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352 Einleitung. 1. über gewisse allgemeine Zustände des Organismus, die Ver hältnisse des Stoffwechsels, Beschaffenheit des Blutes, der Verdauung etc. 2. über gewisse örtliche Krankheiten der zum uropoetischen System gehörigen Organe. Beide Richtungen werden im Folgenden möglichst gleichmässig be rücksichtigt. Ausserdem kann die Harnuntersuchung bisweilen Aufschluss geben über ganz specielle Dinge und Vorgänge, die für den Arzt eine gewisse Wichtigkeit besitzen. So ist man häufig im Stande, aus dem blossen Ansehen des Harns zu bestimmen, ob ein Kranker Fieber hat oder nicht; man kann aus dem Geruch oder der Farbe des Harns schliessen, dass gewisse Speisen oder Arzneien genossen worden sind, z. B. Spargel, Oleum Terebinthinae, Rheum etc.; aus einem Gehalt des Harns an Samen fäden lässt sich eine stattgehabte Pollution oder ein Coitus erkennen; aus einem Eiweissgehalt des Harns kann man unter Umständen schliessen, dass der Patient wassersüchtig ist; aus gallenfarbstoffhaltigem Ham auf das Bestehen von Gelbsucht etc. Dergleichen Zeichen kann ein kluger Arzt mit Nutzen verwenden, um dadurch das Vertrauen seiner Patienten in seine Kenntnisse hervorzurufen oder zu befestigen; aber der gewissen hafte Arzt wird sich solcher Mittel nur mit Vorsicht und ohne Osten tation bedienen, da jeder Missbrauch derselben ihn in den Augen seiner Kollegen sowohl als in denen einsichtsvoller Laien zum Charlatan stempelt. In manchen Fällen erhält die Harnuntersuchung eine grosse Wichtig keit für den Therapeuten dadurch, dass sie nachweist, ob gewisse Sub stanzen, welche ein Kranker als Arzneimittel gebraucht, durch den Ham wieder entfernt werden oder nicht. Im letzteren Falle wird der Arzt beim Fortgebrauch mancher Arzneimittel, die, im Körper angehäuft, leicht eine sogenannte kumulative Wirkung hervorbringen und dadurch gefährlich werden können, wie Salpeter, Digitalis, Strychnin etc. zur Vorsicht und Behutsamkeit ermahnt. Im ersteren dagegen wird er sich veranlasst sehen, das Mittel fortzugeben, ja selbst mit demselben zu steigen; so in den Fällen, wo es sich darum handelt, den Organismus längere Zeit mit einem Heilmittel gewissermassen gesättigt zu erhalten, das nur langsam und allmälig seine vollständige Wirkung auszuüben vemiag, wie Jodkalium, kohlensaure Alkalien und ähnliche. Die Wichtigkeit der Harnuntersuchung für solche rein therapeutische Zwecke ist bis jetzt in der Praxis noch nicht gehörig gewürdigt worden. Ihre Anwendung wird aber sicherlich in dem Maasse zunehmen, in welchem die dazu nothwendigen, bis jetzt zum Theil noch schwierigen und unvollkommenen Untersuchungsmethoden weiter ausgebildet, vereinfacht und für den Arzt bequemer gemacht sein werden — eine Aufgabe, deren Lösung der Verfasser den Chemikern an’s Herz legen möchte.