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„Wenn Du Dich meiner schämst, Baier, so will ich fortgehcn. Ich habe Dich sagen hören, daß noch kein Bendlin den Namen entehrt hat. Ich wußte nicht, daß c« eine Schande sei, Mr. Arker zu lieben. Auch Mr. OSdorne hält eS für unrecht — wie er mir sagte. Doch Mr. Arker liebt auch mich, Vater; schämst Tu Dich deshalb? — O, ich wünschte, ich wäre todt!" „Komme nach Hause, dort wollen wir darüber sprechen," entgegnete Bendlin schon weniger zornig. ES that ihm leid, daß er das Mädchen erschreckt hatte; er sah, daß sie schuldlos war und umsomehr wuchs seine Empörung gegen denjenigen, der mit ihrem Glücke ein frevelndes Spiel trieb. Fünftes Capitel. Die Hütte im Walde. David Bendlin war zärtlich und liebevoll gegen seine Tochter, als er sie nach Hause in das schattige, rosenduftige, kleine Wohnzimmer geführt hatte, in dem ihr Piano stand, beladen mit den auSerwähltesten Noten; Gemälde und geschmackvolle Möbel bekundeten seine Zuneigung für das Mädchen, da» hier lebte. In Wahrheit that ihm da» Herz weh um ihretwillen; auch fühlte er, daß, wenn er jetzt streng gegen sie wäre, er sie zu irgend einem unüberlegten Schritt treiben — ja, vielleicht au» seinem Hause und seiner Obhut verjagen würde. Er setzte sich in den großen Lehnstuhl, nahm sie auf sein Knie und machte ihr, indem er ihre Wange an seine Schulter lehnte, in zarter Weise klar, daß sie nur eine» Verwalter» Tochter sei, und daß, ob gleich der junge Erbe sie für den Augenblick vielleicht liebe und bewundere, — da sie jung und hübsch sei — er sie doch nicht achte, wie die feinen Damen, die in seiner Welt leben; und daß er, ihr Vater eS al» eine Beleidigung betrachte, daß Mr. Arker nur im Geheimen mit ihr so freundlich wäre, da er sie doch vor seinen vornehmen Gästen nicht al« seines gleichen behandle. Er bemühte sich, sie nicht zu verwunden, er suchte vielmehr ihren Stolz aufzustacheln; er liebkoste sie und schaukelte sie in seinen Armen, bis sie sich in den Schlaf schluchzte. „Sie ist noch mein kleine» Schoß kindchen," seufzte er, als er auf das liebliche Gesicht herniedcrblickte, das in seiner reichen Schönheit, die langen Wimpern von Thränen bethaut, welche die sammtnen Wangen näßten, in seinen Armen ruhte. „ES ist keine Todeswunde, die sie erhalten hat, sie ist ein Kind noch und wird vergessen." Er wußte eS nicht; noch vor einer Woche war Aurelie ein Kind gewesen, ein Schmetterling unter Schmetterlingen, eine Rose unter den Rosen — dieser eine Nachmittag hatte sie zum Weibe gereift. Als sie aus diesem unruhigen Schlafe der Erschöpfung auf wachte, erzwang sie ein Lächeln, welche», zum ersten Male in ihrem kurzen Leben, falsch war. Mit heiterer Miene bereitete sie den Thee und drang ihrem Vater selbst eine dritte Schale auf, denn sie war stolz, zu stolz, um zu zeigen, daß sie litt. Sobald e» indeß Abend wurde, küßte sie ihn und bot ihm „gute Nacht," zog sich auf ihr kleines Stüb chen zurück, verschloß die Thür und warf sich auf das Bett, wo sie heiße, glühende Thränen weinte. David Bendlin aber wechselte, sobald sie sich zu rückgezogen hatte, seinen Leinenrock gegen einen woll enen, schritt zur Thür hinaus, verschloß dieselbe hinter sich und nahm seinen Weg durch den Garten, über die Felder in den Wald. Das Herrenhaus war hell erleuchtet, als er vorüberging, und aus dem Musik zimmer tönte AlbcrtS weiche Tenorstimme zur Clavier- begleitung. „Verwünscht sei er!" murmelte Bendlin, „ich hatte ihn so lieb! Und jetzt spielt er so freventlich mit dem LebenSglücke meines einzigen, theuren Kindes!" Mit großen Schritten eilte er vorwärts; der zu nehmende Mond schwamm hoch in dem tiefblauen Aether, eine Eule schrie in dem Walde, in dessen düsteren Schatten er jetzt verschwand; ein schwacher Duft von zertretenen Waldveilchen verbreitete sich unter seinen Schritten. Nach langer Wanderung kam er an eine Lichtung, wo eine Hütte neben einem kleinen Bächlein lag, das im Mondlichte dahinplätscherte. Durch die Musselinvorhänge der Fenster bemerkte man einen Lichtschein, und ein Hund heulte innen, al» er näher trat und klopfte. „Wer ist da?" fragte eine weibliche Stimme. „David Bendlin." Der Riegel wurde zurückgeschoben, die Thür ge öffnet und der Besucher trat in das kleine Wohn zimmer, welches von einer sanft blickenden Frau, die beinahe in seinem Alter stand, bewohnt war. Diese bot ihm einen Stuhl und setzte sich, um weiter zu nähen, was sie auch vorher gethan hatte. „Sie kommen, um Miß Aurelie'» Kleid zu holen; doch eS ist noch nicht ganz fertig." „Denken wir heut Abend nicht an da» Kleid, Sally." ES war Etwas in dem Tone der ihr bekannten Stimme, daß sie aufblicken ließ; doch schlug sie so gleich die Augen wieder nieder, denn, gleich den Meisten, die ihn kannten, fürchtete sie David Bendlin, obgleich er gegen sie voller Güte war. „Sally, ich bin gekommen, um Ihnen eine wich tige Frage vorzulegen." Sie blickte von Neuem auf, diesmal wirklich er staunt, und suchte in seinen Augen seine Gedanken zu lesen. Er zögerte eine kurze Zeit, doch dann warf er seine Verwirrung ab und fragte ohne alle Um schweife: „Ich möchte wissen, ob Sie sich entschließen könn ten, mich zu heirathen, Sally?" Ein leises Lrröthen flog über da« liebliche, zarte Antlitz der Frau und ließ dasselbe fast mädchenhaft erscheinen. „Welch sonderbare Idee, David!" „Ich weiß e», daß sie sonderbar ist, und ich werde auch nicht beleidigt sein, wenn Sie sie zurückweisen. Sie haben nicht mehr an» Heirathen gedacht, aber Sie zeigten immer ein freundliche» Interesse für mein Kino, und diese» braucht so nothwendig eine Mutter. Ich verstehe nicht mit ihr umzugehen. Sie, Mr». Godwill, stehen an Bildung und Wissen weit über mir. Sie sind eine vollkommene Dame, welche» Miß geschick Sie auch in diese traurige Lage gebracht und Sie dazu veranlaßt haben mag, dieses einsame, kum mervolle Leben zu führen. Ich wage nicht, mich für Ihresgleichen zu halten; aber ich habe mir Etwa» er spart, ich lebe angenehm und heute, al» ich bemerkte, daß Mr. Arker schon darauf auSgeht, meine» Kinde« Herz zu brechen, dachte ich an Sie, Sally! Sie waren ja auch einmal ein Mädchen und Sie werden wissen, wie man Sie beschützen kann und wie man mit ihr sprechen muß. Ich brauche Sie — nothwendig." Ein leidenschaftliches Flehen lag in dem dunklen, kraftvollen Gesicht ausgedrückt. Sally Godwill war einsam und traurig, einen Augenblick lang dachte sie daran, seinen Wünschen zu willfahren und eine Hei- math und einen Gefährten zu finden; doch nur einen Augenblick — so sehr sie auch David Bendlin achtete, ihre Bahnen liefen nicht zusammen. „David," antwortete sie ihm in dem zarten, zum Herzen dringendem Tone, welcher ihre Stimme so süß machte, „Sie wissen, ich achte und schätze Sie hoch, ich liebe Ihr Kind zärtlich, aber ich kann Sie nicht heirathen. Sie dürfen sich nicht verletzt fühlen, wenn ich Ihr Anerbieten zurückweise. Welchen Mr. Arker meinen Sie? Albert?" „Ja, den jungen Herrn natürlich. Der Andere ist zu arm für solche Thorheiten, wie ich glaube." „Aber Albert Arker befindet sich erst seit wenigen Tagen auf Arkersitz." (Fortsetzung folgt.) Ein Fliegenstich. Humoreske aus dem Gaunertebeu. Die Londoner Gaunerzunft, namentlich aber die edle Zunft der Taschendiebe, zählt in ihren Reihen so manche „genial angelegte Natur" die aber ihr Talent leider nur dazu benutzt, im wahren Sinne de» Wortes aus anderer Leute Taschen zu leben. Immerhin gehört aber zur Ausübung dieser Kunst eine genaue Berechnung aller Umstände, vollständige Kaltblütigkeit — um da« etwas „hart" klingende Wort „Unverschämtheit" nicht anzuwenden — und eine sichere Hand — und diese Eigenschaften haben den Taschendieben der Metropole an der Temse einen gewissen Ruf verschafft. Auch Mr. Smith, ein reicher Handelsherr der City, sollte jüngst einen für ihn allerdings etwas unangenehmen Beweis von der Virtuosität erhalten, mit denen die Herren ihr Handwerk auSzuüben wissen. Also Mr. Smith begab sich eines Morgens von seiner Wohnung, Old-Street, zu seinem Bankier Cannon Street, um sich die Kleinigkeit von 100 Pfund zu holen. Auf dem Heimweg hielt Mr. Smith beständig die Hand in der Tasche, in welcher er das Gold trug, und doch war dasselbe verschwunden, als er zu Hause anlangte. Nun konnte der sehr ehrenwerthe Handels herr den Verlust dieser kleinen Summe allerdings verschmerzen, aber unangenehm war ihm die Sache doch, und namentlich war ihm die Art und Weile, aus welche da« Gold verschwunden, völlig räthselhaft. Nach einigem Besinnen ließ er einen ihm bekannten Detektiven zu sich bitten und theilte ihm die Affaire sowie den Weg, welchen er genommen, mit. „O, da ist kein Zweifel," erwiderte Mr. Tumble, der Detektive, ohne Zögern, „da- Geld hat entweder „die rothe Tonne" oder der „Seidenspinner". „Wer — wa«?" unterbrach ihn Mr. Smith mit höchst erstaunter Miene. „Ach, ich vergaß," unterbrach ihn der Beamte lächelnd, „also: die „rothe Tonne" und der „Seiden spinner" gehören mit zu den geriebensten unserer Taschendiebe, von denen jeder sein besondere« Revier hat. Die „rothe Tonne" nun hat etwa die Gegend von City Read bi» Smithfield und der „Seiden spinner" herrscht von da bi» etwa Thomas-Street. Wenn Sie e» wünschen, so hoffe ich e» noch bis heule Nachmittag herauSzubekommcn, wer von Beiden Ihr Geld gestohlen hat. „Ich wäre Ihnen in der That sehr verbunden, Mr. Tumble," erwiderte Mr. Smith eifrig, „und bitte, thrilen Sie dem betreffenden Gentleman noch mit, daß e» mir natürlich nicht cinfiillt, mein Geld wiederhaben zu wollen oder ihn dem Gesetze zu über liefern, sondern ich möchte ihn nur um persönliche Auskunft bitten, auf welche geschickte Art er die 100 Pfund in seinen Besitz gebracht hat." Nachdem Mr. Tumble versprochen, sein MöglichsteS zu thun, entfernte er sich und schon am Nachmittag erhielt Mr. Smith ein Billet von dem Beamten, daß Mr. Grape der „Seidenspinner", der jetzige Besitzer der 100 Pfund sei und sich am nächsten Tage um 12 Uhr die Ehre geben würde, Mr. Smith zu be suchen. Pünktlich um die angegebene Stunde erschien am nächsten Tage der „Seidenspinner" bei Mr. Smith, wel cher mit Verwunderung in dem berüchtigten Taschen diebe ein kleine« unscheinbare» Männchen mit harm loser Miene und untadelhafter Kleidung erblickte, welche», nach einer gewandten Verbeugung, ohne Weitere« begann: „Die Sache ist ziemlich einfach, Mr. Smith; ich sah Sie gestern zufällig Cannon-Street hingehen, und da Sie Geld holen wollten, so behielt ich Sie im Auge —" „Woher wußten Sie, daß ich Geld holen wollte?" -unterbrach Mr. Smith seinen Besuch mit unverkenn barem Erstaunen. „Nun", erklärte der ehrenwerthe Gentleman, „aus Ihrer äußeren Brustlasche lugte ein Zipfel von jenen gelbgestreiften Säckchen, mit denen man gewöhnlich Gelder von der Bank zu holen pflegt, und da wußte ich genug." „O, was war ich für ein Esel!" rief Mr. Smith au«. Mr. Grape lächelte mit einer Miene, in welcher deutlich zu lesen stand: „Ich bin entfernt, da« Gegen- theil zu behaupten;" doch sprach er diesen Gedanken nicht au», sondern fuhr in seiner Erklärung ruhig fort: „Ich sah Sie in ein Bankgeschäft in Cannon- Street treten und wartete, bi« Sie wieder herauS- kamen, und nun richtete ich mein Augenmerk auf ihre linke Rocktasche, in welcher Sie das Geld trugen." „Woher wußten Sie denn nun wieder, daß ich das Geld in der linken Rocktasche hatte: e« konnte sich doch eben so gut in der rechten oder in der Brust tasche befinden?" „Sie selbst ließen mir hierüber keinen Zweifel," sagte Mr. Grape, „denn Sie hielten beständig Ihre Hand in der linken Tasche." „Ah — allerdings sehr einfach," meinte Mr. Smith, „aber weshalb schnitten Sie mir nicht die Tasche ab?" „Sie würden dann wahrscheinlich da» Gewicht de» Geldes sofort vermißt haben, und so beschloß ich zu warten, bis Sie die Hand au« der Tasche nehmen würden." „Ich weiß aber doch ganz genau," rief Mr. Smith in bestimmtem Tone, „daß ich die Hand auch keinen Augenblick au» der Rocktasche genommen habe und —" „Doch, doch," unterbrach ihn sein Besuch mit eben solcher Bestimmtheit. „Nun, da will ich mich gleich hängen lassen, wenn da« wahr ist!" „Sagen Sie so etwas nicht, Sir," sagte Mr. Grape in höchst ernsthaftem Tone, „doch, um zu Ende zu kommen, — eS dauerte mir selbst etwa» lange, und da Sie schon in der Nähe von Smithfield waren, so mußte ich fürchten, daß Sie der „rothen Tonne" in die Hände laufen würden; ich beschloß daher, den letzten Versuch zu machen und die Fliege anzuwenden." „Die Fliege?" wiederholte Mr. Smith im höchsten Erstaunen, — „was verstehen Sie darunter?" „Well, Sir," erklärte Mr. Grape mit feinem Lächeln, „Sie blieben einmal vor einem Bilderladen stehen, nicht weit von der Post, wenn Sie die Güte haben wollen, sich zu erinnern . . . ." „Richtig, richtig, nickte der Handelsherr, „nun?" „Nun, Mr. Smith, fühlten Sie da nicht einen Stich auf der linken Wange, wie von einem Insekt?" „Ah, ah — ich begreife —" „Ja, Sir, Sie zogen die Hand au« der Tasche, um die gestochene Stelle einen Augenblick zu reiben; diesen günstigen Moment benutzte ich und die hundert Pfund waren mein." „Ich muß leider gestehen, Mr. Grape, daß Sie da eine wirkliche Virtuosität entwickelt haben . . . . schade nur —" „Ja, Mr. Smith," meinte Mr. Grape mit ver gnügtem Grinsen, „e» war ein recht netter Streich, da» muß ich selber sagen." Als Gentleman hielt natürlich Mr. Smith sein Versprechen, keinerlei Schritte gegen Mr. Grape zu unternehmen, aber er warnte alle seine Bekannten, ja nicht die Hand au» der Tasche zu nehmen, sobald ein kleiner, harmlos aussehender und elegant geklei deter Mann in der Nähe sei. Wir fürchten aber trotzdem, daß die Fliege Mr. Grape noch zu manchem Sovereign wird verhelfen haben. Druck und Verlag von S. Hannebohn in Litenkock.