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I o u r n a l l e k t ü r c. Der Wiener Volksgarten, von Saphir herausgcge- bcn, heißt die mit dem Januar dieses Jahres begonnene „Mo natsbeilage zur Zeitschrift: der Humorist." Das Blatt ist zu nächst auf das Wiener Lescpublikum berechnet, nach dem ersten Hefte jedoch zu urtheilcn, wird cs auch an andern Orten gern gelesen werden, zumal da der witzige und unermüdliche Her ausgeber selbst den größten Theil des „Volksgarlens" anbaucn wird. Für dicßmal giebt Saphir die in seiner letzten Vorle sung gesprochene dramatische Scene: „Die Localstückfabrik in der Unterwelt, ein Versuch in halblokalcm Holzschnitt." Diese Satyre enthält manchen treffenden Witz, wenn sie im Ganzen auch etwas grob zugcschnitten ist, ohne jene naive Derbheit der Raymund'schcn und Nestroy'schen Possen zu besitzen. Sehr drollig ist das „Effcctli cd," aus dem wir unscrn Leserinnen folgende Strophe mitlheilcn: „Die Mode stellt bei allen Erdenfrauen Das diplomal'sche Gleichgewicht einher. Die Magersten sind wie die Dicksten anjuschauen. Und auf der Wage wiegen alle sie gleich schwer; Wie oft sieht man ein Grillchen, das recht bunt gefleckt. So tief in Krispinen, Pelerinen und Lrinolinen steckt — Es ist gar nichts dahinter, allein es macht Effect!" Außer dem Herausgeber haben noch andre Autoren (Ster- nau einen hübschen Aufsatz: „der moderne Diogenes") mehr oder minder unterhaltende Artikel geliefert. Die „Lokal-Anek doten" zeichnen sich nicht eben vortheilhast aus. Hamburger Berichte sprachen in der jüngsten Zeit viel von dem bedeutenden Beifall, welches ein neues Trauer spiel: Don Sebastian, König von Portugal, von I>r. A. E. Woll he im, auf der dortigen Bühne erhalten habe. Jetzt thcilcn die „ Originalien" ein Bruchstück aus der Tra gödie mit, nach welchem man schließen muß, daß vr. Woll heim das „Hervorgcruftwerden" eben so gut der bloßen Will- kühr des Publikums zu verdanken hat, als, wie es scheint, Gutzkow das „Ausgcpsiffenkverdcn " bei der Aufführung dec „Schule der Reichen." Das abgcdruckte Fragment aus „Don Sebastian" ist sehr gewöhnlich. August Lcwald erzählt dem Publikum (auf dem Um schläge der „Europa," wohin er, mit gutem Takt, dergleichen literarische Streitigkeiten zu verweisen pflegt) die Geschichte der von dem Buchhändler Göpel eigenmächtig, ohne Vor wissen des Verfassers, unter verändertem Titel veranstalteten zweiten Auflage des Lcwald'schen Buchs über Seidelmann. Man sicht daraus, wie Göpel bei seinem offenliegcndcn Un rechte zugleich so anmaßend ist, als sei er «^ollstem Recht. Lcwald schlägt vor, ein Verfahren, wie das des Herrn Göpel — analog dem Worte: Verballhornen (von Ballhorn) — künftighin mit dem Ausdrucke: Vcrgöpeln, zu bezeichnen. L. Wioubarg sagt (im Litcraturblatt zur Börsenhallc) bei Gelegenheit der Besprechung des Romans : „Aus der Schule des Lebens" von A. Luednov, folgende Worte, die auf sehr viele neueste Produktionen passen und daher zu beherzigen sind: „Roman nun eben nicht," so beginnt die Recension, „auch nicht Erzählung, Novelle; vielmehr freie Form oder Mitthei lung aus einem bestimmten Lebenskrcisc, Abklatsch von Ver hältnissen mit geringer künstlerischer Zuthat, gleichsam ohne Anfang und Ende, fast ohne Handlung, geschweige spannende Verwicklung, ohne Abschluß, selbst ohne Erregung eines nur irgend lebhaften Interesses für die dargestellten Personen, in allem diesen unbefriedigend und dennoch eine Stimmung im Leser hin terlassend, die sonst nur von einem poetischEWerke ausgeht."— Neben der eigentlichen Production, zu der freilich nothwendig erst ein Dichter gehört, hat sich in der neusten Literatur ein Genre geltend gemacht, das von der Poesie den Schein borgt und von jedem Gebildeten und Erfahrenen gehandhabt werden kann. In Büchern dieser Art, welche die den Franzosen ge läufigen Memoiren ersetzen, finden wir oft die feinsten Be merkungen aus dem Menschen und weit mehr aus dem Leben der gesellschaftlichen Classen und Stände, besonders der vorneh meren, so daß dieser Literaturzwcig, wenn nicht für die Ge schichte der Poesie, doch für die Zeitgeschichte und ihr Verständ- niß von großer Wichtigkeit ist, da er die treue Copie der ge genwärtigen Verhältnisse enthält. Wir dürfen uns unter solchen Umständen über die Menge der heutigen Schriftsteller gar nicht wundern; das Publikum schreibt sich seine Bücher selbst, und besonders die höhcrn Stände verfassen Denkwürdigkeiten in dramatischer, epischer, lyrischer Form, und liefern dem Dichter die Materialien und Vorarbeiten; die Frauen können ihrem Gelüste nicht widerstehen, aus der Schule zu plaudern, und greifen in Masse zur Feder; die Mitthcilung durch Bücher wird immer allgemeiner und erweitert gleichsam die Schranken der Conversation. Dieß ist keinesweges ein schlimmes Zeichen der Zeit (freilich auch kein Zeichen einer goldenen Zeit), sondern es beweist, daß wir Deutschen auf dem Wege größerer Leffentlichkeit sind, wo jeder seine Stimme erhebt, wenn er etwas Bcherzigenswerthes sagen zu haben meint. Eine künf tige Zeit wird wohl den Schriftsteller von Beruf von dem Dilettanten, den Dichter von Dem unterscheiden können, der die gegebene, zu aller Gebildeten Eigenthum gewordene Form mit Begeisterung benutzt hat. Der Correspondent in der Abendzeitung aus Berlin erzählt, nachdem er Devrient's neuestes Schauspiel „Treue Liebe" getadelt, folgenden Spas: „Als das Stück zum ersten Male aufgeführt und Herr Devrient zum Schluffe herausgerufen wurde, sagte in dem Augenblicke, als er erschien, eine Stimme auf der Gallerie ganz vernehmlich und mit weinerlicher Be tonung: „Iutcr Mont, du jehst so stille!" und ich gestehe, daß der Volkswitz mit diesen wenigen Worten eine treffende Recension ausdrückte. Wie ein Rcvenant, wie ein Gespenst Sicgwart's, bringt uns dieß Drama ein Stück Sen timentalität nebst Abenteuer aus den achtziger Jahren des vorigen Säculums, ein übersüßes Rokoko mit gedrechselten Beinen und etwas verschrobenem Kopf, kurz ein Etwas, das uns nicht gefällt." Der Berliner Witz macht sich unter den Kritikern nicht allein als einer der schärfsten, sondern auch als