Semiotischer Theil Anleitung zur qualitativen und quantitativen Analyse des Harns, sowie zur Beurtheilung der Veränderungen dieses Secrets mit besonderer Rücksicht auf die Zwecke des praktischen Arztes
Einleitung’. JJie Betrachtung und Untersuchung des Harns galt seit, den ältesten Zeiten für ein wichtiges Hülfsmittel zur Erkennung und Beurtheilung von Krankheitszuständen. Doch blieb in der That so lange, als die chemische und mikroskopische Untersuchung noch nicht ausgebildet waren, der eigentliche'Werth dieses Hülfsmittels für die Wissenschaft ein sehr ge ringer, und die Harnbeschauung, von Charlatans vielfach zu Täu schungen des unwissenden Publikums gemissbraucht, kam dadurch eine Zeit lang bei wissenschaftlichen Aerzten sowohl als beim gebildeten Theil des Publikums in Misskredit*). Erst mit der Vervollkommnung der organischen Chemie und dem Allgemeinerwerden mikroskopischer Unter suchungen konnte auch die Uroskopie wieder einen wissenschaftlichen Charakter annehmen; und gegenwärtig zweifelt wohl kein in solchen Fragen Stimmberechtigter daran, dass sie einen wichtigen und wesent lichen Theil der ärztlichen Semiotik und Diagnostik zü bilden berechtigt ist. Lassen sich doch manche wichtige Krankheiten allein durch die Untersuchung des Harns sicher erkennen und genauer bestimmen: so die verschiedenen Formen von Diabetes, die meisten Arten der Neph ritis etc.; — manche Gefahren für die Gesundheit allein durch Beach tung von Veränderungen des Harns abwenden, wie die Gefahren der Harnsteinbildung u. s. f.! Der Nutzen, welchen die Untersuchung des Harns dem Arzt in Be zug auf Diagnose, Prognose und Therapie gewährt, lässt sich nach zwei verschiedenen Seiten hin verfolgen. Die Harnuntersuchung giebt Aufschluss: *) Leider droht diese von Charlatans geübte Art der Harnbeschauung in neuester Zeit wieder sehr in Aufnahme zu kommen. Verfasser hatte wiederholt Ge legenheit, sich hiervon zu überzeugen; ebenso davon., dass es nicht bloss unge bildete, den untersten Ständen angehörige Personen sind, welche sich von solchen „Wunderdoctoren“ täuschen lassen, sondern ebenso häufig auch Leute, welche den höheren und sich vorzugsweise „gebildet“ nennenden Ständen angehören. Unter solchen Umständen erscheint es doppelt als Pflicht der Aerzte, das Publikum darüber aufzuklären, was eine wissenschaftliche Uroscopie für Diagnose, Prognose und Therapie der verschiedenen Krankheiten zu leisten vermag.