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landen von oben nach unten zieht man allem Uebrigen vor. Am Tage haben jetzt kleine Fältchen alle großen Fal ten verdrängt. Zn Morgenspaziergängen und Negli gee erlaubt man sich jetzt blau-, roth- oder braunge streifte Batiste. Die Haare trägt man kurz, mit Ausnahme der Seite, und die Hüte gewinnen allmälig wieder eine vernünftige Hohe. Bart und Schnurrbart müssen jetzt bei Jedem in vollkommener Harmonie mit seinem Ge sichte stehen. Außer zu Pferd und bei schlechtem Wet ter, sieht man jetzt kaum mehr einen Stiefel. Unterhaltungen mit meinem Schneider über die Zeit. (Fortsetzung.) 2. Da uns heute der gütige Himmel bei so vortreff lichem Biere hübsch allein hier beisammen läßt, so dächte ich wohl, daß Sie, mein verehrter Meister, die noch rückständige Erklärung über den goldenen Bo den mir ertheilten, bevor die Gesellschaft uns stören kann. Also: wie ist's mit dem goldnen Boden? „Schlimm ist's damit, wie ich letzthin Ihnen zu bedeuten die Ehre hatte, schlimm, sehr schlimm." Nun, heraus mit der Sprache. „Ich sagte Ihnen, daß das Gewerbe früher aller dings seinen goldnen Boden gehabt, aber denselben jetzt, wo nicht ganz verloren, doch gewaltig durchlö- chert habe. Eine Erklärung darüber ist keineswegs schwierig, da schon der flüchtigste Blick in die Welt solche zur Genüge ertheilt. Sehen Sie, in frühem Zeiten war auch unser Gewerbe ein geschlossenes, d. h. man halte für jede Commune eine ohngefähre Berech nung angestcllt, wie viele Meister sie so oder so er nähren könnte, und bei dieser Zahl hatte cö alSdann sein Bewenden; wollte ein junger Bürger in die Mei sterschaft einrücken, so mußte er hübsch warten, bis eine Stelle erledigt worden. Sie werden zugestehen, daß diese Einrichtung unverkennbar ihr mebrseitig Gu tes hatte, obgleich ich nicht läugnen darf, daß diese Bestimmung auch ihre Schattenseiten haben mag und namentlich bei einer oft unvcrhältnißmäßigen Vergrö- ßerung der Städte oft gar widersinnig beibchaltcn wurde. Damals dachte auch kein Schneider daran, den Tuchhändler spielen zu wollen oder zu müssen, der Meister arbeitete mit seinen Gesellen, dressirte seine Lehrlinge, so gut es gehen wollte, die Modevcrände- rungen machten ihm den Kopf nicht schwer, die Kun den brauchten nicht allmonatlich allerlei Veränderun gen an ihren Kleidungsstücken, und deren pünktliches Bezahlen belästigte auch nicht mit weitläuftiger Buch führung, man lebte von dem Ertrage der eignen Ar beit und von dem Gewinn an dem Gesellenlohn, und, wo der Himmel nicht half, ließ doch die Hölle keinen ehrlichen Meister ganz im Stiche, man hatte seine bescheidenen Extraausgaben an Sonn- und Feierta gen, man lebte sonst sehr einfach, und man hatte am Ende des Jahrs ein Paar Groschen Uebecschuß in der Kasse, mit der sichern Hoffnung auf dasselbe Schicksal im künftigen Jahre. Wie es immer in der Welt gehen wird, geschah eS auch hierbei: Einzelne erwar ben durch Glück und Geschick mehr, Andere durch Un glück und Ungeschick weniger, aber auskommen konnte Jeder, wenn er selbst nur wollte. Was ein Schneider lediglich als solcher zu seiner ersten Einrich tung bedarf, kann, wie Sie selbst cinsehen, nicht von großer Bedeutung seyn. So war es auch damals, und mit ein Paar Pfennigen, einer Portion Vertrauen auf Gott, auf seinen eignen Fleiß und bescheidener Sparsamkeit konnte damals Jeder getrost in die Mei sterschaft eintrcten und es dann dem lieben Zufall über lassen, ob er aus ihm einen der reichen Matadore, einen stattlichen Mittelmann, oder nur einen mit Ehre knapp bestehenden Meister machen wolle. Eine vierte Classe bestand nur aus den wahren Lumpen, die un ter allen Verhältnissen und zu allen Zeiten nichts taugen, also auch hier nicht zur Sprache kommen. Dabei machte das äußere Leben nur sehr beschei dene Ansprüche an den Meister und seine Familie, man verlangte nichts, als einen gewissen bürgerlichen Anstand in Allem, jedes kostspielige Darübcrhinaus- gehen wurde sogar übel gedeutet und belohnte sich ge wöhnlich mit Untergang. Jetzt ist Alles anders. Das Leben selbst und die Ansprüche an das Leben sind unmerklich durch alle menschlichen Abstufungen bedeutender, bequemer, glän zender und um mehr als das Doppelte theurer gewor den, und mitheulen muß man mit den Wölfen, wenn man auch lieber darüber weinen möchte; darüber be darf es keiner Erörterung.