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gemeinsame Berührungspunkte mit den Nationalliberalen hat, wenn er zum größten Theile das billigt, was die Nationallibe ralen wollen, ja, wozu candidirt er denn dai Die Aufhebung des Sozialistengesetzes, welche er er strebt, ist es doch nicht allein, die ihn in den Gegen satz zu den Nationalliberalen bringt, da die Letzteren gleichfalls gegen die Ausweisung sind! Wenn Herr Krause in so vorsichtiger Weise die wahren Ziele der freisinnigen Partei mit dem Mantel der christlichen Liebe — um sein eigenes Wort zu gebrauchen — zu bedecken wußte, so glaubte Herr Hermes diese zarte Rücksichtnahme auf die Ge sinnung der überwiegenden Mehrzahl der Wähler nicht nehme» zu sollen und erging sich in unverhülltestem Berliner Localtone in den heftigsten Schmähungen gegen die Natioualliberalen. Eine unzählige Menge der abgedroschensten Versammlungsphrasen wurden mit dem Brusttöne der Ueberzeugung vorgetragen und in orakelhaften Wendungen wußte der Herr Aquariumsdirektor zu weißagcn, daß die National liberalen aus den Aussterbeetat gesetzt seien, daß sic ausgespielt hätten und baß aus den kommenden Wahlen kaum die Hälfte der jetzigen Mitglieder wieder hcrvorgehen werde. Wir können uns nicht versagen, einen Theil seiner scherzhaften Aeußernngen unfern Lesern aufzutischcn. Nach Hermes sind die National liberalen seit 1884 keine liberalen Männer mehr, sind bie Nationalliberalen Berräthcr au der liberalen Sache des Volkes, sind die Nationalliberalen Jasager, wozu man aber eben so gut Dienstmänner benutzen könnte. Ferner sei es ihm unverständlich, wie ein Nationalliberaler für das Sozialistengesetz habe ein treten können und weiter Hütten die 'Nationalliberalen auch gegen ihre Ueberzeugung dem Fürsten Bismarck nachgegeben. In diesem Tone ging es über eine Stunde fort und es versteht sich von selbst, daß alle die mit erhobener Stimme hinausposaunten Kraft stellen mit lauten Zurufen Seitens der anwesenden Parteigenossen begrüßt wurden. Nach eröffneter Diskussion begehrte Hr. Höhne das Wort, um gegen bie Herren Hermes und Krause Front zu machen und mit den nicht ganz parlamen tarischen Worten zn schließen: „Wir brauchen keinen Schulmeister!" Hierauf ergriff Redakteur Frisch von dieser Zeitung das Wort und hob hervor, daß es ihn wun dere, wie schnell Herr Hermes seine und der Frei sinnigen Vergangenheit vergessen habe. Er erläuterte dann, wie am lO. Mai 1884 in der dritten Lesung des Sozialistengesetzes von den 100 Freisinnigen, die damals der Reichstag zählte, 26 für die Verlängerung des Gesetzes und 61 gegen dasselbe gestimmt, 13 der Herren aber gefehlt hätten. Er erläuterte ferner an der Hand zweier Briefe, welche die demokratische „Volkszeitung" in ihrer Nr.15 von 1885 veröffent licht hat, daß die dreizehn Fehlenden nicht freiwillig gefehlt hätten, sondern durch Briefe, die der Herr Otto Hermes, derselbe Herr, der eben so emphatisch gegen das Sozialistengesetz gedonnert habe, im Namen der Parteileitung geschrieben habe, zum Fehlen in der Sitzung aufgefordert und so abkommandirt worden seien. Hr. Hermes wußte hierauf nur zu entgegnen, daß die ganze Angelegenheit Verleumdung sei und als ihm Redakteur Frisch erwiderte, daß der Brief vom ehemaligen freisinnigen Abgeordneten Kämpffer herrllhrte und daß Herr Hermes es mit diesem Herrn ausmachen möge, wenn er ihn der Verleumdung be zichtige, so forderte Herr Hermes zu wissen, ob sein Name aus dem Briefe hervorgehe und wer abkom mandirt habe. Der Redakteur Frisch wurde durch de» Schluß der Versammlung, wie oben geschildert, verhindert, die gewünschten Namen zu nennen, da es aber zur Klarstellung der Angelegenheit und zur Kennzeichnung des Herrn Hermes und seiner Kampfcs- weise dient, so wollen wir die sich auf Herrn Hermes beziehende Stelle des Briefes des alten Freisinnigen Kämpffer hier mittheilen. Kämpffer schreibt an den Redakteur Philipps vou der „Volkszeitung": „Otto Hermes, von mir (Kämpffer) befragt, in wessen Auftrag er diese Briefe geschrieben, antwortete: „Nun, in Eugens Namen." Hieraus geht, ohne eine Nebenbedentung zuzu lassen, klipp und klar hervor, daß Herr Hermes einem Fractionscollegen gegenüber, von dem er Wahlschein- lich erwartete, daß dieser die schmutzige Sache geheim halten würde, offen zugegeben hat, die Briefe, und zwar im Namen des Parteihauptes Eugen Richter geschrieben zu haben. Wie zu dieser notorischen Thatsache das Wort „Verlenmdnng" paßt, darüber weiß wahrscheinlich Herr Hermes selbst nicht Aus kunft zu geben. In sehr energischer Weise trat noch Herr Ludwig Jerrmann den Ausführungen des Herrn Hermes über Colonialpolitik, Marinewesen, Sozialistengesetz nnd mehrere andere sogenannte freisinnige Programm punkte entgegen, sodaß Herr Hermes alle Hände voll zu thun hatte, sich der auf ihn anstürmenden Gegner zu erledigen. In mehrfachen Ansprachen betonte Herr Jerrmann, daß Herr Hermes sorgfältig Alle« das, was die Nationalliberalen zur Milderung des Sozialistengesetzes gethan hätten, mit Stillschweigen übergangen habe, daß er mit Zahlen um sich herum geworfen habe, die ihm zu beweisen schwer fallen werde, daß er Marine und Colonialpolitik verquickt habe u. s. w. u. s. w. Herr Hermes erwiderte so gut oder so schlecht es ihm qnöglich war, bis gegen 11 Uhr die Versammlung in der oben geschilderten Weise geschlossen wurde. Der ganze Verlauf der Versammlung aber und namentlich das über alle Maßen heftige Auftreten deS Herrn Otto Hermes dürfte der freisinnigen Sache in den Augen jedes 'Nichtverblendeten mehr geschadet al« genützt haben. Tagesgerichte. — Deutschland. Berlin, 5. Februar. Der „Reichs- und Staatsanzeiger" bringt an der Spitze seiner heutigen Ausgabe folgende bedeutsame Allerhöchste Erlasse an den Reichskanzler und an den Minister der öffentlichen Arbeiten und für Handel und Gewerbe: Ich bin entschlossen, zur Verbesserung der Lage der deutschen Arbeiter die Hand zu bieten, soweit die Grenzen es gestatten, welche Mei ner Fürsorge durch die Nothwendigkeit gezogen wer de», die deutsche Industrie auf dem Weltmarkt kon kurrenzfähig zu erhalten und dadurch ihre und der Arbeiter Existenz zu sichern. Der Rückgang der heimische» Betriebe durch Verlust ihres Absatzes im Auslande würde nicht nur die Unternehmer, sondern auch ihre Arbeiter brodloS machen. Die in der internationalen Konkurrenz begründeten Schwierig keiten der Verbesserung der Lage unserer Arbeiter lassen sich nur durch internationale Verständigung der an der Beherrschung des Weltmarktes betheilig- ten Länder, wenn nicht überwinden, doch abschwächen. In der Ueberzeugung, daß auch andere Regierungen von dem Wunsche beseelt sind, die Bestrebungen einer gemeinsamen Prüfung zu unterziehen, über welche die Arbeiter dieser Länder unter sich schon internationale Verhandlungen führen, will Ich, daß zunächst in Frankreich, England, Belgien und der Schweiz durch Meine dortigen Vertreter amtlich an gefragt werde, ob die Regierungen geneigt sind, mit uns in Unterhandlung zu treten behufs einer inter nationalen Verständigung über die Möglichkeit, den jenigen Bedürfnissen und Wünschen der Arbeiter entgegenzukommen, welche in den Ausständen der letzten Jahre und anderweit zu Tage getreten sind. Sobald die Zustimmung zu Meiner Anregung im Prinzip gewonnen sein wird, beauftrage Ich Sie, die Kabinette aller der Regierungen, welche an der Arbeiterfrage den gleichen Antheil nehmen, zu einer Konferenz behufs Berathung über die einschlägigen Fragen einzuladen. Berlin, 4. Februar 1890. Wilhelm 3. U. Bei Meinem Regierungsantritt habe Ich Meinen Einschluß kuiidgegeben, die fernere Entwickelung unserer Gesetzgebung in der gleichen Richtung zu fördern, in welcher Mein in Gott ruhender Groß vater Sich der Fürsorge für den wirthschaftlich schwäch eren Theil des Volkes im Geiste christlicher Sitten lehre angenommen hat. So werthvoll und erfolgreich die durch die Gesetzgebung und Verwaltung zur Ver besserung der Lage deS Arbeiterstandes bisher getroffe nen Maßnahmen sind, so erfüllen dieselben doch nicht die ganze Mir gestellte Aufgabe. Neben dem weite ren Ausbau der Arbeiterversicherungsgesetzgebung sind die bestehenden Vorschriften der Gewerbeordnung über die Verhältnisse der Fabrikarbeiter einer Prüfung zu unterziehen, um den auf diesem Gebiete laut gewor denen Klagen und Wünschen, so weit sie begründet sind, gerecht zu werden. Diese Prüfung hat davon auszugchen, daß es eine der Aufgaben der Staats gewalt ist, die Zeit, die Dauer und die Art der Ar beit so zu regeln, daß die Erhaltung der Gesundheit, die Gebote der Sittlichkeit, die wirthschaftlichcn Be dürfnisse der Arbeiter und ihr Anspruch auf gesetzliche Gleichberechtigung gewahrt bleiben. Für die Pflege des Friedens zwischen Arbeitgebern u. Arbeitnehmern sind gesetzliche Bestimmungen über die Formen in Aussicht zu nehmen, in denen die Arbeiter durch Ver treter, welche ihr Vertrauen besitzen, an der Regelung gemeinsamer Angelegenheiten betheiligt und zur Wahr nehmung ihrer Interessen bei Verhandlung mit den Arbeitgebern und mit den Organen Meiner Regierung befähigt werden. Durch eine solche Einrichtung ist den Arbeitern der freie und friedliche Ausdruck ihrer Wünsche und Beschwerden zu ermöglichen und den Staatsbehörden Gelegenheit zu geben, sich über die Verhältnisse der Arbeiter fortlaufend zu unterrichten und mit den letzteren Fühlung zu behalten. Die staatlichen Bergwerke wünsche Ich bezüglich der Für sorge für die Arbeiter zu Musteranstalten entwickelt zu sehen, und für den Privatbergbau erstrebe Ich die Herstellung eines organischen Verhältnisse- Meiner Bergbeamten zu den Betrieben, behufs einer der Stellung der Fabrikinspektionen entsprechenden Aufsicht, wie sie bis zum Jahre 1865 bestanden hat. Zur Vorberathung dieser Fragen will Ich, daß der Staats rath unter Meinem Vorsitze und unter Zuziehung derjenigen sachkundigen Personen zusammentrete, welche Ich dazu berufen werde. Die Auswahl der Letzteren behalte Ich Meiner Bestimmung vor. Unter den Schwierigkeiten, welche der Ordnung der Arbeiterver hältnisse in dem von Mir beabsichtigten Sinne ent gegenstehen, nehmen diejenigen, welche aus der Noth wendigkeit der Schonung der heimischen Industrie in ihrem Wettbewerb mit dem Auslande sich ergeben, eine hervorragende Stelle ein. Ich habe daher den Reichskanzler angewiesen, bei den Regierungen der Staaten, deren Industrie mit der unsrigen den Welt markt beherrscht, den Zusammentritt einer Konferenz anzuregen, um die Herbeiführung gleichmäßiger inter nationaler Regelungen der Grenzen für die Anfor derungen anzustreben, welche an die Thäligkeit der Arbeiter gestellt werden dürfen. Der Reichskanzler wird Ihnen Abschrift Meines an ihn gerichteten Er lasses mittheilen. Berlin, 4. Februar 1890. Wilhelm U. — Die Kundgebung des Kaisers in der Arbeiterfrage beherrscht heute naturgemäß die politische Unterhaltung ausschließlich. In der Aner kennung der hochherzigen landesväterlichen Huld, die aus den Erlassen des jungen Herrschers spricht, sind alle Beurtheilungen einig, weniger tritt diese Har monie zu Tage in Bezug auf die Erwartungen und Hoffnungen, die man an die angeregten Maßnahmen knüpft. Es fehlt nicht an Stimmen, die eine ernste Mahnung nicht unterdrücken und der Befürchtung sich nicht entschlagen, das überaus schwierige und nicht unbedenkliche Unternehmen würde die Begehr lichkeit der Besitzlosen in ungezügeltem Maße steigern. Noch ist der Eindruck, den die für unser ganzes innere politische Leben hochbedeutsame Entschließung des warmherzigen Führers der Nation erweckte, zu frisch, zu unmittelbar, um ohne Leidenschaft die Tragweite abzuschatzen — darüber sind sich aber alle Hellen Köpfe klar, „gelingt'«, ist's ein unsterblich Unter nehmen." — Oesterreich. Der „Post" wird ans Wien telegraphirt. Die Erlasse Kaiser Wilhelm'« über die Arbeiterfrage machen auch hier großen Eindruck. Das „Wiener Tageblatt" legt dem Kaiser Wilhelm den Ehrennamen der Arbeiter-Kaiser bei und sagt, das Programm Kaiser Wilhelm'« gehe weit über alle offiziellen sozialen Reformprogramme hinaus, welche bis jetzt aufgestellt worden sind. Der anfangs auffällige Umstand, daß unter den Staaten, mit welchen eine internationale Verständigung über die Kaiserliche Anregung zu suchen ist, Oesterreich und Italien nicht genannt sind, wird dahin interpretirt, daß die Zustimmung dieser beiden Staaten zur ge planten Konferenz entweder schon gesichert ist, oder vermöge des bundesfreundlichen Verhältnisses als gewiß angenommen wird. — Die „Presse" meint, die Erlasse Kaiser Wilhelms sei eine politische That ersten Ranges, welche für die soziale Frage in Europa lange Zeit epochemachend sein werde. Für die Wahlen bildeten die Erlasse das Programm, durch welches die Arbeit auf den sozialen Gebieten zum Zwecke des Friedens vorgezeichnet werde. — England. London, 6. Februar. Die „St. James Gazette" bespricht die beiden Kaiser lichen Erlasse und erkennt in den Vorschlägen des Deutschen Kaisers ein bedeutsames Zeichen der Zeit. Obgleich die Engländer kaum vorschnell den Regierungen in den Arbeiterfragen entgegcnkommen würden, so sei doch unleugbar, daß der Strom der Zeit sich in der von dem Deutschen Kaiser angege benen Richtung bewege. Die „Pall Mall Gazette" bezeichnet die Erlasse als eins der bedeutendsten Er eignisse in der modernen Geschichte Europas. — Bulgarien. Aus Sofia eingetroffene Nachrichten melden, daß thatsächlich eine große Verschwörung entdeckt worden ist. Die Ver schworenen wollten in der Nacht zum Sonntag bei Gelegenheit eines Hofballes das Palais umzingeln, den Prinzen Ferdinand und die versammelten Mi nister gefangen nehmen und Mutkurow, sowie Stam- bulow erschießen. Die bei Major Panitza vorge nommene Haussuchung ergab sehr belastendes Ma terial. Man zweifelt nicht, daß auswärtiger Einfluß bei dieser Verschwörung mit im Spiele war. — Einem Privattelegramm aus Sofia zufolge hat thatsächlich ein Umsturzversuch schon stattgefunden und die Zahl der Verhafteten soll bereits 70 betragen. Loeale und sächsische Nachrichten. — Schönheide. Am Dienstag Nachmittag in der vierten Stunde wurde aus dem Laden des Uhrmachers Herrn Otto Geelhaar hier die Laden kasse mit 250 Mk. Inhalt gestohlen. Der Verdacht der Thaterschaft lenkt sich gegen eine im Anfänge der dreißiger Jahre stehende untersetzte Frauensperson, welche mit schwarzem Kopftuch, schwarzem Rock und roth und schwarz-karrirter Lamajacke bekleidet war. In Begleitung dieser Person befand sich ein unge fähr 5jähriger Knabe. — Borna. Eine nichtswürdige Ruch losigkeit ist in der Nacht zum Dienstag im hiesigen Bürgerschulgebäude begangen worden. Der 15jährige Kratz, der 15jährige Mätzold und der 10jährige Kropf haben sich Abends nach beendeter Fort bildungsschule im Schulgebäude einschließen lassen und hierauf ihr Zerstörungswerk begonnen. Kein Pult blieb unerbrochen, jedes Klassenzimmer wies Spuren der Anwesenheit der jugendlichen Verbrecher