen mußte es auch ihm unmöglich sein, einen Unterschied in der Bezeichnung derselben auf den ersten Blick zu erkennen. Seine Aufmerksamkeit wurde durch einen anderen Umstand geweckt. Man weiß, daß weißes Papier, wenn es längere Zeit unbedeckt liegt, haupt sächlich an den Rändern ein dunkleres Ansehen erhält; man nennt dies, wie allbekannt, das Vergilben des Papieres. Der zu den Untersuchungs-Akten gelegte Abriß hatte etwa die Größe einer Manneshand und war so abgerissen, daß er fast einem gleichseitigen Rechteck glich; bevor er von dein ganzen Formulare abgetrennt war, bildete er die rechte untere Ecke des selben, in welcher die Bezeichnung 6. 182» eingedruckt stand. Der rechte und der untere Rand des Abrisses war stark vergilbt, das Formular mußte also ziemlich lange unverdeckt irgendwo gelegen haben. Diese ver gilbten Ränder waren Linde aufgefallen. Da die in den» betreffenden Fache am Schalter lagernden Exem plare fast alle zwei oder drei Tage durch neue er setzt wurden und sich, wie wir gesehen haben, ein gleich bezeichnetes Formular wie dasjenige, von dem der Abriß stammte, auch nicht mehr im Postdienst zimmer vorfand, so war es dem Suchenden klar, daß der Abriß nicht aus dein Papierkorb iin Bureau stammte. Entweder hatte der Verbrecher diesen Ab riß schon länger in Händen gehabt, oder er war da von einem ganzen Formular abgerissen, wo noch die gleichen mit derselben Bezeichnung so lange verbraucht wurden, als der alte Borrath anhielt. Vielleicht, so schloß Linde weiter, hat der Kauf mann Adens noch dieses ältere Formular im Ge brauch. Wem» das der Fall ist, dann hoffe ich bald am Ziele zu sein. An die Möglichkeit, daß auch Bäumer, um dei» Verdacht von sich abzulenken, ein solches altes For mular zu den» Zwecke hatte benützen können, dachte Linde nicht; er sollte bald darüber belehrt werden. Er griff nun wieder zu den Akten und las weiter. Seine Gesichtszüge nähme»» plötzlich einen finstern Ausdruck an. Er war da auf eine Stelle gestoßen, wo der Inspektor über die ihm wichtig erschienenen Punkte in den Aussagen des Vorstehers über die außerdienstliche Aufführung des Freundes Notizen gemacht hatte. Linde lächelte bitter vor sich hin. Also Schulden sollte der Freund besitzen, niit Leuten verkehren, die in einem zweifelhaften Rufe standen . . . und auf solche Aussagen hin, welche die Aengst- lichkcit des alten Herrn dictirte, hatte der Unter suchende, wie da weiter zu lesen war, geglaubt, den Freund verhaften lassen zu müssen. Aergerlich schleuderte Linde die Akten zur Seite »»nd riß hierauf das Fenster auf, um sein erregtes Blut durch den Lnftzug abkühlen zu lassen. Nach einer Weile schloß er das Fenster heftig wieder, nahm dann die Akten unter den Arm und eilte nach oben, um den Vorsteher zur Rede zu stellen. Eben wollte Linde in das Zimmer des Vorstehers eintrcten, als die Tochtex — „die kalte Schöne" nannte Linde sie — ihn» daraus entgegentrat. Sie erschrak einen Augenblick über den finsteren Gesichts ausdruck Linde's. In Beider Charakteren fand man etwas Gemeinsames . . . den starren, unbeugsame»» Willen. „Ich wollte soeben", sagte sie, „zu Ihnen, um Sic um etwas zu bitten. Wolle»» Sie hier cintreten?" Beide betraten ein kleines, elegant ausgestattetes Zimmer, offenbar das Allerheiligste der „kalten Schönen." „Der Zustand meines Papas", begani» die junge Dame, „scheint heute Nachmittag besorgnißerregend zu sein. Der Arzt ist der Meinung, daß vielleicht ein heftiges Nervenfieber im Anjsige sei. Es ist mir nun gelungen, ihn zu überreden, daß er für sich einen Vertreter von der vorgesetzten Behörde erbitte. Bei der Gewissenhaftigkeit meines Papas, besonders in dienstlichen Fragen, ist »nir das nicht leicht geworden, denn er hofft in einigen Tagen wieder so weit her gestellt zu sein, daß er seinen Dienst übernehmen kann. Der Fall wird aber ganz bestimmt nicht ein treten. Wenn nun Sie, Herr Linde, das Erforder liche bei der oberen Behörde veranlassen wollten, so würde»» Sie mich zu Dank verpflichten. Mcii» Papa wird dann ruhiger werden." „Recht gern, men» Fräulein!" entgegnete Linde mit einer kühlen, gemessenen Verbeugung. „Ich werde sogleich ein Gesuch einreichen ... ES ist mir", fuhr er nach einer kurzen Pause fort und eine müh sam unterdrückte Erregung zitterte in seiner Stimme, „übrigens sehr lieb, daß mir die Mittheilung, Ihres Vaters Zustand sei schlimmer geworden, vor meinem Eintritt in das Krankenzimmer wurde. Ich wollte ihn soeben aufsuche»» und zur Rede stellen über ver meintliche Aufschlüsse, die er dem Inspektor am Tage der Verhaftung meines armen Freundes gegeben hat, und die, den Thatsachen zuwiderlaufend, dazu beige tragen haben, Bäuiner des Verbrechens verdächtig er scheinen zu lassen; unter dei» obwaltenden Umständen nehme ich aber davon Abstand. ... Ich habe jetzt auch eine Bitte an Sie zu richten: Wolle»» Sie mir einige Fragen beantworten, Fräulein?" Die junge Dame sann einen Augenblick nach, dann sagte sie: „Wenn dieselben den Fall Ihres Freundes nicht berühren, Herr Linde, ja." „Direct nicht ... sie beziehen sich auf jene Aus sagen Ihres Herrn Vaters", gab Linde zur Antwort. . . . „Darf ich jetzt fragen?" „Ich höre!" „Ihr Vater hat ausgesagt, daß Bäumer Aus gaben machte, die seinen Gehalt weit übersteige»» müßten. ..." „Aber das wissen ja die meiste»» Leute in der Stadt, Herr Linde!" unterbrach sie ihn mit einer gewissen Ungeduld. „Und glauben es leider auch", sagte Linde bitter. „Weiter steht da ii» den Untersuchungs-Akten,»daß mein Freund sich mit Personen eingelassen habe, die nach der Ansicht Ihres Herrn Vaters, in einem zweifelhafte»» Rufe stehen. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu erklären, daß diese Mittheilung auf Wahr heit keinen Anspruch machen kann, denn Droop's —" „Herr Linde! Sie beleidigen meinen Vater, Ihren Vorgesetzten!" fuhr die Dame heftig auf und erhob sich. „Es liegt mir nichts ferner als das", unterbrach er die Erzürnte heftig. „Bitte, bleiben Sie doch ruhig sitzen — ich werde Ihnen das beweisen." „Da bin ich doch neugierig, wie Sic das anstelle»» werden!" rief sie etwas beruhigter. Linde erzählte nm» in gedrängter Kürze das uns über die Schulden seines Freundes Bekannte und schilderte dann in wahrhaft überzeugender Weise die durchaus chrenwcrthe Vergangenheit der Familie Droop. „Das sind Thaten", schloß er, „für derei» Glaub würdigkeit ich mit meinem Manneswort eintrete. Alle anderen Gerüchte sind Erfindungen einfältiger und böswilliger Menschen. Da ich früher Gelegenheit hatte, Ihren Scharfsinn zu bewundern, so möchte ich Sie nun fragen, ob auch Sie jenen Gerüchten über meinen Freund, der Ihrer Familie bis vor Kurzem auch nahe stand, Glaube»» schenkten?" Er hatte einen bestimmten Zweck bei dieser Frage an die „kalte Schöne." „Ich bedauere, Herr Linde, Ihnen die Antwort auf diese Frage schuldig bleiben zu müssen", ant wortete die Gefragte in frostigem Tone. (Fortsetzung folgt.)