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Das Schicksal würde zweifellos andere Mittel und Wege entdeckt haben, doch sie würde vielleicht weniger gelitten haben, Ware sie nicht ein so direktes Werkzeug gewesen. Harvey Barclay hatte gut berechnet, daß, wenn er nur erst einmal in dem Hause Fuß gefaßt hätte, er das Uebrige Helene überlassen könne. Ehe der Winter noch halb vorüber war, begann selbst Harry zu glauben, daß seine Abneigung nur eifersüchtige» Borurtheil gewesen sei. Bei der ersten Nennung von Barclay's Namen hatte er sich offen gegen sein Koni men empört, doch Helene hatte die Arme nm seinen Hals geschlungen, ihm zugeflüstert, daß jetzt Eifersucht zu entfalten, ein Beweis von Mißtrauen gegen sie sei. „Das konntest Du in früheren Zeiten, Harry, ehe ich Deine Frau war, jetzt jedoch geht das nicht. Willst Du Deinem Vater und Mary sagen, daß Du noch ans einen Mann eifersüchtig bist, der mein Freund war, als ich der Freunde so dringend bedurfte'? Ich habe ja während aller dieser Atonale nicht an ihn gedacht; er kommt auf Mary'S Einladung, nicht ans die meine, Lasse ihn kommen, Harrt-! Vergönne mir die Genugthnnng, zn wissen, daß mein Gatte mir so vollkommen vertraut, daß er keinen Mann fürchtet." Und so begrüßte Harry Rehnold, im Anfänge kalt, doch nach und nach immer wärmer, den Mann in seinem Hause, der sein tödtlicher Feind werden sollte. Er glaubte, ihn zweifellos in seiner eifersüchtigen Wuth falsch beurtheilt zu haben und fühlte deshalb fast unbewußt deu Wunsch, ihn für diese Ungerechtig- leit zu entschädigen. Niemals war Helene liebevoller, zärtlicher gewesen, als während dieser Monate, und er fühlte immer mehr, wie schweres Unrecht er ihr augethan. Auch die Ge sellschaft hatte die sonderbare» Gerüchte über ihr früh eres Vebeu vergessen und die Arme zu ihrem Empfange geöffnet. Der finstere Schatten von der Stirn seines Vaters war verschwunden, Marys Lachen tönte durch das Haus und seine Ohren waren nicht scharf genug, zu entdecken, daß es der früheren Fröhlichkeit ermangele und daß es manchmal wie von znrückgehaltenen Thrä- nen erstickt klang. Er glaubte, daß die Ruhe vollkommenen Friedens dem Sturme gefolgt war und ahnte nicht, daß es die Windstille vor neuem Sturme sei. „Ich komme morgen um fünf Uhr und möchte Dich allein sprechen." Diese Worte standen auf dem Stückchen Papier, welches Harvey Barclay geschickt Helene Reynold in die Hand drückte, als er ihr gute Nacht sagte, und der Gedanke daran war der erste, als sic am nächsten Morgen die Äugen öffnete. Fortuna und ihre eigene Geschicklichkeit begünst igten sie. Sic war allein im Wohnzimmer, als der Besucher kam. „Ich bin das einzige gegenwärtige Familienmitglied," sagte sie in Gegenwart des Dieners, als sic ihn begrüßte, dann, als die Portiere hinter Letzterem zugefallen war, winkte sie ihm, sich auf den neben ihr befindlichen Sitz zu setzen. „Du wolltest mich sprechen?" fragte sic in leisem Tone, indem sie ihre weiße Hand auf seinen Arm legte. „Warum?" Er wandte sein Gesicht, dessen lächelnde MaSke verschwunden war, zu ihr und sie bemerkte, wie blaß nnd eingefallen er aussah. „Wünsche ich nicht immer Dich zu sehen?" ant wortete er, ihre Hand mit der seine» bedeckend. „O, Helene! Solche Augenblicke, wie diese, sind selten, Augenblicke, in denen ich zu Dir um Rath und Theil- nahme kommen kann ; doch dieses Mal verlange ich noch mehr. Erinnerst Du Dich, daß ich Dir einmal sagte, wenn ich jemals so tief sänke, eine Frau um Hilfe zu bitten, daß Du die Frau sein solltest? Nun wohl, Helene, dieser Moment meiner Entehrung ist gekommen: ich muß bis Donnerstag fünftausend Dollars haben, oder ich bin ruinirt nnd entehrt." „Fünftausend Dollars, Harvey? Warte! Laß mich nachdenken, wie und woher ich eine solche Summe schaffen kann. Armer Freund! Wozu brauchst Du denn das Geld so nothwendig?" „Ich verlor es ini Spiele, Helene. Du siehst, ich verberge Dir nichts: doch ich brauchte nothwendig Geld, und suchte mein Glück. Nun, ich verlor und gab einen Wechsel für den Betrag; wenn ich den selben nicht bezahlen kann, bin ich entehrt." „O Harvey, wenn es weniger wäre, könnte ich es bewerkstelligen, doch so —" „Kannst Du nicht!" schrie er aufspringend. „Das hätte ich wissen sollen. Ich war ein Narr, zu glauben, daß Du Deinen jetzigen Frieden und Deine Sicher heit aufs Spiel setzen würdest, nm ein sinkendes Schiff zu retten, weil Du einmal mit denselben eine ange nehme Fahrt gemacht. Du hast recht, ganz recht. „-Nun, mein Weg war also umsonst, so gehe ich wieder." „Bleibe, Harvey," ries sie ebenfalls aufstehend, wahrend ihre Hand noch immer auf seinem Arme nihtc. „Lasse mich Nachdenken, hilf mir denken. Ich will Alles thun, Alles um Dir zu dienen. O brauche ich Dir denn erst diese Versicherung zu geben? Doch vergiß nicht, Harvey, daß Du selbst mich über das Vermögen meines Mannes getäuscht hast, Du warst es, der mir sagte, daß er selbst ein großes Vermögen besitze. Wußtest Du nicht, daß dies nicht der Fall war? Die Summe, die Du brauchst, verschlingt fast sein ganzes Vermögen." „Aber sein Vater ist reich?" „Das glaubt man nur, Mary Horn's Geld ist es, daß den Haushalt bestreitet -- Mary Horn's Geld ist cs, daß de» Ruin von Edgar Reynold fern hält! — Ich — ich kann Dir eS jetzt nicht erklären, es ist eine zu lange Geschichte. O Harvey, ich denke manchmal, daß Alles, was ich errungen, das nicht aufwiegt, was ich verloren!" „Laß die Vergangenheit, Helene, — wir haben jetzt mit der Zukunft, — mit der Gegenwart zu thun. Sie ist kalt nnd unfreundlich und finster genug, das weiß Gott! Kannst Du von Miß Horn nicht das Geld verlangen? lieber deren Vermögen ist doch kein Zweifel vorhanden?" „-Nein! Sie ist reich — so reich, daß wenn wir, — Du und ich, Harvey — nur den fünften Thcil ihres Geldes hätten, nur heute glücklich sein könnten." Ein flammender Blitz lcnchtete in Harvey Bare- lay's Augen ans, doch Helene sah ihn nicht; sie war in Gedanken versunken. „Du sollst das Geld haben, Harvey," sagte sie endlich. „Komme morgen um dieselbe Stunde und eS wird bereit sein. 'Nein, danke mir nicht! Oder, warte, Harvey! Danke mir dadurch, daß Du mir versprichst, Dich nie mehr einer solchen Gefahr aus zusetzen. Ein anderes Mal wäre ich vielleicht nicht im Stande, Dir zu dienen." „Ich verspreche cs, Helene," antwortete er, ihre Hand an die Lippen drückend nnd plötzlich, wie von einem neuen Gedanken überwältigt, hinzufügend: „Du verachtest mich nicht zu sehr, Helene?" „Dich verachten!" wiederholte sic, die Blicke zu ihm aufschlagend und ihn mit einem Ausdrucke be trachtend, wie Harry Reynold ihn noch nie bei ihr gesehen hatte, ein Blick, der diesem eine Enthüllung über die Frau gewesen wäre, welche seit sechs Mo naten seine Gattin war. „Dich verachten, Harvey! Ich habe von Frauen gelesen, welche, von den ge liebten Männern zu Tode geschlagen, sich bis zu deren Füßen geschleppt hatten, um die Hand küssen zu können, die ihnen den Tod gab. Auch ich könnte, glaube ich, Dir eine solche Frau sein!" „Meine geliebte Helene!" flüsterte er glühend und drückte sie einen Augenblick an'S Herz. Doch als er das Zimmer verlassen hatte, ver schwand der Ausdruck der Zärtlichkeit und seine Züge wurden hart nnd streng. „Ich ninß den Streich bald ausführen!" mur melte er. „Dieses Geld kann meinen nnanöbleib- lichen Ruin nur eine kurze Zeit aufhaltcn. Und was wird Helene thun, wenn sie meine Absicht kennen lernt? Ach, von ihr habe ich nicht viel zu fürchten, einige Schatten der Vergangenheit, die ich heraufbe schwöre, müssen sie zum Schweigen bringen. Und sie liebt mich! Aber das Mädchen? Schon flattert aie Motte um das Licht. Ich muß den Streich bald aasführen!" wiederholte er. „Und wenn Mary Horn erst meine Frau ist, denke ich, können wir unser Geld besser verwende», als nm einen Haushalt aufrechtzu erhalten, der uns nichts angeht." Mitternacht Ivar schon vorüber, als an Mary Horn's Thür leise geklopft wurde. Das Mädchen, welches sich erst vor einer halben Stunde in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, stand auf und öffnete. Zu ihrem Erstaunen fand sic Harry's Frau vor der Thür stehen: das schöne Gesicht war blaß, und ein Schleier des Knmmers schien die goldglänzenden Augen zu umfloren. „Darf ich hincinkommcn?" fragte sie mit der ängstlichen Ungewißheit eines bittenden Kindes. Mary fühlte eine Art Mitleid; sie dachte in diesem Augen blicke, daß sie sich vielleicht zu kalt gegen die junge Frau benommen und sich nicht genug bemüht hätte, sie liebzugcwinneu, sonst würde cs ihr schon gclnngen sein, deshalb streckte sie ihr lächele die Hand ent gegen und nahm die kalten Finger, welche bei ihrem Drucke zitterten. „Gewiß darfst Du hereiukommcn," antwortete sie. — „Schläft Harry, daß Du ihm davonläufst?" „Ja, er schläft, doch ich, ich konnte nicht schlafe». O Mary, cs ist um Harry'S willen, daß ich hier bin," und sic fiel, statt sich auf den Stuhl zu setzen, den Mary ihr geboten hatte, neben derselben auf die Knie und verbarg ihr Gesicht in den Falten ihres Kleides. „Helene, was ist geschehen?" fragte Mary mit zitternder Stimme. Eine kurze Zeit konnte sie keine Antwort erlangen, doch endlich erhob die junge Frau den Kopf. „Ich habe Dir eine traurige Geschichte zu erzählen, Mary, eine Geschichte, die Du gewiß niemals erwartet haben würdest. Ich, ich mußte mein schweres Kreuz ganz allein tragen! Ich weiß cs nicht, weshalb ich heute zu Dir komme, doch ich bin in Verzweiflung Mary, wußtest Du, oder hattest Du eine Ahnung davon, daß Harry — spiele?" (Fortsetzung folgt.) Die Neptunstaufe. ES ist ein alter Semannsbrauch, daß, wenn ein Schiff die Linie, d. h. den Aeqnator passirt, alle Matrosen am Bord, welche zum ersten Mal die Linie passiren, ein scharfes Examen eines Matrosen, als Meeresgott verkleidet, bestehen müssen, das in der Regel je »ach dem Ansehen der Person mit einer für den Betroffenen sehr mißlichen Taufe endet. Ein Reisender, der die Fahrt nach Ostindien machte, giebt davon folgende anschauliche Erzählung. Er sagt: Am 1. Oktober passirtcn wir deu Aequator. Neptun hatte sich eingefunden. -Als es dämmerte, hörten wir von ganz vorn am Bugspriet gleichsam aus den Wetten heraustönend, eine tiefe Baßstimme das Schiff mit dem gewöhnlichen Seemannsgruße anrufen: „8>np uiioz'!" Der Obersteuermann übernahm vom Quarter deck her mit einem Sprachrohre die Beantwortung der verschiedenen Fragen, die jetzt über das Woher, Wohin und den Zweck der Reise an unö gerichtet wurden. Zwei Schiffsjungen, die ihre erste Seereise machten, horchten neugierig und spähten vergebens über die Schiffswand, um Neptun zu sehen. Endlich ließ die Stimme vom Bugspriet her sich folgender maßen vernehmen: „Ich sehe ans meinem Register, daß sich am Bord dieses Schiffes einige befinden, die mein Gebiet noch nicht betraten, und die Ordnung erfordert, daß ich sie, wie es sich gebührt, cintrage." Eine athletische Figur in furchtbar großen Wasser stiefeln, auf dem Kopfe eine langherabhängende Perücke, verfertigt aus Seegras und den zottigen Fäden des sogenannten Schiffschwabbers, womit das Verdeck auf- getrocknet wird, wenn es schmutzig ist, mit falscher Nase und bunt bemaltem Gesicht, stieg über die Schanzkleidung; in der -Rechten ein drei Fuß langes Sprachrohr, unter dem linken Arm einige dicke Bücher, aus den Stiefeln ragte ein ungeheurer hölzerner Zirkel hervor. Ein schnödes Weibsbild, in deren schmutzigen Kleidern und angenialtem Gesicht ich nur mit Blühe unser» Bootsmann erkannte, folgte ihm — auf den Armen einen lang ausgewachsenen Lümmel in Windeln von Segeltuch eingewickelt, die von Neptun als seine Frau und ihr Kleines vorgcstellt wurden. Auf dem Hinterthcile des Schiffes angelangt, wo sich die ganze Mannschaft versammelt hatte, holte Neptun eins seiner kolossalen Bücher hervor, schlug es auf nnd breitete eine alte Seekarte auf dem Verdeck aus. „Steuermann, was ist Eure Länge und Breite?" wurde nun gefragt. Sie wurde ihm angegeben. Brummend holte -Neptun seinen riesigen Zirkel aus dein Stiefel hervor, zirkelte damit auf der alten Karte herum und sprach endlich, indem er plötzlich ein Loch hindurch stieß! „Ost-Süd-Ost! Müssen ein paar Striche westlicher steuern," brummte -Neptun, „werden bessere Brise kriegen." Damit klappte er seine Karte zusammen und steckte deu Zirkel in deu Stiefel. „Ich sehe schon, meine neuen Weltunisegler," wandte er sich jetzt an die vorerwähnten zwei Schiffsjungen und einen alten Matrosen, der schon 12 Jahre die See gepflügt hatte, aber noch nie an dieser Stelle ge wesen war, „müssen nähere Bekanntschaft machen." -Name, Geburtsort und Alter eines jeden wurden nun in ein zweites großes Buch eingetrageu und sie selbst einer nach dem andern, nachdem inan ihnen die Äugen verbunden, durch die Matrosen, welche bereit« in -Neptuns Mysterien eingcweiht waren, nach dem Vorderkastell gebracht und dort auf eine Planke ge setzt, die über einem großen Kübel mit Wasser schwebte. Mil einer abscheulichen Mischung von Stiefelwichse, Thran und Ruß wurde ihnen in dieser Stellung das Gesicht mit einem Anstreichpinscl beschmiert. Neptun holt aus seinem andern Stiefel einen langen Tonnen reifen, der die Stelle eines Rasiermessers vertrat und schabte damit unbarmherzig auf den Gesichtern umher. Als die Operation beendigt war, zog man plötzlich die Planke weg, auf der die drei Neulinge saßen, sodaß sie in den untergestellteu Kübel fielen nnd dort die eigentliche Neptnntanfe erhielten. -Nachdem alle diese Feierlichkeiten beendigt waren, stellte sich Neptun mit seiner Familie anfs nene dem Kapitän vor. „Ihr könnt nnn nihig Eure Reise fortsetzeu, Kapi tän," redete er ihn an. „Alles ist in Ordnung und Neptun wünscht Euch glückliche Fahrt. Er wandte sich nun zu gehen, als sein Kleines auf eine nicht sehr harmonische Weise ansing zu schreien und zu brüllen. „Ach Himmel!" sagte Neptun, indem er sich wieder umwandte, „so kann ich ja gar nicht einmal Weggehen, sonst brüllt mir der Bengel da unten die ganze Nacht was vor! Eine kleine Bowle Punsch oder Grog würde ihn gewiß bald zum Schweigen bringen, denn das ist sein liebstes Getränk." Der Kapitän verstand den Wink und nickte. Eine Viertelstunde später ging der Kajü tenwärter mit einer dampfenden Bowle über das Verdeck und bald darauf tönte Hurrah und froher Jubel durch das Zwischendeck. Druck und Verlag von S. Hannebotzn in Eibenstock.