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nahm, wenn sie die Schwelle deS Hauses überschritt, dann athmetc sie auf, dann entfalteten sich die Schwin gen ihrer Seele und ihre kippen strömten über von originellen Einfällen, feinen Bemerkungen und zu weilen auch von Aeußerungen, die auf eine trostlos trübe Weltanschauung schließen ließen. Für Herbert hatten die Offenbarungen dieser Frauenseele einen unnennbaren Reiz, wie alles Neue, Eigenartige. Im Verkehr mit Auguste hatte er auch über Kunst, über Fragen der Litteratur, der Wissen schaft, über philosophische Probleme gesprochen, ge stritten — aber das war etwas so völlig Verschiede nes. Angustens herbe, spröde Mädchennatur, das Knospenhafte derselben hielt keinen Vergleich aus mit der blühenden Rose, deren Duft etwas Berau schendes hatte. Schön ist ja auch eine Morgenlandschaft, die noch von leichten Nebeln verhüllt ist, wie von^cinem Schleier, der die Gluth des Mittags, die entfaltete Pracht erst ahnen läßt, wenn aber schon die Ahnung beglückt, dann beseligt die Wirklichkeit. Und wo war Auguste, that sie nichts, das Ver lorene sich wieder zu gewinnen? Wohl kam sie nach wie vor zu Franziska, denn es wäre ja ausgefallen, wenn sie ihre Besuche plötzlich eingestellt hätte, doch wo sie, ohne aufzufallen, es vermochte, vermied sie ein ungestörtes Beisammensein mit Herbert. Bald bemerkte Auguste mit schmerzlicher Bitterkeit, daß Herbert damit ganz zufrieden zu sein schien. Entweder hatte ihn ihr Benehmen gleich nach seiner Rückkehr verletzt und er wollte sich dies nicht merken lassen, hielt sich aber in der gemessenen Entfernung, die Auguste ihm selbst vorgezeichnet — oder er war froh darüber, daß es zu keinen näheren Auseinander setzungen gekommen war. Mitte April kam heran. Herbert feierte noch das Osterfest in „seiner Familie" — wie er sich auszu drücken Pflegte, dann fand seine Uebersicdclung nach Wildschütz statt. Man empfand iin Kreise der einsamen Franen gar schmerzlich die Lücke, welche die Abreise des liebens würdigen Mannes gerissen. Besonders Stella erschien Ivie verwandelt. Alles Interesse am Leben, an ihren gewohnten Beschäftigungen verblaßte, sie ergab sich wieder völlig ihren düsteren Grübeleien und ging still und träumerisch ciuhcr, seit Herberts belebenden Ein fluß geschwunden, seit sein sie mächtig bezwingender Wille, nicht mehr unmittelbar auf sie wirkte. Da Stella über körperliches Leiden klagte, ihre Wangen auch wirklich erblaßten, ihre Auaen den Glanz verloren, so kam weder Gräfin Elenora noch auch Franziska auf den Gedanken, die Ursache dieser Ver änderung anderswo zu suchen. . Zudem waren beide zu vornehme Naturen und dachten selbst zu edel, um niedere Beweggründe bei denen vorauszusetzcn, die ihnen so nahe standen, oder dieselben durch unwürdigen Verdacht zu kränken. So herzlich auch die Beziehungen zwischen Stella und Herbert sich gestaltet hatten, selbst der welt erfahrenen alten Dame wäre nicht ini entferntesten die Idee gekommen, daß Herbert eine leidenschaftliche Liebe für seine Stiefmutter fassen nnd daß Stella dieselbe erwidern könne. Gerade die Offenheit und Traulichkeit dieses Verkehrs gab das beste Zcugniß für die Unbefangenheit, mit der die bnden jnngen, schönen Personen sich demselben überließen. Auguste und Viktor dachten anders. Erstere hatte mit dem Instinkte des Herzens die Gefahr errathen, welche ihr drohte, nnd Viktor, der Menschenkenner, der Jurist mit dem scharfen Forscherblickc, hatte längst das Gehcimniß Herberts errathen, ehe dieser sich des selben noch bewußt war. Aber Viktor schwieg. Eine verfrühte Warnung thut oft so viel Schaden, wie der plötzliche Luftzug bei einem bisher nur unterdrückt glimmenden Brande. Die Flammen schlagen plötzlich hoch auf und ihre verzehrende Gewalt spottet aller Versuche, sie zu ersticken. Der Arzt, den Gräfin Ringcrsheim über das Leiden ihrer Schwägerin zu Rathe zog, erklärte, daß die aufs höchste angegriffenen Nerven der jungen Frau einer ernstlichen Kur bedürften. Ein klimatischer Kurort ward genannt, hoch im Gebirge gelegen, einsam, von der Kultur noch nicht beleckt und doch mit dem nöthigen Komfort versehen, um nicht geradezu durch den Besuch dort sich Entbehrungen aufzuerlegcn. Dorthin wollte der verständige Arzt die leidende junge Frau schicken, die seiner Ansicht nach nur der Bewegung in frischer Bergluft, kalter Bäder und der nöthigen Erholung vom Zwange gesellschaftlicher Kon- venienz bedurfte, um bald völlig zu genesen. Da Gräfin Elenora Karlsbad besuchen mußte, wie schon die Jahre vorher, und Franziska die Mutter begleitete, so war es unmöglich, ohne nicht Opfer zu bringen, welche die eigene Gesundheit empfindlich geschädigt hätten, Stella ins Gebirge zu begleiten. Stella hätte dies auch nie angenommen und zuletzt mußte auch Gräfin Ringcrsheim einsehen, daß in jenem stillen Gebirgsorte ihre Schwägerin ganz ruhig allein wohnen könne, nachdem dieselbe von dem Haus arzte Empfehlungsbriefe an den Arzt und den Pfarrer des Marktfleckens erhalten hatte und eine passende Wohnung für sie besorgt worden war. Nur hätte Gräfin Ringersheim gewünscht, daß noch eine so genannte Ehrendame, eine ältere Gesellschafterin ihre Schwägerin begleitet hätte, diese aber erklärte sich mit einer an ihr seltenen Entschiedenheit gegen diese Absicht und so mußte davon Abstand genommen werden. (Fortsetzung folgt.) Die Granate. Humoreske von P. G Nie werde ich das Weihnachtsfest von 1870 — welches ich während der Belagerung von Paris ver lebte — vergessen. Ich will den Leser durchaus nicht mit einer Schilderung von Leiden und Entbehrnngen belästigen, sondern einfach eine kleine Episode erzählen, deren ich mich immer mit Vergnügen erinnere. Mein alter Freund Dupont war ein reicher Tuchhändler in der Rue du Bae, allgemein geachtet, obgleich etwas trocken und eigensinnig. Er hatte Paris vor der Belagerung nicht verlassen, weil er behauptete, die Stadt könne sich keine acht Tage halten. Seine Frau jedoch hatte ihr Haus vor sichtiger Weise auf das Reichhaltigste verproviantirt, so daß die Familie auch während der größten Hun- gersnoth keinen Mangel zu leiden hatte. Jeden Sonntag — während der Belagerungszeit — speiste ich in Gesellschaft eines anderen Herrn, der halb nnd halb zur Familie gehörte, an ihrem gastfreund lichen Tische. Alphonse Bertrand war der erste Buchhalter und Prokurist bei Herrn Dupont und hoffte, eines Tages sein Kompagnon und Schwiegersohn zu werden. Er war ein gesetzter junger Mann von gefälligem Aeußern und bescheidenem Benehmen, dabei doch sehr intelligent und liebenswürdig und der schönen Madelainc Du pont von Herzen zuaethan. Bertrand war Korporal bei der Mobilgarde und bei Le Bourget verwundet worden. Er hatte seine Pflicht als Soldat treu, doch ohne Enthusiasmus erfüllt. Er hatte kein Vertrauen zu den Führern der belagerten Armee und unterzog die Operationen derselben einer strengen Kritik, zur großen Erbitter ung des Herrn Dupont, welcher ein fanatischer An hänger des Generals Trochu war. Der alte Herr wurde bei der Bcrtheidigung seines Lieblings so auf geregt und hitzig, daß ich mehrmals beschwichtigend eingreisen mußte, um ernstlichen Zerwürfnissen vor- znbeugcn. Als ich eines Tages etwas spät zum Essen er schien, war ich nicht wenig erstaunt, meinen gewöhn lichen Platz am Tische von einem mir fremden Gaste besetzt zu finden. Derselbe wurde mir als Herr Pierre Babillard, Vertreter einer großen Tuchfabrik in Roubaix — gegenwärtig Kapitän der Franktireurs de Courbevoie — vorgestcllt. Er war ein wohlge nährter, blühender junger Manu mit einem furcht baren Schnurrbart, einer lauten, etwas schnarrenden Stimme und anmaßendem Wesen; er trug eine nicht näher zu beschreibende Art von militärischer Uniform nnd ein Paar ungeheure Kanonenstiefel, welche ihm ein wirklich martialisches Aussehen gaben. Er be fehligte eine von ihm selbst gebildete Freischaar, und wenn nur die Hälfte von dem auf Wahrheit be ruhte, was er uns erzählte, so war es die tapferste Truppe, die je cxistirt hatte, und er ein zweiter Hannibal. Ich hatte den „Kapitän", noch ehe das Essen vorüber war, erkannt, aber die Duponts schienen von ihm ganz entzückt zu sein. Pappa Dupont lauschte begierig seinen unglaubwürdigen Geschichten, Madame war von seinem Redefluß und seiner siche ren Haltung eingenommen und Fräulein Madelaine fühlte sich durch seine Aufmerksamkeiten geschmeichelt. Der arme, kleine Mobilgardist schien durch seinen glänzenden Rivalen gänzlich kalt gestellt zu sein. Alphonse Bertrand erschien durch den grellen Kon trast bescheidener und unbedeutender als vorher. Seit diesem Tage war Kapitän Babillard be ständiger Gast an Duponts Tische, wo er den Ehrenplatz einnahm und ganz allein das Wort führte. Der Neujahrstag war herangekommen und wir Drei sanden uns wiederum im Dupontschen Hause ein. Der Kapitän hatte zur Feier des Tages eine neue Uniform angelegt und überbot sich in Huldig ungen gegen Madelaine. Diese schien ihn jedoch mit einer gewissen Kälte zu behandeln und sandte mehr denn einmal reuevolle Blicke nach dem ver nachlässigten Alphonse. Die Tafel war aufgehoben und wir schlürften unseren Kaffee, als das Dienstmädchen meldete, daß ein Artillerist ein Packet für mich abgegeben habe, welches sich nebenan im Wohnzimmer befinde. „Es ist für Sie, mon ami," sagte ich zu unserem Wirth gewendet, „ein kleines Geschenk, welches sie hoffent lich freundlichst annehmen werden." Er erhob sich sofort und wir Alle folgten ihm in den Salon, wo mein Geschenk, sorgfältig verpackt, auf dem Tische stand. „Was kann das nur sein?" rief die Frau vom Hause neugierig. „Das werden Sie wohl niemals errathen," sagte ich, „es ist eine Granate! — Du pont hat oft gewünscht, eine zu besitzen, um sie als Untersatz für eine Uhr zu benutzen, und auf mein Bitten hat mir mein Freund, Oberst de Laroche, eine solche überlassen." Während ich sprach, löste ich die Umhüllung, und die Granate kam schwarz und düster zum Vorschein. „Aber, mein Gott, Monsieur S-, das sieht ja ganz gefährlich aus!" bemerkte Madame ängstlich. „Sie können unbesorgt sein, de Laroche hat mir versprochen, sie entladen zu lassen, ehe er sie mir zu schickt, hier ist übrigens sein Brief." Ich öffnete das Eouvert, welches dem Packet bcigefügt war, und wollte sein Schreiben eben laut vorlesen, brach jedoch nach der ersten Zeile erschreckt ab — dies veranlaßte den allgemeinen Ausruf: „Was ist denn los?" „Es ist recht fatal — doch hören Sic selbst," fügte ich hinzu und las Folgendes: „Lieber S.! Bei folgend erhalten Sie die gewünschte Granate, doch da ich Niemand zur Hand hatte, der sie entladen konnte, so rathe ich Ihnen, dieselbe zum Büchsenmacher in der Passage de l'Opcra zu schicken, der das am sicher ste» besorgen wird, doch bedenken Sie, daß die größte Vorsicht nöthig ist, da der geringste Anstoß, ja eine bloße Reibung eine Explosion verursachen kann." Hier wurde ich durch einen Angstruf von Seiten der Da men unterbrochen. „Bringen Sie das abscheuliche Ding fort," schrie Madame, „der Soldat, der es hergebracht hat, soll es sogleich wieder mitnehmen!" „Der Soldat ist schon fortgegangen," sagte das Dienstmädchen. „So will ich es fortbringen," sagte Alphonse ruhig, indem er vortrat. „'Nein, nein, Sie nicht!" rief Madelaine aus, während Dupont ihn am Arme zurückhielt. „Ich verbiete Ihnen, es zu berühren, Sie würden cs auf der Treppe fallen lassen und das ganze Hau« in die Luft sprengen. Zum Glück ist der Kapitän hier, dem wir in diesem Falle volles Zutrauen schen ken können," sagte er zu Babillard gewendet, der sich in eine entfernte Ecke gedrückt hatte. „Ich?" rief dieser zurückfahrcnd. „Ja, Sie, lieber Freund, der Sie mit Kanonen kugeln umgehen können, wie die Schulknaben mit Marmorkügelchen." „Aber, erlauben Sie," stammelte der Held, plötz lich erbleichend, „warum warten Sic dcnn nicht bis morgen, wo der Büchsenmacher das Ding selbst ab holen kann." „Wenn das schreckliche Ungethüm bis morgen im Hause bleibt, so schlafe ich im Hotel," erklärte die Hausfrau. Babillard zögerte und sah ans, als ob ihin das Essen schlecht bekommen wäre. Er war jedoch nicht der Mann, der sich so leicht aus der Fassung brin gen ließ. „Gewiß, ich will cs gern besorgen, doch ist es nicht sicher, den Weg zu Fuß zurückzulegen, wo man unterwegs jeden Augenblick angerannt werden kann; ich will deshalb an der nächsten Ecke einen Wagen bestellen." Seinen Hut ergreifend, verließ er schleunigst das Zimmer und rannte, vier Stufen ans einmal nehmend, die Treppe hinunter. „Ich konnte es ja so leicht besorgen," sagte Al phonse mit ruhiger Stimme, als ob es sich um die einfachste Sache von der Welt handelte. „Unsinn, Sie sind viel zu schwach dazu," bemerkte Dupont kurz und bündig, obgleich ich ihm anmerkte, daß er über den Muth des jungen Mannes erstaunt war. „Hoffentlich bleibt der Kapitän nicht lange aus," setzte er hinzu, indem er an das Fenster trat, wo ich bereits Posto gefaßt hatte. Ohne ein Wort zu sagen, berührte ich seinen Arm und deutete auf die Straße. Babillard war soeben aus dem Hause getreten, doch anstatt auf den Droschkenstand zuzu gehen, rannte er in entgegengesetzter Richtung davon, so schnell es seine langen Beine gestatteten. „Zum Teufel! Was soll das heißen?" rief mein Wirth aus. „Das heißt," erwiderte ich trocken, „daß der Ka pitän gleich allen wahren Helden zu bescheiden ist und es deshalb vorzieht, diesen wichtigen Auftrag einem Andern zu überlassen, mit anderen Worten, lieber Freund, daß Ihr tapferer Ritter ein unver schämter Maulheld und Aufschneider ist, den ich zu meiner größten Freude durch dieses harmlose KriegS- geschoß entlarvt habe." Bei diesen Worten ergriff ich ein Buch und schlug damit hastig gegen die Spitze der Granate, welche sofort in hundert Stücke von — Chocolade zersprang! Ja, das tödtliche Geschoß war aus Chocolade an gefertigt und enthielt nichts Gefährlicheres al« Bon bons, die in einem wahren Hagelschauer auf den Teppich niederfielen. Drei Monate später feierte Alphonse seine Hoch zeit mit Madelaine. Den Kapitän hat man in der Rue du Bac nicht wieder gesehen. Druck und Beklag von L. Hannrbotzn in Ltdenftock.