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Beilage m Rr. 17 -es „Amts- und Ameigeblattes". Eibenstock, den 7. Februar 1891. Ein verhängnißvoller Schnitt. Criminal-Erzählung aus dem Postleben von Th. Schmidt. (2. Fortsetzung.) Die Beamten des Postaintes befanden sich, wie leicht begreiflich war, noch immer in einer drückenden Stimmung. Der alte Vorsteher verrichtete rein mechanisch seinen Dienst. Der einzige Beamte, der klar dachte bei seinem Thun, war Linde. Sein Geist arbeitete^ ununterbrochen darauf hin, einen, wenn auch nur unbedeutenden Anhalt zu finden, der sich im jJnteressc des Freundes verwerthen ließe. Bis heute — es war der dritte Tag nach der Verhaftung — war ihm dies nicht gelungen. Von der an deni Vorfälle jbetheiligten Bahnpost war ein Protocoll über die Vernehmung der betreffenden Beamten ein gegangen, aber dasselbe enthielt nichts, worauf man hätte weiter forschen können. Zu den Wenigen, welche von der Schuld des Bäumer nicht überzeugt waren, gehörte, wie wir schon bemerkt haben, Linde. Da diesem mehr als irgend einem Andern in D. die Privatverhältnisse des verhafteten College» bekannt waren, so konnte er auch eine etwas andere Vorstellung von dem Auf treten des Freundes sich machen, als die große Mehr zahl derjenigen, welche nur rein nach dem äußeren Schein urtheileu. Hätte der Inspektor an dem Tage, an welchem die Untersuchung stattfand, nicht stets jede seiner Einreden Lindc's verhindert, so würde die ser ihm Angaben haben machen können, die seine Voreingenommenheit gegen Bäumer beseitigen mußten. Er grollte daher dem Inspektor und auch dem Vor steher. „Sobald des Freundes Unschuld — an diese glaubte er felsenfest — sich herausgestellt haben wird, werde ich", sagte er zu dem Vorsteher, „privatim dem Inspektor telegraphische Anzeige hiervon erstatten; dies soll meine Rache sein." Um den Freund an dem für diesen so verhäng nisvollen Abend noch einmal zu sprechen, war er nicht sogleich, als er sich aus deni Bureau entfernte, nach seiner Wohnung gegangen, sondern hatte sich in der Nähe des Posthauses aufgestellt. Sobald Bäumer in Begleitung des Polizcibeamten die Straße betrat, schritt er auf Beide zu und reichte dem Arrestanten stumm die Hand; dann ging man im eifrigen Gespräch weiter. Der Polizeibeamte glaubte die Begleitung Lindc's gestatten zu dürfen, da er denselben als Ehren mann kannte, nur bemerkte er höflich den beiden Männern, „daß cs ihm lieber wäre, wenn man von der lebhaften Straße ab und in eine weniger freqnen- tirte Straße einbiegen wollte, er könne sonst leicht in Ungelegenheit bei seinem Vorgesetzten gebracht werden. Es wäre wider seine Instruction, einen Arrestanten von seinem Freunde begleiten zu lassen." Die Angeredeten dankten für diese Rücksichtnahme und folgten dann dem Voranschreitenden in eine kleine Seitengasse. Nachdem sie vor dem Gerichtsgcbüude angelangt waren, warf sich Bäumer an des Freundes Brust mit den Worten: „So hast auch Du nicht vermocht, den Verdacht von mir abzuwcnden? O, Frennd, was soll aus mir, aus meiner armen Mutter, meiner Schwester und — meiner Bertha werden, wenn der nichtswür dige Schurke, der mich und diese in namenloses Elend gebracht hat, nicht entlarvt wird?... Entsetzlicb. Schon der Gedanke, in dieses Hans als ein Verbrecher ein geschlossen zu werden, bringt mich dem Wahnsinn nahe!" „Fasse Dich, Freund", nahm Linde das Wori, „eilte von den uns bekannten Personen muß der Schurke sein, und ich werde all meinen Scharfsinn daran setzen, um ihn ausfindig zu machen. Hoffent lich gelingt mir dies schon bald. Deiner Braut und deren Eltern werde ich versichern, daß Du unschuldig leidest. Und nun noch eins: Da Du morgen früh schon von dem Richter über das Verbrechen verhört werden wirst, so besinne Dich auf die Umstände, welche für Dich verhängnißvoll geworden sind. . . . Es wäre nicht unmöglich, daß ein, selbst noch so klei nes Vorkommniß bei der Annahme des Briefes den Verdacht auf die schuldige Person lenken könnte. Und jetzt lebe wohl!" „Lebe wohl, bester Freund! Ich danke Dir für Deine Theilnahme an meinem Unglück! Theile vor der Hand meiner Mutter nichts von dem Vorfälle mit ... es könnte ihr Tod sein." Noch ein kräftiger Händedruck . . . dann schlossen sich die düsteren Pforten hinter dem Freunde. Linde ging festen Schrittes von dannen, um von jetzt ab sich der Sache des Freundes anzunehmen. Von seinem Scharfsinn und seiner Energie durfte der Freund etwas erwarten. Müdigkeit und Rathlosigkeit kannte dieser Mann nicht. Hatte er sich ein Mal ein Ziel gesteckt, so vermochte ihn nichts von dem Wege zu demselben abzubringen. Als er zu Hause anlangte, erzählte er seiner Gattin den ihr bis jetzt unbekannt gebliebenen Vorfall. Auch diese, aufs Höchste über rascht, glaubte an die Unschuld des Freundes ihres Gatte». Es kommt oft vor, daß uns im Leben Personen in der Gesellschaft begegnen, welche Freunde besitzen, die dem Aeußern sowohl wie dem Innern nach grund verschieden von der Natur ausgestattet sind. Dieser Gegensatz zeigte sich ans den ersten Blick auch bei den eben geschilderten Freunden. Linde war ein Mann in den dreißiger Jahren. Seine Gestalt war im Gegensatz zu der seines Freundes — Bäumer war kräftig, von hoher Statur niit ebenmäßigem Glieder bau — schlank aber steif. Sein Gesicht hatte einen blaßgclben, kränklichen Anflug. Aus demselben blickten zwei scharfe dunkle Augen hervor. Das Gesicht des Freundes war regelmäßig und schön, von frischer Lcbensfreudigkeit durchglüht. Seine Augen zeugten von edlem jugendlichen Feuer, von Begeisterung für alles Wahre und Gute. Lindc's Bewegungen hatten etwas ungemein Gravitätisches an sich, selten sah man ihn lachen, und wenn es geschah, so legten sich zwei unschöne Falten um seinen Mund, welche zu dieser Gcfllhlswallung schlecht paßten. Des Lebens Ernst mußte er demnach schon gekostet haben, was bei Bäu mer nicht der Fall war. Biele Worte gebrauchte Linde nicht; seine Sprechweise war knapp u. gemessen. Im Dienst war er pünktlich und gegen sich streng. Dem Freunde mußte man dagegen einen gewissen Grad von Oberflächlichkeit, wenn nicht gar Leichtsinn nachsagcn. Im Verkehr mit dem Publikum war Linde ernst, und weniger Gefälligkeiten konnte sich dieses von ihm rühmen. Er wußte sich Personen, die oft mit nichtssagenden Kleinigkeiten die Beamten be lästigen, fern zu halten. Bäumer war hingegen oft allzubereit zur Gewährung von Gefälligkeiten, die außerhalb des Bereiches seiner amtlichen Thätigkeit lagen. Linde war daher nicht so beliebt beim Publi kum wie Bäumer. Die jungen Handelsbeflissenen namentlich hatten vor ihm einen sichtbaren Respekt, wenn sie aber außer Hörweite waren, dann konnte man oft den Ausdruck „grimmer Schaltcrbär" hören. Es mußten demnach recht unangenehme Erfahr ungen gewesen sein, die Linde erlebt und die ihn fast zum Menschenfeind umgewandelt hatten; ein Er- eigniß wissen wir und wollen es hier aufführen: Als er noch vor Jahren dem Postdicnst bei einem kleinen Amte Vorstand, wurde ihm von dem ihm zur Aushülfe unterstellten jungen Beamten eine Geldsendung im Betrage von fünfhundert Thalern entwendet. Als man den Dieb ergriff, hatte dieser bereits Alles ver jubelt. Linde mußte den Betrag ersetzen. Dieser Fall machte ihn mißtrauisch. Scherzweise hatte einst ein College, dem dieses Mißtrauen nicht gefiel, geäußert, Linde hat für sich das siebente Gebot in zwei Theile zerlegt; erstens: laß dich nicht bestehlen, und erst zweitens: stiehl selbst nicht. War Linde im Dienst streng gegen sich, so war dasselbe auch in Hinsicht auf seine außerdienstliche Führung der Fall. Mäßig im Genießen, hatte er mit dem Freunde nur das gemein, daß Beide das Wahre und Schöne liebten. Frei von aller Kriecherei nach oben, sowie Härte nach unten, wollte jeder nur durch sich selbst den Weg zu den besseren Stellen in ihrem Fache sich zugänglich machen. Außerdem fand Bäumer an dem ernsten, strengen Charakter des Freundes ein nachahmenswerthes Beispiel, ja gewisser maßen bei dem Gedanken an den ernsten Freund eine wohlthuende Kühlung für sein oft allzu lebhaftes Blut. Linde's Häuslichkeit konnte als Muster gelten; sah man ihn, wie wir schon andeuteten, selten im Dienst lächeln, so traf dies nicht zu in seinem Hause. Be sonders wenn seine kleine Schaar, drei frische, muntere Knaben und ein Töchterchen, ihm, wenn er vom Dienste hcimkehrte, jubelnd cntgegensprangen, erhellte sich sein ernstes Gesicht, ja dann lachte er oft vor Freuden hell auf. Seine Frau liebte er mit jener Stetigkeit, die seinem ganzen Wesen eigen war. Bäumer verkehrte viel in seiner Familie. Beide besuchten die Gesellschaft „Eintracht", deren Mitglieder sie waren, nur sehr wenig. „Es ist mir dort," so sagte Linde, „zuviel Unnatur in dem Verkehr mit einander." Derselben Ansicht war sein Freund.... Zunächst gestatte uns nun die freundliche Leserin und der freundliche Leser, von Bäumer eine Schilder ung zu geben, um sich ein Urtheil zu bilden, in wie weit die Gerüchte über den Verhafteten in D. auf Thatsachen beruhten. Zu diesem Zwecke müssen wir in der Zeit zurückgreifcn. Bäumer's Eltern wohnten in K., einer Üniver- sitätsstadt. Sein Vater, ein Pfarrer, ließ den sehr begabten Sohn Jurisprudenz studiren. Hermann halte schon ein Jahr diesem Studium obgelegen, als sein Vater von einer bösartigen Krankheit erfaßt wurde, der er erlag. Da der Wittwe nur eine be scheidene Pension ausgesetzt war, von der sie kaum den Unterhalt für sich und ihre kränkliche Tochter bestreiten konnte, so mußte der Sohn sich, wenn auch mit schwerem Herzen, entschließen, die Universität zu verlassen. Unterstützungen von einem Verwandten lehnte er ab. Um seiner Mutter und Schwester den Genuß der geringen Pension zu erhalten, entschloß er sich, in den Postdienst einzutreten. Nach persönlicher Vorstellung hei der zuständigen Behörde wurde der junge Manu ausgenommen und zu seiner und der Freude der lieben Angehörigen in K. beschäftigt. Sehr bald konnte der Angenommene eine Stelle, für welche ein bestimmter Gehalt ausgesetzt war, voll ausfüllen. Bei sparsamer Wirthschaftlichkcit der drei Personen war es ihnen jetzt schon möglich, hin und wieder ein kleines Sümmchen für etwa später sich einstellende böse Tage zurückzulegen. Mehrere Jahre lebten diese drei Personen in der schönsten Seelenharmonic zu sammen, bis Hermann sein Examen zum Postsekretär glänzend bestand. Jetzt mußte er sich eine Versetzung nach D. gefallen lassen. Vor seinem Abschiede von der über alles geliebten Mutter und Schwester gab jene dem scheidenden Sohne noch manche gute Lehre mit auf den Weg. Diese mußten denn auch auf guten Boden gefallen sein, denn sic hörte nur Gutes von dem fernweilenden theuren Sohn. Auch das Bildniß der sansteu liebeu Schwester, welche von ihrer Kind heit an überaus leidend war, hatte sich fest in sein Herz geprägt; dafür zeugten die vielen Beweise seiner Aufmerksamkeit aus der Ferne. Stets pünktlich zur bestimmten Zeit ging von D. nach K. eine Geldsendung an die Wittwe ab und stets war diese mit einem nur von echter Kindesliebe zur Mutter zeugenden Schreiben begleitet. Oft schrieb diese dem Sohne, daß er doch auch endlich an sich denken möge, sie, die Mutter und Schwester, brauchten sich ja garnicht einzuschränken . . . worauf aber stets die Antwort von D. erfolgte, er wüßte wirklich keine bessere Verwendung für seine Ueberschüsse, überdies bedürfe die Schwester einer außergewöhnlichen und daher kostspieligen Pflege, deren Kosten die Mutter unmöglich von ihrer geringen Pension bestreiten könne. Wie Bäumer bis vor Kurzem der vergötterte Liebling der Gesellschaft in D. gewesen war, haben wir schon aus der Erzählung des Vorgesetzten erfahren. Wir wollen nun versuchen, uns diese Wandlung in der Gunst der Leute in D. zu erklären. IV. Bäumer war Natur-Enthusiast. Für Spaziergänge in Gottes herrlicher Natur empfand er eine ganz besondere Vorliebe. Auch im verflossenen. Frühjahr des Jahres, in dem unsere Erzählung spielt, unter nahm er oft solche kleine Fußtouren nach dem reizend gelegenen „Gretensteine". Dieser Ort liegt etwa eine Stunde von D. entfernt und der Weg zu demselben führt an einer mit schönen Fichten bewachsene» tiefen Schlucht vorbei. Auf einem solchen Gange wurde er von einem heftigen, von strömendem Regen be gleiteten Gewitter überrascht. Er war etwa bis zur Mitte des Felsens cmporgestiegen, da wo derselbe fast senkrecht absiel, als das Unwetter loSbrach, und er flüchtete sich unter eine Fichte, unter deren Schutz er das Wetter wollte austoben lassen. Hier mochte er kaum fünf Minuten gesessen haben, als eine Dame, die ihm als die Frau des Rentiers Droop in D. bekannt war, in höchster Aufregung weinend und laut" klagend auf seinen Sitz zueilte. Da er etwas seitlich am Stamme des Baumes saß, so konnte die Frau ihn nicht bemerken, er stand daher auf, als sie in seine Nähe kam, und redete sie an. Sie stutzte, rang dann verzweifelt die Hände und bat mit von Thränen er stickter Stimme den jungen Mann, ihr Kind, ihre Tochter Bertha, zu retten. Auf seine Frage, was denn geschehen sei, stieß sie laut wehklagend die Worte hervor: „O mein Gott, mein Kind ist da . . . da . . . hinter dem Borsprung ausgeglitten und den Abhang hinunter gefallen. O Gott! Vielleicht ist sie schon todt! Retten Sie! Helfen Sic mir!" Ohne ein Wort zu erwidern, lief der junge Mann so schnell er nur vermochte der bezeichneten Stelle zu. Hier erkannte er mit Schaudern an den Spuren, welche der Fall der Dame am Rande des Abhanges hinterlassen hatte, den in der That höchst gefährlichen Weg, welchen die Verunglückte über hervorragende Steine und niederes Strauchwerk zurückgelegt. Ein Blick auf die Umgebung genügte ihm, die Situation zu überschauen. Jedenfalls hatten die beiden Damen, um sich vor dem Unwetter zu flüchten, den etwa sechs Stufen unterhalb des Weges, welcher an dem Abhang vorbeiführte, liegenden Ruhesitz, der von einigen mäch tigen Tannen überragt wurde, erreichen wollen, in der Hast jedoch nicht mit der nöthigen Vorsicht die gefährliche Lage der ziemlich primitiven Stufen be achtet. Da überdies der erweichte lehmige Boden schlüpfrig war, so war ein Ausgleiten auf demselben unvermeidlich gewesen. Die Tochter schien vorange schritten zu sein und schien an dieser Stelle vor den entsetzten Blicken der Mutter ausgeglitten und ohne Halt den mit scharfen Steinkanten besäeten Abhang