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Beilage m Rr. 93 -es „Amts- un- Ameigeblattes". Cibenstolk, den 8. August 1891. Die Jüdin von Heidelberg. Nach historischen Quellen erzählt von Fr. E. von Wickede. (Schluß.) „Seid Ihr auch an keiner andern geheimen Ge sellschaft betheiligt?" „Ich werde keine Fragen der Art beantworten." „Wir werden sehen, Euch dazu zu veranlassen," sagte der Richter, und auf ein Zeichen seiner Hand war die Folterbank hcrbeigcschafst. Das Jnstrument^knarrte und ächzte, als ob die Stcrbeseufzer der darauf Ge quälten um Rache zum Himmel schrieen. Von kräft igen Händen gehoben, ward Martin darauf gelegt, seine Gliedmaßen in herkömmlicher Weise befestigt und die Schrauben angezogen. „Jetzt zeigt Eure Kraft, mein stolzer Ritter, und fühlet, was Diejenigen trifft, welche es wagen, unserer Allmacht Widerstand entgegen zu setzen." Schon lag sein Körper ausgestreckt, als ein Herz zerreißender Schrei aus Eleonorens Munde an sein Ohr schlug und die Henkersknechte einhalten ließ. „Gnade, Gnade!" rief sie im Uebermaße der Angst ihres Herzens, „schont ihn — ich will Ench Alles be kennen!" Zu Konrads Fußen knieete das geängstigte Mäd chen mit flehendem Blick und auf einen Wink des Markgrafen traten die Henker zurück. „Traue ihnen nicht, Eleonore," rief Wilsdorf, „laß mich sterben, wo ich bin — wir sehen uns in einer andern Welt wieder!" „O, Martin, dann laß mich mit Dir sterben!" rief das Mädchen, zn ihm eilend, „dann sind wir auf ewig vereint!" Ehe sie daran verhindert werden konnte, hatte sie ihre Hände um seinen Hals geschlungen, aber schon im nächsten Augenblick ward sie von ihm gerissen und aus seiner Nähe fortgesührt.. Da ward ein dumpfes Geräusch in der Vorhalle vernehmbar nnd bluttriefend stürzte einer der Wächter herein. „Was giebts?" schrie Konrad aufspringend. Ein wüthender Volkshaufen hat das Gebäude umringt und die Wächter erschlagen; nur mit Mühe bin ich entkommen, um Euch Nachricht zu geben." „Tod und Teufel!" schrieen der Markgraf und Konrad zugleich, unmöglich können sie Eingang hier gefunden haben!" „Die äußeren Thore sind bereits geöffnet und auch das innere wird nicht widerstehen." „Dann haben wir Verräther in unserer Mitte!" riefen viele Stimmen durcheinander, während auf allen Seiten die entblößten Schwerter blitzten. Ehe indeß die Verwirrung sich legte und Befehl zur Verthcidigung gegeben werden konnte, sprang die letzte Thllre auf und Viktor von Antiochien und und Balduin von Thre, gefolgt von einer großen Schaar Bewaffneter, drangen in das Gewölbe. Wie ein wüthender Tiger sprang Viktor, von den Piken feiner Begleiter gedeckt, auf den Marburger zu und durch da« Schwert getroffen sank dieser zu Boden. Markgraf Berthold hatte inzwischen den Rückzug an getreten und glaubte sich durch die Flucht retten zu können; aber sein geheimer Ausgang war durch Hektors Fürsorge besetzt und manch blitzendes Schwert starrte ihn» entgegen, um ihm den Ausgang zu ver wehren. Von allen Seiten angegriffen, fiel auch er und hauchte seine Seele auf der Stelle aus, wo er die Hand zur Unterstützung der Feinde seines eigenen Landes gegeben hatte. Blutig war die Arbeit dieser Nacht und der Racheengel ruhte nicht, bis sein Werk vollendet war. Dutzende von Leichen lagen in dem Gewölbe aufge häuft, aus dem man Martin und Eleonore im Triumph hinwegführte. * * * Hell und freundlich ging am folgenden Morgen die Sonne über der jubelnden Stadt auf und ein festlicherer Tag ist nie in Baden und im ganzen Kaiserreich gefeiert worden. Mit dem Tode Konrads von Marburg sank die Macht der Inquisition und ihr Einfluß hatte ein Ende erreicht. Eine begeisterte Volksmenge hatte sich um das Gebäude gesammelt, in dem der kühne Streich geführt wurde und jubelnd führte man die Gefangenen davon. Die Marterwerkzeuge wurde« herausgeschleppt, zer trümmert und auf dem. Markte verbrannt, die Asche in den Winden zerstreut und alsdann vom Gebäude kein Stein auf dem andern gelassen. Viktor von Antiochien tvard Markgraf in Baden und ward der Segen seines Landes. Eleonore OlS- hcim nahm den christlichen Glauben an und es war ein Festtag für die guten Heidelberger, als Martin sie zum Altar führte. Balduin von Thre und Luise genossen nicht weniger das Glück, welches das brave Mädchen in so hohem Maße verdiente. Die von Eleonore aufgefundencn Schätze ihres Vater- ver- theilte sie zum großen Theil unter die von der In quisition so schwer heimgcsuchten Bürger der Stadt, vergaß aber des braven Bardolfs, Försters und des alten Fornbach nicht dabei. Viele Mißbräuche gab es iu Bade» abzustellen und Viktor ging mit Eifer an sein Werk. Leben und Eigenthnm wurden sichergestellt und wer unter der Macht der Vehme gelitten hatte, tvard nach Kräften unterstützt. Und als es wieder Frühling wurde, hatte er die Macht, welche noch im Geheimen gegen ihn wirkte, besiegt, und stolz durfte er auf das voll brachte Werk zurückschaucn. Jrrthümer. Roman von Karl Ed. Klopfer. I. (Nachdruck verboten.) Der Zug brauste durch die Nacht. Die kleinen Lampen in den Coupecs spiegelten sich trüb in den Fensterscheiben, die der Herbstnebel mit einem nassen Hauch belegt hatte. Der feine Regen, der auf die Blechdächer der Waggons herabrieselte, beförderte niit seinem monotonen Geränsch die Schlaflust der Passa giere. In einem übervollen Coupee der zweiten Wagen klasse, wo die Reisenden wie in einem Pferch durch einander lagen nnd vergeblich erquickenden Schlaf suchten, lehnte in einer Fenstcrecke ein junger Mann. Seine Augenlider waren geschlossen, der Kopf müde an die Polsterwand geneigt, aber kein Schlummer senkt sich auf seine Sinne. Von Zeit zu Zeit strich er sich über den dunklen, wohlgcpflegten Vollbart, wie es oft unter inneren Reflexionen geschieht. So eine nächtliche Fahrt ist ganz besonders dazu geschaffen, Betrachtungen anzuregen; die Bilder ver gangener Tage, Gestalten aus einer Zeit, der wir sonst niemals mehr gedenken, ziehe» in seltsamer Leben digkeit vor dem geistigen Auge vorüber. Solche Bilder beschäftigten die Gedanken des jungen Mannes, nnd halb verblaßte Jugenderinner ungen tauchten aus dem Staub empor, den das müh selige Ringen im Wirrsal des Lebens darüber anfgc- gehäuft hatte. Heinrich Sormann kam von Berlin, wo er eine bedeutende Stellung in einem gießen Handlungshause eingenommen hatte. Die kaufmännische Karriere war ihm so zu sagen schon an der Wiege gesungen worden. Seine Mutter kam als Amme in das Haus eines angesehenen Kaufherrn in Leipzig. Durch die Milchbruderschaft enge mit dem jungen, einzigen Sohn der Familie verbunden, hatte er mit diesem dieselbe Erziehung genossen. Der alte Marfelv, der Chef der hochgeachteten Firma Marfeld n. Comp., be trachtete den kleinen Heinrich nach dem Tode von dessen Eltern fast als seinen Adoptivsohn, er ließ ihn an demselben Unterricht theilnehmen, den sein Sohn Robert erhielt, und räumte ihm völlige Familienrechtc ein. Später allerdings, als Herr Marfeld nach kurzer Wittwerschaft sich zum zweiten Male vermählte, gestalteten sich die Verhältnisse, die sich bisher dem Heranwachsenden Heinrich so günstig gezeigt hatten, etwas mißlicher. Die hochmüthige Stiefmutter, die kaum dem Sohne ihres Gatten Shmpathie entgegen brachte, betrachtete Heinrich als einen Eindringling, umsomehr, als ihr selbst der Kindersegen versagt blieb. Sie wußte ihrem Gatten, auf den sie nur zu bald einen außerordentlichen Einfluß gewonnen hatte, all mählich den „kleinen Schmarotzer" zu entfremden. So war cs gekommen, daß das Band, welches Sormann an die Familie Marfeld gefesselt hatte, bedeutend gelockert wurde, als Robert nach London reiste, um daselbst seine kaufmännische Bildung, dem Wunsche seir,cs Vaters gemäß, zu vervollkommnen, während Heinrich zu gleicher Zeit und zu gleichem Zwecke in ein Pariser Haus eintrat. Damals waren die beiden Milchbrüder lind Jugendfreunde fünfzehn Jahre alt, beide für ihr Alter mit außergewöhnlichen Kenntnissen ausgerüstet. Das Leben in der Weltstadt, der Kampf des bald völlig auf seine eigenen Kräfte angewiesenen Jünglings entfremdete später Heinrich immer mehr dem Leipziger Heimathshanse, wo Frau Marfeld alles aufbot, den Adoptivsohn vergessen zu machen. Heinrich wies die Hilfe Marfelds zurück, als er mit einer ihm besonders cigcnthümlichen Feinfühlig keit erricth, daß sein früherer Wohlthäter, dem Ein fluß seiner Gattin nachgebend, ihn unbequem zu finden begann. Schließlich brach sogar die Korre spondenz zwischen Pari« und Leipzig ab, nachdem sic schon seit geraumer Zeit lauer geworden war. Auch der Briefwechsel mit dem Jugendgenossen gerieth allmählich ins Stocken. Robert, dessen Charakter anlage mehr einer leichtsinnigen Lebensweise zuneigte, welche durch die ihm vom Vater reichlich zuaemcssencn Mittel unterstützt wurde, fand an den Gesellschaften der englischen Metropole mehr Gefallen, als an den oft mit gute» Lehren gespickte» Briefen Heinrichs. Als dieser endlich nach sechs Jahre» das Feld seiner kaufmännischen Thätigkeit »ach Berlin verlegte, schien das Frenndschaftsverhältniß endgültig gelöst. Ohne aufregende Katastrophe, ohne eigentlichen Anlaß waren die Fäden zerrissen, die einst den jungen Sormann mit Marfelds verbunden hatten. Die ganze Epoche seiner Jugend war untcrgegangen in dem mächtigen Strudel, der Welt und Leben heißt, und nur selten stiegen einige Blasen vom Grunde auf, die an die Vergangenheit erinnerten. Der bunte Jahr markt des Lebens ließ Heinrich kaum zum Bewußt sein dessen komme», was einer längst verschwundenen Zeit angehört hatte. Ein Rückwärtsschauen ist der Jugend fremd, und im allgemeine» Wettrennen nach dem Glück beschäftigten sich seine Gedanken meist nur mit Gegenwart und Zukunft. Heinrich hatte ein sehr empfängliches Gcmüth für das Kaufmännische, das unserm Zeitalter seinen Stempel aufprägt; Erwerb und Besitz hatten für ihn genug Verlockendes, dem er manches Ideal, manchen romantischen Jugcndgedanken aufopfcrte. Dennoch war er kein eigentlicher Streber unter den Dutzend menschen. Gewisse Anlagen, deren er sich selbst kaum bewußt war, schlummerten in ihm und warteten der Währung, der Krisis, wie sic gewöhnlich im Charakter des Mannes zwischen dem zwanzigsten und fünfund- zwanzigsten Lebensjahre aufzutreten pflegt. Aber diese Krisis ließ sich noch immer nicht bei ihm merken, selbst als Heinrich schon ins achtund- zwanzigste Jahr trat. Das praktische Leben, das ihn im Gcbrause der Weltanschauung nach der einen Seite hin weit über sein Alter hinaus gereift hatte, ließ die verborgenen Keime nicht emporkommcn. Heute nun gab er sich in einer Coupee-Ecke mit einem ganz seltsamen Gefühle den Träumereien hin, die ihn immer mehr gefangen nahmen. Er wurde zu seinem eigenen Erstaunen inne, daß er noch nie so lange bei Erinnerungen und Reflektionen geweilt hatte. Aber er überließ sich ohne Widerstand den Bildern, die an ihm vorüberzogcn und ihn allmählich ins Reich des wirklichen Traumes führten. Er sah sich an der Seite Roberts in der kleinen, gemächlichen Arbcitsstube sitzen, die ihnen im Marfeld scheu Hause cingeräumt worden war. Er schrieb seine Schulaufgaben mit dem Milchbruder, zu dem er sich wie zu einein zweiten Ich hingezogen fühlte. Rian sah die beiden Knaben immer beisammen, die man für Zwillinge hielt, ihrer erstaunlichen Aehnlichkeit wegen. Derselbe Gesichtsschnitt, dasselbe Haar, ja sogar der fast gleiche Klang ihrer Stimme, das Alles machte sie zu wirklichen Brüdern. Und wie lebhaft das Bild des Jugendfreundes vor dem inneren Auge des Träumers stand! Jetzt öffnete sich die Thür. Die gravitätische, stattliche Figur des Vater Marfeld trat ein. Er erkundigte sich nach den Arbeiten der Knaben und prüfte sic. Heinrich fühlte deutlich die weiche, fleischige Hand des Kaufherrn, die ihn belebend auf den Kopf tätschelte — o, wie wohl that das Gefühl des Heimathsbesitzes! Heinrich sah mit thränenden Angen in das gute, wohlwollend lächelnde Gesicht des Herrn Marfeld. Aber merkwürdig, je länger er darauf hinsah, desto mehr verschwand der milde, heitere Zug in dem runden, guten Gesicht. Der Mund zog herbe Falten, das Auge gläuzte kalt uud gleichgiltig auf ihn herab, das dicke Kinn verschwand würdevoll in der breiten weißen Halsbinde . . . und jetzt wurde» auf dein kleine» Korridor, der nach dem großen Speise zimmer der Familie führte, kurze, abgemessene Schritte hörbar. Heinrich erschrak und sprang auf, denn er kannte sie nur zu wohl, diese Schritte. Er klammerte sich an Robert, aber der lachte und kehrte ihm den Rücken. Wieder ging die Thür auf — die Gestalt einer Dame im dunklen Scidenkleidc rauschte herein. Als sie Heinrich erblickte, runzelte sie die strengen Brauen und rief mit schneidender Stimme — „Dirschau — fünfzehn Minuten Aufenthalt! Umsteigen nach Königsberg! — Die Billets nach Danzig, wenn ich bitten darf!" Sormann fuhr empor und riß die Augen auf. „Haben Sie Billet nach Danzig?" rief der Schaffner, der vor ihm in der geöffneten Coupcethüre stand. „Ja, gewiß," stammelte Heinrich, noch ganz schlaf trunken, während er in seine Westentasche griff, „bin ja der ... . nene Disponent von . . von Ertl u. Hesse ... in Danzig!" Der Schaffner sah ihn einen Augenblick erstaunt an, dann betrachtete er da« ihm übergebene Fahr billet und wandte sich an Heinrichs Gegenüber, das er erst durch ein kräftiges Rütteln an der Schulter zum Erwachen bringen konnte. Sormann' dehnte sich, gähnte und hüllte sich fröstelnd in seinen Mantel, denn durch die offene Wagenthür drang die scharfe Hcrbstmorgenluft herein.