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„Helene?" fragte er auf'S Höchste beunruhigt, doch in diesem Augenblicke sich über die Seltsamkeit der Art wundernd, mit der sie ihm diese Nachricht überbrachte. „Was ist geschehen?" Mary würdigte ihn keiner weiteren Antwort. Doch als er seine noch immer bewußtlose Frau aus dem Wagen hob und in's Haus trug, begegnete er auf'S Neue einem ebenso verächtlichen Blicke aus ihren blauen Augen. Nur einige Augenblicke ver gingen, ehe Helene die Augen öffnete und mit ent setzten Blicken um sich schaute. Doch Niemand war bei ihr, als ihr Gatte. „Was ist geschehen, liebste?" fragte er, nachdem sie sich ein Wenig erholt hatte. „Mary schien, wie ich aus ihrem Benehmen ersah, mich dafür verant wortlich zu machen. Hast Du ihr mein ganzes Sündenregister vorgclegt, um ihre Entrüstung zu er wecken, und sind cs Unterlassungs- — oder — Bc- gchungssündcn, die ich begangen, Geliebte?" „Keine von Beiden", antwortete sie schwach. „Du hast keine Sünden, sondern nur die Last der meinen zu tragen. Harry, wärest Du froh, wenn Du mich niemals gesehen hättest? Würdest Du Dich freuen, einmal beim Erwachen zu finden, daß das Alles nur ein Traum war, und ich gar nicht Deine Frau bin?" Er beugte sich zu ihr nieder und schloß ihr den Mund mit Küssen. „Meine Heißgeliebte, ich habe noch niemals auf gehört, Gott für das Geschenk Deiner Liebe zu danken!" sagte er ernst. „Bist Du nicht wohl, mein Herz? Möchtest Du fortgehcn? Soll ich eine Reise mit Dir machen?" Diese Idee erschien ihr wie ein Himmelsstrahl. Hinaus — fort von all' diesem Kummer — fort von dem Gespenste ihrer Bergangenheit — fort von — da endeten ihre Gedanken. Fort von Harvey! Ach konnte sie das ertragen? Wog ihr nicht ein Händedruck, ein geflüstertes Liebeswort von ihm Alles auf, was sie um seinetwillen leiden mußte? Nein, nein — sie konnte nicht fort! Und doch, wie konnte sie bleiben' da Tom Windom ihr jeden Tag, jede Stunde, die Larve vom Gesichte reißen konnte und sie zeigen, wie sie war! „Ja, reisen wir! Reisen wir!" rief sie bei diesem furchtbaren Gedanken angstvoll. „So bald, wie mög lich, Harry. Reisen wir, schon morgen — und über das Meer!" Er nahm eine Zeitung vom Tische. „Die Servia segelt Donnerstag über acht Tage, am 3. April", antwortete er. „Auf dieser wollen wir uns einschiffen." Helene schauderte, als er das Datum nannte, denn an diesem Tage war der auf Mary Horn's "Namen gefälschte Wechsel fällig. 19. Kapilel. Ein gequältes Herz. „Du gehst doch mit uns Mary?" fragte Harry, als sie am nächsten Morgen den Plan beim Frühstück besprachen. „Ich kann den Onkel nicht verlassen," antwortete das Mädchen mit einem innigen Liebesblick auf den alten Man», indem sie tapfer das bange Klopfen ihres Herzens bei dem Gedanken, wie öde in seiner Abwesenheit das Haus sein würde, verbarg. Es schien ihr, als ob selbst sein Fehler und d e That- sache, daß sie ihn vor de» Folgen desselben schützen konnte, ihn ihr noch theuerer gemacht hätte; und da Harvey Barclay so unbarmherzig den Schleier von ihrem kleinen Geheimnisse gerissen und cs so vor ihrem eigenen Herzen bloßgelcgt hatte, machte der Gedanke, Harry selbst, ohne daß er cs wußte, zu dienen, ihren Kummer erträglicher und linderte den unaufhörlichen Schmerz ihres armen Herzens. „Doch Du begleitest uns wenigstens bis Newyork? Du wirst uns wenigstens dort einschiffen sehen und glückliche Reise wünschen? Du und Papa, Ihr müßt Beide kommen!" „Wollen wir, Onkel?" fragte Mary lächelnd. „Wenn Ihr die Abreise acht Tage anfschiebt," antwortete er, „sonst kann ich nicht. Dieselbe er scheint mir ohnehin," fuhr er fort, „so Plötzlich. Ich kann noch kaum daran glauben; doch in dieser Woche stehen für Mary wichtige Interessen auf dem Spiele, deshalb kann ich nicht fort. Bei der Gelegenheit, mein Sohn, wie viel Geld wirst Du denn brauchen? Ich muß das vorher besorgen." „Gar kein«, Vater," erwiderte Harry leichthin. „Ich habe kürzlich selbst ein gutes Geschäft gemacht." Er stand auf und trat zum Kamine, um ein Streich hölzchen zu suchen und sich die Cigarre anzuzünden, welche er in der Hand hatte. Mary beobachtete ihn und ihr Herz krampfte sich zusammen, so daß sic einen wirklich körperlichen, fast unerträglichen Schmerz fühlte. Wie konnte er so in der Anwesenheit feiner Frau sprechen, der Frau, welche bei dem Gedanken an seinen Fehler so furchtbar litt? Und sein Ton war so unbesorgt, so leichtherzig, er sah so hübsch und so sorglos aus; ein selbstzufriedenes Lächeln spielte um seine Lippen, eS war fast, als ob er sich seiner Schandthaten freue. War er denn immer, immer so gewesen, als sie ihn noch wie die Verkörperung alles Guten und Schönen betrachtete. Sie schauderte, al« ihr Her; ihr diese Frage be antwortete. Helene stand auf und trat zu ihm, und als er ein Zündhölzchen anstrich, legte sie ihm einen Augen blick die Hand auf die Schulter und flüsterte ihm einige Worte in das Ohr. „Ich bitte Dich, verschiebe unsere Reise nicht, Harry!" sagte sie dringend. „Ich bin darin aber gläubisch." „ThörichteS Weibchen!" antwortete er zärtlich, doch laut und legte den Arm nm ihre schlanke, elastische Taille. „Ich glaube, Vater, wir müssen am Dritten abrcisen", antwortete er, sich zu dem alten Manne wendend. „Doch wir wollen Mary mit uns nehmen, und wenn wir abrcisen, kann sie bei Ewalds bleiben, bis Du sie abholst." „Nein, ich bleibe bei dem Onkel. Das ist ja", fügte sie mit erzwungenem Lächeln hinzu, „eigentlich Eine Hochzeitsreise, und ich glaube kaum, daß Ihr mich vermissen werdet." Nach diesen Worten eilte sie, ihrer selbst nicht sicher, da ihr war, als ob sie ersticken sollte, aus dem Zimmer. Die Tage bis zu der zur Abreise festgesetzten Zeit gingen einer nach dem anderen vorüber und schienen alle zu kurz für die Vorbereitungen zu einer so über eilten Abreise, doch die Zeit glich ihre Versänmniß durch die Länge der "Nachtstunden aus, welche die beiden Frauen in ruhelosem Wachen zubrachten. Harry hatte, als er ruhig schlafend dalag, keine Idee davon, daß seine Frau neben ihm mit weit geöffneten Angen und fest gefalteten Händen lag, als ob sie den Sturm der Furcht und Aufregung in ihr zurückdrängen wollte. Manchmal war sic fast versucht, ihn aufzuwecken und ihn zu sagen, sie wolle nicht gehen; ja, einmal rief sie laut seinen Rainen, doch als er verwundert den Schreckensruf, der ihn aufgeschreckt, beantwortete, schien das Gesicht des Mannes, der sie auf dein Platze angesprochcn, vor ihr in der Luft zu schweben und ihr ein spöttisch trium- phirendcS Lachen in den Ohren zu klingen, und sie antwortete nur, daß sic im Schlafe gesprochen, schauderte auch nicht zurück, als er einen zärtlichen, beruhigenden Kuß auf ihre lügnerischen Lippen drückte. Endlich dämmerte der Morgen, an dein sie ihre Reise antreten sollten, der Morgen des 2. April. Sie wollten die Nacht in "Newyork bleiben und um vier Uhr des folgenden "Nachmittages sollte das Dampfschiff abgehen. Helene hatte Harvey Barclay nur einmal gesehen, er hatte gegen ihre Absicht nichts eingcwendet, sondern hatte dieselbe für recht klug erklärt, trotzdem, wie er sagte, er sie jeden Augenblick vermissen würde. „Aengstigc Dich nicht um den Wechsel," fügte er hinzu, „ich glaube, ich werde cs schon in Ordnung bringen können, Helene; doch iin schlimmsten Falle, wenn cs gilt, entweder Deinen Gatten anznklagen oder uns, so wirst Du hoffentlich nicht zögern, Theuerste, wohin Du den Schlag richten mußt ? Ich kann doch auf Dich rechnen?" „Ja," antwortete sie bebend. Ihre Lippen waren bleich und sie hatte das un willkürliche Gefühl, daß in ihrer ganzen Vergangen heit noch kein so schwarzer Fleck zu finden wäre, wie ihn vielleicht die Zukunft würde aufwcisen können. Sie hatte diesem Menschen die Zügel ihrer Leiden schaft anvertraut und obgleich sie wußte, daß er schlecht und gewissenlos war, hätte sic dieselben doch nicht zurücknehmen mögen, selbst, wenn sie gekonnt hätte. An diesem Tage kam er, um wie die Anderen ihr Lebewohl zu sagen, und sic konnte ihn nur einen Augenblick allein sprechen. „Morgen?" flüsterte sic. „Ich konnte den Wechsel nicht einlösen," antwortete er. „Der Schlag muß fallen, doch," fügte er lächelnd hinzu, „ich glaube kaum, Helene, daß wir die Opfer sein werden. Verzweifelte Krankheiten verlangen ver zweifelte Mittel, meine Liebe, und diese Krankheit ist sehr gefährlich. Wir dürfen bei den Mitteln zur Heilung nicht wählerisch sein." Ehe sie ihm antworten konnte, trat Mary ins Zimmer. Sie begrüßte ihn kalt, doch als er ging, nahm er ihre widerstrebende Hand, hielt sie einen Augenblick in warmem Drucke und sagte mit so leiser Stimme, daß nur ihr Ohr allein die Worte auf fangen konnte: „Vielleicht, Miß Horn, bedürfen Sie doch noch einmal der Freundschaft, die ich mir so thörichter Weise verscherzt habe. Wenn die Zeit mir Recht geben sollte, werde ich eS als das schönste Zeichen Ihrer Vergebung für einen Fehler, den ich mir selbst niemals vergeben kann, betrachten, wenn Sie sich meiner erinnern." Ehe sie noch den Sinn seiner Worre recht erfaßt hatte, verbeugte er sich und ging. Doch die Erinner ung an seine Worte blieb und ließ eine tiefe Ver stimmung, ein Gefühl der Unbehaglichkeit, ein unbe stimmtes Vorgefühl von herrannahendem Unglück zurück, welches den ganzen Tag auf ihr lastete. Als Helene das Zimmer verließ, stand sic von ihrem Sitze auf, ging zum Kamine und starrte einen Augenblick in das rothgoldene Flammenbild, dann legte sie mit einem plötzlichen Aufschluchzen den ge beugten Kopf auf die auf den Kamin gestützten Arme. Sie hörte auf dem weichen Teppich nicht den Schritt, der hinter ihr sich näherte, obwohl derselbe fest und männlich >var, bis ein Arm ihre Taille umschlang, und eine Stimme, die jeden Nerv in ihr erbeben machte, ihren Namen mit zärtlichem Ausdrucke fragend flüsterte. (Fortsetzung folgt.) Wie lange währt ein Traum? Es spricht die höchste Wahrscheinlichkeit dafür, ja Erfahrung und Selbstbeobachtung bestätigen eS geradezu, daß Traum-Begebenheiten in Wirklichkeit nur von sekunden-, höchstens minutenlanger Dauer sind. Die Täuschung hesteht darin, daß die betr. Erlebnisse in Wirklichkeit so lange dauern würden und wir nunmehr die im wachen Leben gemachten Erfahrungen in das Traumleben mit hinübernehmen. — I)r. F. Scholz berichtet aus seinen Erfahrungen Folgendes: "Nach schweren körperlichen Ermüdungen und einem geistig wie gemüthlich sehr anstrengenden Tage begab ich mich, nachdem ich noch die Uhr auf gezogen und auf das Nachttischchen gelegt hatte, zu Bette und schlief bei noch brennender Lampe sofort ein. Alsbald befand ich mich ans hoher See an Bord eines mir bekannten Schiffes. Ich war wieder jung und stand am Ausguck. Ich hörte das Meer rauschen und goldene Lichtwolken umwogten mich. Wie lange ich so gestanden, weiß ich nicht; aber es war eine unendliche Zeit. Da änderte sich die Scene. Ich war an Land und meine längst verstorbenen Eltern kamen, mich zu begrüßen; sie führten mich zur Kirche, wo lauter Orgelton erklang. Ich freute mich, wunderte mich aber zu gleicher Zeit, dort meine Frau und Kinder zu sehen. Der Geistliche bestieg die Kanzel und predigte; aber ich konnte nichts verstehen, da die Orgel immer noch gespielt wurde. Ich faßte nun meinen Sohn an der Hand, um mit ihm den Kirchthurm zu besteigen; aber wiederum verwandelte sich die Scene. Statt neben meinem Sohne stand ich neben einem mir früher bekannten, in Wirklichkeit längst verstorbenen Offizier. Ich bin als Militärarzt beim Manöver und wundere mich eben darüber, daß unser Major ein so jugendliche« Aussehen hat, als ganz in meiner "Nähe unverniuthct eine Kanone ab gefeuert wird. Erschrocken fuhr ich in die Höhe, wache auf und merke, daß der vermeintliche Kanonen schuß seine Ursache in dem Oeffnen der Schlafstuben- thür, durch die Jemand eingetreten, findet. Wahre Ewigkeiten hatte ich in dem Traume durchlebt; aber al« ich auf der Uhr nachsah, war seit dem Einschlafen nicht mehr als — eine Minute vergangen, viel kürzere Zeit, als man zum bloßen Erzählen braucht." So wenig Merkwürdiges dieser sonst sehr gewöhnliche Traum zeigt, so giebt er doch ein vorzügliches Beispiel ab für den hohen Grad von Täuschungen, denen Träume bezüglich ihrer Zeitdauer unterliegen. Auch sind Beobachtungen, aus denen sich ebenfalls die außerordentliche Kürze der Zeit ergicbt, innerhalb deren ein Traum im Gehirn des Schlafenden sich abspielt, wiederholt gemacht worden. "Napoleon I., der bei der Explosion der Höllenmaschine im Wagen schlief, durchlebte in dem unendlich kleinen Zeiträume zwischen der Wahrnehmung des Knalles und dem Erwachen den Uehergang über den Tagliamento und die Kanonade der Oesterreicher und erwachte mit dem Ausrufe: „Wir sind unterminirt!" Ebenso wie im Traume, hat man auch bei außerordentlichen Vor gängen, so z. B. in Fällen von dringender Lebens gefahr, beobachtet, daß die seelischen Prozesse mit un gewöhnlicher Schnelligkeit sich abspielen. Von einer Dame, die dem Ertrinken nahe war, wird berichtet, daß sie nach ihrer eigenen Mittheilung in dem Zeü- raume von 2 Minuten ihre ganze Vergangenheit noch einmal durchlebte, wobei die unbedeutendsten Details sich vor ihrer Phantasie ausbreitetcn. Scholz nimmt an, daß in Augenblicken großer Lebensgefahr das Seelenleben sich gewissermaßen concentrirt und eine große Fülle unbewußter Vorstellungen sich plötzlich an die Oberfläche drängen; andererseits dürfte eine Erklärung für die außerordentliche Schnelligkeit, mit der die verschiedenen Vorstellungen im Traume auf einander folgen, wohl in dem Umstande zu suchen sein, daß mit der Ausschaltung gewisser Nervencentren (Ganglien), wie sie allem Anscheine nach im Traume stattkindet, die Bahn, welche der Nervenstrom im Gehirn zurückzulcgcn hat, eine so viel kürzere und der zu überwindende Widerstand ein so viel geringerer ist, als im wachen Zustande, wo jene Ganglien, in welchen die höheren seelischen Thätigkciten sich ab spielen, als ebcnsoviele die Fortleitung des Nerven stromes verzögernde Zwischenstationcn in dem Ge hirnapparat eingcfügt sind. Druck und Verlag von E. Hannebohn in Eibenstock.