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Beilage m Ar. 96 -es,Imts- und Anreigeblattes". Eibenstoü, den 16. August 18W. Stellas Geheimniß. Kriminal-Novelle von Ernst v. Waldolv. (4. Fortsetzung.) Doch der Schatten eines Ermordeten stand zwi schen ihnen, die Erinnerung an ein unsträfliches, rei nes Leben, an die geheiligten Familientraditionen. Der Präsident wandte sich ab und sagte tonlos: „Unsere Wege sind fortan geschieden. — Lebe wohl, Stella!" „Ein Lebewohl — schon jetzt — soll ich so bald reisen?" „Ich denke, daß Du Dich in der nächsten Woche so weit erholt haben wirst, um ohne Gefahr für Deine Gesundheit reisen zu können — man wird den Leuten sagen, daß Du ein wärmeres Klima aufsuchst — Du wirst einen Umweg machen und über Frank reich nach Dover gehen, dann nach England und von da nach Amerika. ES wird heißen, daß die Aerzte Dich nach dem Süden Frankreichs geschickt. Das Nähere werde ich noch bestimmen und alle nöthigen Einleitungen treffen. Ich sagte Dir nur Lebewohl, weil diese Szenen und Unterredungen für uns beide gleich peinlich und aufregend sind. Auch ich fühle mich leidend und die Pflicht, die Klugheit gebietet Schonung. Darum auch habe ich eine Woche Urlaub genommen, um mich zu meinem Freunde, dem Fürsten Wolkenburgheim zu begeben, der mir alljährlich zur Jagdzeit dringende Einladungen sendet. Ich werde einen stichhaltigen Borwand finden, um nicht eher hierher zurückzukehren, bis — bis alles vorbei ist — ich reise morgen früh, vorher will ich noch mit mei ner Schwester sprechen und das Letzte ordnen. Ver liere den Muth nicht und denke an die Ehre unseres Namens, Stella!" Sie schluchzte laut auf — er preßte die Hand auf das Herz, seine Augen verdunkelten sich, durch diesen trüben Schleier sah er noch, wie Stella die Arme flehend nach ihm ausbreitete — er stürzte zur Thür, er eilte in sein Gemach, verriegelte es und sank halb ohnmächtig auf dem Teppich vor dem Ka min zusammen, über welchem das Bild des schönen Weibes hing, das, er fühlte es mit wildem Schmerze, das er nie so heiß, so innig geliebt, wie in dem Augenblick, wo er scheiden sollte von Stella — vom Leben — vom Glück! Erst nach Stunden hatte Baron Wildschütz seine Selbstbeherrschung insoweit wieder erlangt, daß er sich in das Palais Ringersheim begeben konnte. Er traf Elenora allein, Auguste Wilmert war zum Be suche ihrer Freundin gekommen und die jungen Mäd chen hatten sich in das Musikzimmer zurückgezogen. Der Präsident theilte seiner Schwester mit, daß er sich zu einem Jagdausfluge nach Wolkenburgheim begebe, um sich von den Aufregungen zu erholen, die ihm Stellas Krankheit bereitet. Die Gräfin billigte dies in hohem Grade, denn sie fand ihren Bruder sehr übel aussehend, sie trug ihm Grüße auf an die Gemahlin des Fürsten Wolkenburgheim und versprach, fleißig nach ihrer jungen Schwägerin zu sehen. „Die Aerzte haben Stella ein südliches Klima verordnet," sagte der Präsident hingeworfen, indem er den Handschuh über die linke Hand streifte, „das erscheint mir auch sehr gerathen, unser nordischer Winter ist wirklich zu rauh für eine Rekonvaleszen tin; der Vorschlag läßt sich ja in Erwägung ziehen." Nachdem Gräfin Elenora noch die Hoffnung aus gesprochen, daß eine solche Reise doch am Ende nicht nothwendig sein werde, verabschiedete sich der Bruder. Da er aber nicht den nächsten Weg wählte, der all dem Wohngemache der Gräfin auf den Korridor führte, sondern in der entgegengesetzten Richtung sich entfernte, fragte Elenora erstaunt: „Willst Du von Franziska Abschied nehmen, so kann ich sie ja rufen." „Nein, ich danke Dir. Grüße das liebe Kind, ich wollte mir nur den Studienkopf Deines jungen Pro- tegtz ansehen, neulich Abend vergaß ich da«. Bitte, bemühe Dich nicht, Elenora, ich will mich nicht durch Dein Lob deS Bildes beirren lassen — ich werde es mit kritischen Augen betrachten." Die Gräfin lächelte und nahm ihren Sitz wieder ein — der Bruder hatte das Gemach verlassen. Sie blickte hinab auf den Kiesweg, der die Gar tenanlagen treniüe, noch immer ließ sich die hohe Gestalt des Präsidenten nicht sehen. „Sollte er doch die Mädchen im Musikzimmer ausgesucht haben?" fragte sich die Gräfin, und sie beschloß, sich davon durch den Augenschein zu über zeugen, da konnte sie ja auch gleich das Urtheil Hes kunstverständigen Bruder« über da« Erstlingsbild eines jungen Künstlers vernehmen, der ihr Schützling war. Leise öffnete sie die Thür deS länglichen, durch drei Fenster erhellten Salons, an dessen Wänden eine große Anzahl von Gemälden hing, werthvolle Stücke, Ererbte« und Erworbenes. Man nannte da» Ge mach die Gallerte. Da stand Baron Wildschütz wirklich noch — doch I nicht vor dem Bilde de« jungen Künstler«, sondern vor den Familienporträts. Wie anhaltend, wie lange er sie betrachtete, auf seinem strengen Antlitz lag eine weiche Rührung, der ernste, alte Mann war wieder zum Kinde geworden, der mit zärtlicher Ehrfurcht aufblickt zu den Bildern der ehrwürdigen Eltern. Gräfin Elenora war betreten darüber, daß sie ihren Bruder, der augenscheinlich hier hatte allein sein wollen, belauscht. So leise, wie sie gekommen, entfernte sie sich — er hatte ihre Anwesenheit gar nicht bemerkt. Bald darauf sah sie ihn über die Rampe herab dem Ausgange de« Gartens zuschreiten. Sie winkte ihm mit der Hand einen Gruß zu, als er einen Moment stehen blieb und sich zurückwandte. Er grüßte hinauf und schritt dann erhobenen Haup tes durch die Pforte neben der Einfahrt, er war zu Fuß gekommen und begab sich ebenso heim. Der Präsident nahm, überhäufter Geschäfte wegen, das Nachtmahl in seinem Arbeitszimmer ein, danach hatte er eine ziemlich lange Unterredung mit Karl Walter. Der alte Kammerdiener packte indessen den Koffer seines Herrn, denn der Schnellzug der Süd bahn, den der Präsident benutzen mußte, ging schon um 6 Uhr früh ab. Sonst hatte er stets seine Anti pathie gegen das Frühaufstehen ausgesprochen, da man gezwungen sei aufzustehen, wenn man sich dem Ge nüsse des Schlummers erst recht hingegeben habe. — Diesmal hatte der Kammerdiener seinen Herrn nicht zweimal zu wecken brauchen, denn der Präsident war bereits angekleidet, als der Diener das Schlaf gemach betrat. Das Bett war unberührt. Der alte Franz er schrak förmlich darüber, seinen Herrn so bleich, so übernächtig zu erblicken. Der Präsident lächelte und sagte gütig: „Ja, mein lieber Franz, ich habe mir meine Frei heit und die kleine Erholungsreise erst verdienen müssen. Sehen Sie, dort auf dem Schreibtische liegt ein ganzer Berg erledigter Akten. Die werden mor gen abgeholt. Im Kamin habe ich eine Portion un nützer Papiere verbrannt, die mir den Raum beeng ten; ich habe wieder einmal Ordnung auf meinem Schreibtische gemacht." Der alte besorgte Diener schüttelte mißbilligend das weiße Haupt, aber er schwieg, denn er wagte dem Tadel nicht Worte zu geben, dem Tadel, daß der verehrte Herr gar so wenig an seine kostbare Gesund heit denke. — Die letzten kleinen Anordnungen wurden ertheilt, der Präsident schien in sehr guter Laune zu sein und sich auf den Ausflug recht zu freuen, er scherzte sogar über die Sorglichkeit des alten Franz, der seinen Herrn nicht warm genug gegen die Morgenkälte ver packen konnte. Endlich war man ganz fertig. Der Präsident sah nach der Uhr: „Es ist Zeit," sprach er lebhaft und begab sich hinab. Der Wagen hielt bereits vor dem HauSthor, das Gepäck, zu welchem auch das schöne Jagdgewehr des Barons gehörte, war schon aufgeladen. Franz bat, mitfahren zu dürfen. „Nicht noth wendig," entschied der Präsident in einem Tone, der keine Widerrede duldete. „Gehen Sie ins Haus, Franz, Sie erkälten sich sonst. Ich bedarf Ihrer wirklich nicht auf dem Bahnhofe, da sind Leute genug, die mir gern die kleinen Dienste leisten — Adieu — vorwärts, Walter, und fahren Sie schnell, daß wir den Zug nicht versäumen!" Der Wagen rollte davor?. DaS Rasseln der Räder ließ Stella erschreckt von ihrem Lager auffahren. Sie hatte sich in der Nacht wach erhalten, in der Hoffnung, ihren Gatten noch kurz vor seiner Abreise sprechen zu können. Zwar erwartete sie nicht, ihn umzustimmen, aber es drängte sie, noch ein letztes Lebewohl ihm zu sagen, ihn noch einmal um Vergeb ung zu bitten. Ueberwältigt von Mattigkeit war sie erst gegen Morgen in einen tiefen Schlaf gesunken, und aus diesem weckte sic das Rollen des Wagens. Mit einem Ausrufe des Schreckens erhob sich Stella von ihrem Lager und eilte zum Fenster, dessen Vorhang sie mit zitternder Hand zurückschob. Sie kam zu spät — die Straße war leer — ihr Gatte bereits fortgefahren, sie hatte ihn nicht mehr gesehen und der Abschied gestern war ein Lebewohl für immer gewesen. Am Abend de« nächsten Tages erhielt Stella eine längere Depesche des Präsidenten, in welcher er ihr seine glückliche Ankunft in Wolkenburgheim meldete und daß er bereits am ersten Tage der Jagd reiche Beute gemacht habe. Grüße für Schwester und Nichte waren beigefügt, welche die Versicherung von der Gesundheit und dem Wohlbefinden des Absender« l enthielten. Zwei Tage später traf wieder eine Depesche ein, doch dieselbe trug die Unterschrift des Fürsten Wol kenburgheim. Stella brach ohnmächtig zusammen, als sie einen Blick auf das Blatt geworfen — es ent hielt die in schonendster Weise abgefaßte Kunde eines großen Unglücks, das sich bei der letzten Treibjagd ereignet. Das Unglück hatte den allverehrten Baron von Siegen-Wildschütz getroffen, sein Gewehr, mit welchem er unvorsichtig manipulirt haben mußte, hatte sich entladen, — der Schuß hatte ihn schwer verletzt, eS war wenig Hoffnung vorhanden, sein Leben zu erhalten — man mußte auf das Schlimmste gefaßt sein. — In Wirklichkeit war der Präsident bereits eine Leiche, als die Depesche vom Stationsorte abging. VI. Ilie neue Kammerjungfer. Die traurige Zeremonie war beendet, die Leiche des Baron Siegen-Wildschütz, welche man von Wol kenburgheim in die Residenz gebracht, war mit allen Ehren und der größten Prachtentfaltung zur Erde bestattet worden. Das heißt, man hatte die Leiche, nachdem dieselbe in der Wohnung des Präsidenten aufgebahrt worden und die kirchliche Einsegnung er folgt war, in der Ahnengruft des Erbgutes Wildschütz, das nur zwei Meilen von der Stadt gelegen war, beigesetzt. Die Nachricht von dem Unglücksfall hatte überall die größte Theilnahme erregt, geradezu erschütternd aber hatte sie in der Familie des Dahingeschiedenen gewirkt. Stella war dem Wahnsinn nahe und die Aeußer- ungen ihres Schmerzes so maßlos, daß man für ihr Leben fürchtete. Gräfin Elenora, obgleich tief gebeugt, ertrug doch auch diesen Schicksalsschlag mit der Würde und ge messenen Haltung, die ihrer Statur eigen. Obgleich nun die Fassungslosigkeit ihrer jungen Schwägerin der Gräfin tadelnswerth erschien, so fühlte sie sich doch tief gerührt durch die Wahrnehmung, daß Stella ihren Gatten so innig geliebt. Man hätte bei der jungen schönen Frau eine so zärtliche Liebe für den bedeutend älteren Mann kaum vorausgesetzt. Doktor Wilmert, der Schützling des Präsidenten, betrauerte den plötzlichen Hingang des verehrten Mannes tief und Auguste weilte fast den ganzen Tag über bei ihrer Freundin, deren zarte Gesundheit Schreck und Schmerz bedenklich erschüttert hatte. Die letzte Pflicht gegen den theuren Todten war erfüllt, der mit Blumen geschmückte Metallsarg stand in der Reihe der Särge, welche den Staub derer v. Siegen-Wildschütz bargen. Eine wunderbare Ruhe war hier in dieser stillen Gemeinde über die trau ernde Familie gekommen, die sich noch nicht sogleich von dem geweihten Raume zu trennen vermochte. Nur Stella starrte mit dem Ausdrucke scheuer Angst um sich und ein Fieberschauer schüttelte ihre Glieder. Da faßte Gräfin Elenora die Hand der gebeug ten Wittwe und erzählte ihr jene kleine, rührende Szene, die sie jüngst belauscht, da der theure Bruder so lange und sinnend in der Galerie vor den Porträts der Eltern verweilte, als habe ihn die Ahnung be schlichen, daß er bald mit den geliebten Vorangegang enen vereint sein werde. Elenora hatte gehofft, einen milderen Eindruck durch diese Erzählung auf Stellas Gemüth zu üben und war peinlich berührt, als die junge Wittwe mit einem Vcrzweiflungsschrei zu dem Sarge des Gatten stürzte und ihr Antlitz auf die duftenden Blumen spenden herabneigte. Niemand ahnte, was in diesem Moment in der Seele der stolzen Frau vorging! „Ich habe Dich gemordet", hauchte sie, „ich war es, die Dich aus dem Leben getrieben, und dieser Mord drückt mich zu Boden, nicht jener, den ich an dem Elenden begangen!" Erst dem milden Zuspruche der Gräfin Elenora gelang es, die schluchzende Frau einigermaßen zu be ruhigen und sie dazu zu bewegen, den düsteren Ort deS Todes zu verlassen. Am Spätnachmittag kehrte die Familie in die Residenz zurück. Gräfin Ringersheim hatte sich er boten, bei ihrer Schwägerin zu bleiben, doch diese, auf das höchste erschöpft, hatte versprochen, sich bald zur Ruhe zu begeben und so überließ man sie sich selbst. Auch Viktor Wilmert und Auguste waren in Wildschütz bei der Beisetzung der Leiche des Präsi denten gegenwärtig gewesen und mit den übrigen Trauergästen, den näheren Freunden des Hauses nach der Stadt gefahren. Fürst Wolkenburgheun, der sich nicht darüber beruhigen konnte, daß stin fröhliches Jagdfest diesmal einen so tragischen AuSgang genom men, war mit mehreren Herren der Jagdgesellschaft gleichfalls erschienen. Aus ihren Gesprächen ging