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Heddys neugierigen Blick nach der Photographie auf fing, so übergab sic ihr dieselbe mit den Worten: „Meine lieben Eltern und Geschwister, ich habe das Bild soeben erhalten." Während Heddy sich dankend an den Tisch setzte und aufmerksam die Photographie betrachtete, blätterte Nora mit ziemlich gleichgültiger Miene i» dem kleinen mit rother Seide überzogenen Notizbuch einige Seiten nm. Da plötzlich zitterte ihre Hand heftig und gleich zeitig überzog eine Pnrpnrrethe ihr Antlitz. Sie mußte sich an dem Sophatisch sesthalten und den Freudenschrei, der sich ihrem Mnnde entwinden wollte, gewaltsam zurückdrängen. Da stand ja der Name des geliebten Mannes, den Alle für verschollen hielte». „Fritz Bormann, Kapitän der California," so hatte Heddy ahnungslos in das Buch eingetragen. Sie hätte den Namen küssen, das kleine Buch an ihr Herz drücken mögen, aber sie mußte sich beherrschen, denn die lebhafte Heddy drehte sich plötzlich nach ihr um und schien ihre Züge mit denen der Ihrigen ans dem Bilde zu vergleichen. „Ein liebes Bild das, Fräulein, und alte sind Ihnen so sprechend ähnlich; der ernste Vater, die stattliche Mutter, in deren Haltung und Mienen sich Würde nnd Mutterstolz auspräge», ach, und die lieben Schwestern, gewiß sind beide blond und ebenso schlank als Sie, Fräulein? Und zuletzt die drei präch tigen Brüder — nein, was die für ernste Gesichter machen. Sind die Menschen in Deutschland alle so ernst, Fräulein?" (Fortsetzung folgt.) Das Gespenst. Humoreske von H. Dietz. Es war am Anfang der sechziger Jahre, die pol nischen Unruhen hatten veranlaßt, daß die Garnisonen meist ohne Soldaten und daß Städte nnd Städtchen, die nahe der polnischen Grenze belegen, zum Schutz und Trutz respektable Bürgerwehren errichtet, die in ihrer naiven Einfachheit an das Spießbürgerthum unserer Altvorderen erinnerten. „Muth, Schlagfer tigkeit" und „pünktliche Dienstleistung" waren zwar ihre Parole, aber sie wurde zum Leidwesen ihrer zeitweiligen Eommandanten in Person des Bürger meisters viel öfter vergessen als inne gehalten. Mi litärische Disciplin war eben nicht die starke Seite dieser Herren; ein gemüthlicher Schlendrian behagte diesen „Soldaten" weit besser. Eines Abends, im Spätherbst war cS, wo die starken Nebel fallen, als ein ans seiner Stammkneipe heimkehrendcr Bürger des Städtchens W. den Schan zengraben passirend, in dem verkappten Erlengebüsch von dichtem Nebel umhüllt ein großes weißes Etwas gewahrte, das ihm zuwinkte und lebhaft gcftikulirte. Es war schon auf zehn, die Gegend dunkel nnd menschenleer, der Kirchhof lag auch nur etwa 50 Schritte davon, kurz und gut unser»! Manne kam das Gruseln an. Zwar war er standhaft genug, dem Dinge vier, fünf, auch zehn Schritte entgegen zu gehen, doch wun derbar — jeder Schritt näher ließ eS mindestens nm doppelt so viel entfernt erscheinen. Es war nichts dabei zu machen. Zum Ueberfluß hob die alte Kirch- Hofuhr jetzt mit dumpfem Gestöhn zum Schlage aus. Hei, wie unser Held da Fersengeld gab! In Schweiß gebadet langte er auf dem etwa 60 Fuß hohen Schanzenwall an; aber ein Blick von dieser gesicher ten Position herab ließ ihn von Nenem gruselnd zusammenschanern. Da stand es ganz deutlich unten am Grabenrand — ein Geist, ein Gespenst — und schüttelte drohend die dürren Arme gegen ihn. AthemloS und keuchend langte der brave Bürger bei den Seinen an. Ein Glück war es, daß sie schon sämmtlich in den Federn lagen, er hätte sich doch zu arg geschämt, von seiner Gespensterfurcht zu erzählen, zudem soll man auch, guten Überlieferungen nach, das Begegniß mit Geistern zuvor „beschlafen", ehe man davon spricht. Als er am Abend darauf vorsichtshalber mit den anderen Bürgern zugleich vom Kneiptische aufbrach, fiel cs ihm auf, daß sie sämmtlich und wie es schien, immer Einer znm stillen Erstaunen des Andern, den mindestens noch einmal so weiten Weg durch die lange Vorstadt einschlugen. Er natürlich mit. Am nächsten und den nächstfolgenden Tagen mußte der Wirth zur „grünen Tanne" die bittere Wahr nehmung machen, daß einer — zwei, drei — und zuletzt alle Gäste an dem Stammtisch fehlten. Was mochte, was konnte cs sein? Seit dreißig Jahren hatte noch kein Abend irgend eine Veränderung in der Besatzung dieser Festung gebracht. Nur einmal war cs gewesen und da, Gott hab' ihn selig, war der Gerbermeister Krume, Präses vom Kneiptisch, ge storben ; da konnte es Einen am Ende nicht Wunder nehmen, wenn er am Abend in der Tanne fehlte. Aber jetzt — es war doch zu wunderbar! Alle fehlten sie, Alle! Die paar Leute vom Graben und aus der Vorstadt, die außerdem noch seine Gäste waren, hatten kaum so viel, einen Schoppen den Abend zu bezahlen, und davon konnte der Tannen- wirth nicht bestehen, das lag auf der Hand. Aber wie es ändern? Da lag der Has' im Pfeffer. Drei Tage noch wartete der Tannenwirth. Da machte er sich eines Abends nm die neunte Stunde auf den Weg, um seine verlorenen Stammgäste zu suchen. Jedenfalls mußte ein neidischer Eoncurrent sie ihm abwendig gemacht haben, aber wie und durch welche Mittel war ihm unbegreiflich. So trat er denn seine Wanderung an. Natür lich wollte er den nächsten Weg über den Schanzen graben nehmen. Doch kam» hatte er den Graben betreten, als ein dnmpfes, unheimliches Stöhnen ihn stillstchen machte. Er horchte rechts, links — konnte aber nichts entdecken; muthig schritt er vorwärts. Da — was war das? Fuhr ihm nicht ein kalter eisiger Athen» über das Gesicht? Da wieder! — Dock, diesmal fühlte er noch einen kräftigen Stoß in den Nacken, er hielt sich am Erlengebüsch, wo er ge rade stand. Doch da, da — war es Spnk — winkte ihm nicht eine weiße, hohe Gestalt hin zur Kirchhofs mauer? Ja — oh — dumpf stöhnend sank er zu sammen. Doch ini nächsten Augenblick schon sprang er wieder empor. Die Gestalt kam eilends auf ihn zu mit unendlich langen Schritten, die Arme immer nach ihm ausgestreckt. Er hielt'sich uicht länger, die Mütze über die Augen gedrückt, lief er so rasch er laufen konnte, und hörte nicht früher auf, als bis er mitten auf dem Markte stand. Hier erst faßte er sich soweit, um klar über das eben Erlebte Nachdenken zu können. War es der leibhaftige Böse, der ihm begegnet? oder aber — war cs der Geist seiner ver storbenen Frau, die ihm sagen wollte, daß sein Ende nahe? — Sie hatte es ihm auf dem Sterbebette versprochen, ihm acht Tage vor seinem Tode zu er scheinen, damit er hier noch Alles gut ordnen und besorgen konnte und sich auch würdig auf das Jen seits vorzubereiten. Ja, ja — er kam immer mehr zu dem Bewußtsein, der Tod verlange nach ihni, und seine gute Alte habe ihm das verabredete Zeichen ge geben. Nun wollte er auch nicht mehr für irdische Dinge sorgen. Mögen die Stammgäste bleiben, wo sie sind; er wollte in stiller Ruh' sich zum Scheiden vorbereiten. Doch sollte er jetzt noch einmal den Weg über die Schanze mache»? nein, ihn gruselte doch zu ent setzlich. Auch fror ihn; ein Glas Grog noch wollte er bei dem Löwenwirth trinken und dann über die Vorstadt nach Hause gehen. Er konnte ja gleich hier von Freunden und Bekannten, auch dem Löwenwirth Abschied nehmen. Wer weiß, vielleicht kam der Tod doch früher, als er gedacht! Und dann war es doch gut, wenn er Alles in Frieden verlassen hakte. Er trat in die Helle Gaststube und sah zu seiner Verwunderung alle seine Stammgäste an einem Eck tisch gemüthlich beisammen sitzen. Doch er war sehr friedlich gestimmt in seinem Hirzen, deshalb schritt er freundlich grüßend auf sie zu, reichte ihnen Allen die Hand nnd ließ sich mit einem Glase Grog an ihrem Tische nieder. Man sprach über dies und das, anfangs im All gemeinen zwar etwas ängstlich, doch bald war der alte, vertraute Ton wieder gefunden und die Unter haltung in gutem Gang. Die Uhr schlug eben zehn. Der Tannenwirth machte ein sehr ernstes Gesicht und schlug mit seiner Rechten auf den Tifch, zum Zeichen, daß er zn reden gedenke. Alles schwieg. Der Tannenwirth räusperte sich, setzte sich in seinem Stuhl zurecht und begann: „Ihr liebe»» Freunde, ich muß Abschied von Euch nehmen. Der Tod hat bei mir angeklopft, ich muß in acht Tagen der Welt Ade sagen. Nnn wollt' ich Euch bitten, behaltet mich in gutem Andenken und betet für mein Seelenheil; ich habe Euch, so gut ich gekonnt, bedient, Ench immer gutes Bier geschenkt und nie einen Tropfen weniger als das richtige Maaß, und — Wasser habe ich nie dazu gethan, das müßt Ihr mir Alle bezeugen. Auch Euch, Löwenwirth, bitt' ich, mein Andenken in Ehren zu bewahren; ich zürn' Ench nicht, daß Ihr mir die guten alten Kunden fortgeschnappt; bedient sic gnt und haltet sie warm, das ist meine Bitte für sie." Alles war still und andächtig gestimmt. Dicseni oder Jenem lief wohl eine kleine Gänsehaut über den 'Rücken bei dem Gedanken, einen vollständig gesund unter ihnen sitzenden Mann so bestimmt über den Tod sprechen zu hören. Der Tannenwirth war aufgestanden. Da faßte sich doch Einer das Herz zu fragen, wie er cS denn fo bestimmt wisse, daß der Tod ihn schon so bald holen werde. „Ja, sehen Sie, das ist eigentlich nicht so zu er zählen", meinte der Tannenwirth, „es ist wegen meiner Frau selig, mit der hab ich's mir beredet, nnd nun hat sie's mir kund gethan heute im Schanzengraben, als ich gerade aus dem Wege war. Sie allesainmt aufzusuchen und zu fragen, wieso Sie meiner „Tanne" fern bleiben. Doch jetzt mögen Sic ruhig hier bleiben, ich gönne Sie dem Löwenwirth gern." „Im Schanzcngrund? Wie ist« möglich? Im Schanzengrund!" — „WaS, im Schanzengrund?" — Diese Ausrufe ertönten fast gleichzeitig von allen Lippen. „Erzählen Sie doch! Wie war cS? Er zählen Sie!" Aber der Tannenwirth blieb bei seiner Weigerung, nichts Näheres zn erzählen ; man müßte mit dem Tod und den Todten keinen Scherz treiben. Er wollte sich verabschieden; die Thränen standen ihin in den Augen. Da rief der Bürgermeister erregt: „Tanncn- wirth, seid ein Mann und erzählt, was Euch passirt! Mir hals vor acht Tagen ini Schanzengrund auch arg mitgcspielt — glaub' dabei doch nicht an meinen Tod, wcnn'S auch schaurig genug sich anließ." Da machten die Herren insgesammt sehr ernste Gesichter und Einer nach dem Andern erzählte eine immer gleichlautende Geschichte von dem Geist im Schanzengrabcn. Der Löwenwirth aber hatte sich hinter den Biertisch versteckt, ihm mußte wohl sehr unheimlich zu Muthc sein bei der gruseligen Erzählung. Der Tannenwirth stand sprachlos. Ein Hoff nungsstrahl schien ihm anfzugehen — vielleicht war es kein Zeichen, vielleicht etwas ganz Natürliches — ach, wenn das wäre! Der Herr Bürgermeister, der natürlich Comman- dant der Bürgerwehr war, meinte, da stecke etwas dahinter, dem müßte man auf die Spur kommen. Männer wie sie, dürsten sich doch nicht einschüchtern lassen. Und einstimmig wurde beschlossen, morgen Abend, Punkt 9 Uhr, mit den Gewehren versehen, sich auf dein Schanzenwall einznfinden, um dem Gespenst endlich auf den Leib zn gehen. Wäre eS ein wirklicher Geist, so könnten ihre Kugeln ihm nichts anhaben, wäre es aber etwas 'Natürliches, so wäre ihm ein derber Denkzettel schon recht für die häßliche Geschichte. Vorläufig sollte mit blinden Patronen geschossen werden, und ziehe sich das Ge spenst nicht zurück oder ergebe sich, so solle eine regel rechte Attacke mit schwerster Ladung vorgenommen werden. Gesagt, gethan. Des andern AbenvS, Punkt neun Uhr, verkün'öete ein Trommelwirbel Alarm und Samm lung. Bis auf einige ängstliche Gemüther war Alles znr Stelle. Der Schanzengraben wurde mit einer Tirailleur- kette umlegt, aber so, daß ein Schütze im Nothfall deö andern Rockschoß erreichen konnte. Alles lag auf der Lauer, still und an die Böschung gedrückt. Da — eilt dumpfer Knall, dicker Dampf, und — aus demselben tritt gravitätisch das Gespenst. Drohend schwingt es die Arme nnd langsamen Schrittes fonnnt es näher und näher. Da ertönt das Commando: „Feuer!" Und richtig: eine Salve kracht, — zwar sehr dünn, aber eS kracht doch. Als wie eine Phönix aus der Gluth neu erstanden er scheint das Gespenst, nur leuchtender und größer. Der muthigc Bürgermeister tritt kühn vor und schreit mit wahrer Donnerstimme: „Alle Mann auf Posten, ladet scharf, zielt gut!" Das Gespenst steht unbeweglich fest, aber cS er scheint auf einmal Allen, als ob es noch größer ge wachsen, und geheimes Grauen erfaßt die mukhigen Kämpfer. Sie wollen fliehen, doch der Commandoruf des Bürgermeisters: „Gewehr zum Schuß!" läßt sic noch einmal feststehcn. „Fener!" Es kracht und unentwegt steht das Gespenst. Was nun? — Doch der Bürgermeister ist in Kampfescifer gerathen und festen Fußes commandirt er: „Alle Schützen vor! Dem Gespenst direkt auf den Leib!" Nein, das geht nicht. Doch wer will jetzt öffent lich sich feig zeigen? Wer unentdcckt davon kann, verschwindet rasch in die Büsche, bis der Bürger meister kommandirt: „Jedem Deserteur wird nachge schossen!" Da steht sic endlich fest, die muthigc Bürger wehr, und in geschlossener Linie geht cs dem Feinde zu Leibe; erst langsam, dann rasch nnd immer rascher, zuletzt im Laufschritt, der Bürgermeister voran. Er hebt das Gewehr und ruft donnernd: „Ergicb Dich oder stirb!" Ein wuchtiger Hieb dröhut durch die Luft, splitternd und krachend stürzt das „Gespenst" zusammen, ein Lichtstumpf erlischt zischend im nasfeu Gras und eine kichernde Stimme ruft hinter den Erlen hervor: „Gut getroffen, Herr Bürgermeister!" Alle sehen sich verdutzt an, so gut das eben im Dunkeln möglich ist. Dann wird der Rest des Gespenstes untersucht und als einziges Beweismittel seiner einstigen Existenz findet man ein altes fleckiges Laken, da« an verschiedenen Stellen die Löcher von den abgeschossenen Kugeln aufwcist, soweit dieselben gegen den Baumstamm, den Kürbiskops und die als Arme dienenden Latten geschlagen haben. Das Laken aber Ivar mit deö Löwenwirthes Zeichen versehen, das man in einer der zerfetzten Ecken ent deckte. „Wohl bekonnn's, Herr Löwenwirth!" Der Tannenwirth hat seinen Todcsgedanken einst weilen Valet gesagt und die Stammgäste sitzen wieder bei ihm und preisen den Muth der tapferen Bürger wehr! Druck und Verlag von E. Hannebohn in Eibenstock.