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— 113 — einen Landes- oder Provinzialarbeitsnachweis, und diese wiederum in einer Reichszentrale zu einer Einheit vereinigt. Nach unseren Darlegungen wäre also eine Reichsarbeits losenversicherung sehr wohl möglich. Da aber zurzeit keine Anzeichen für die Einführung sprechen, so wollen wir uns einmal bei den Bundesstaaten umsehen, ob die nicht gewillt sind, das Arbeitslosenproblem zu lösen. Wie gleich bemerkt sein mag, nur Bayern und Baden sind in eine ernste Erwägung des Arbeitslosenproblems eingetreten. Beide Bundesstaaten haben die Ergebnisse ihrer Beratungen in Denkschriften niedergelegt. Als im Februar 1908 ein Abgeordneter im bayerischen Landtag den Antrag eingebracht hatte: Es sei die Königl. Staats regierung zu ersuchen, dem Landtage baldmöglichst einen Gesetz entwurf vorzulegen, nach dem Vereine (Gewerkschaften), die bei eintretender Arbeitslosigkeit ihren Mitgliedern statutenmäßig Unterstützung gewähren, einen Zuschuß aus Staatsmitteln erhalten, beschloß der soziale Ausschuß einstimmig, die Königl. Staats regierung um folgendes zu ersuchen: Die Herstellung einer ganz Bayern umfassenden fortlaufenden Arbeitslosenstatistik baldigst in Angriff zu nehmen, ihre auf den Ausbau und die Neutralisierung gerichteten Bestrebungen fortzusetzen und bei den größeren Stadt gemeinden die Errichtung einer Arbeitslosenversicherung für ihre Gebiete anzuregen. In der ebenfalls beschlossenen Aussprache von Interessenten der Arbeitslosenversicherung wurde mit zwei Drittel-Mehrheit erklärt, daß das Genler System in Verbindung mit einer Unterstützung der Unorganisierten am geeignetsten sei. Das Gesamtergebnis dieser Beratungen teilte die Königl. Staatsregierung dann einer Reihe von größeren Städten mit. Die Bedenken, die gegen die Einrichtung einer öffentlichen Zwangsarbeitslosenversicherung unter Heranziehung der Arbeit geber zur Deckung der Kosten vorgebracht wurden, hatte die Regierung als berechtigt anerkannt. Dagegen hielt die Regierung die Einwände, die gegen die Errichtung kommunaler Ver sicherungen erhoben werden, nicht für so stichhaltig, daß nicht wenigstens ein Versuch damit angezeigt erscheine. Um einem allgemeinen gleichen Vorgehen der Städte die Wege zu ebnen, unterbreitete die Regierung den Städten ein Musterstatut. An diesem Musterstatut haben wir folgendes zu bemängele: Arbeitnehmer, deren Gehalt, Lohn und sonstiges Entgelt 2000 Mk. übersteigt, werden nicht ausgenommen, so bestimmt A 9 Abs. 2 des Statuts. Wenn eine Grenze festgelegt werden soll, so ist die Summe von 2000 Mark mindestens um die Hälfte zu niedrig gegriffen. Warum sollen die Leistungsfähigeren nicht zur Versicherung herangezogen werden? Sie können ebenso, wenn auch nicht in dem Umfange, stellenlos werden, und wenn sie durch familiäre oder andere Verhältnisse nichts sparen konnten, sind sie im Falle der Stellenlosigkeit schlimmer daran als solche, welche an eine geringe Lebenshaltung gewöhnt waren. Ver gleicht man den letzten Abschnitt dieses Paragraphen: Aus geschlossen sind Arbeitnehmer, die bereits anderweit gegen die Folgen der Arbeitslosigkeit versichert sind, mit dem Paragraphen 33: Arbeitnehmervereine, welche die Arbeitslosenversicherung betreiben, mindestens 50 in wohnhafte oder beschäftigte Mitglieder zählen und in eine eigene Verwaltungsstelle besitzen, können zur Teilnahme an der Zuschußkasse zugelassen werden, so ergibt sich hieraus ein gewisser Widerspruch. Solche einander entgegengesetzte Bestimmungen sollten in einem Musterstatut vermieden werden. Im einzelnen wären noch manche Beanstandungen vorzubringen, doch würde dies hier zu weit führen. Wir dürfen uns aber keineswegs verhehlen, daß das Vor gehen Bayerns trotz einiger Bedenken einen Fortschritt bedeutet. Wie der Minister Brettreich im zweiten Ausschuß der Reichsrats kammer (8. Juni v. I.) ausgeführt hat, soll die Mustersatzung den Städten als Richtschnur dienen. Vorerst wollte der Staat nicht selbst eine Arbeitslosenversicherung ins Leben rufen, sondern nur zu praktischen Versuchen Anregung geben. Das Ergebnis der badischen Denkschrift gipfelt in einer unumwundenen Anerkennung des Genter Systems. In ausge zeichneter Weise widerlegt der Referent eine Reihe von Ein wendungen gegen das Genter System. Auf den alten Vorwurf, das Genter System führe den Verbänden neue Mitglieder zu und stärke somit deren Kampfmittel, entgegnet die Denkschrift, daß die Erfahrung nirgends gelehrt habe, daß dies zutreffe, und die Entwicklung der Berufsverbände ließe sich auf solchen Wegen weder fördern noch hemmen. Gesetzt aber auch, es fände da und dort unter der Einwirkung des Genter Systems ein stärkeres Strömen in die Verbände statt, so dürfe man dem gegenüber nicht die Vorteile unterschätzen, die der Gesamtheit durch das vertrauensvolle, zu gegenseitigem Verständnis führende Zusammenarbeiten zwischen den Verbänden und den Stadt verwaltungen entstehen. Die Schuldfrage könne bei diesem System ohne Schwierigkeiten gelöst werden. Der Einwand, daß das Genter System gerade die bessergestellten, mit einem geringen Berufsrisiko behafteten, qualifizierten Arbeiter unter stütze. verliere seine Berechtigung mit der Anerkennung des Grundsatzes: „öffentliche Hilfe für die Selbsthilfe", denn die Selbsthilfe sei eben vor allem bei den qualifizierten Arbeitern — und zwar als Verbandshilfe — ausgebildet. Um auch die Unorganisierten an den Segnungen der-Mnrichtung teilnehmen zu lassen, schlägt die Denkschrift eine Ergänzung des Genter Systems in der Form einer Versicherungskasse, etwa nach der stadtkölnischen Versicherung, gegen Arbeitslosigkeit im Winter vor. Unter Berücksichtigung der im In- und Auslande ge machten Erfahrungen kommt die Denkschrift für eine Inangriff nahme der Arbeitslosenversicherung zu dem Resultat, daß nur durch größere Kommunalverbände Vorsorge getroffen werden kann. Wenigstens so lange, als nicht von Reichs wegen eine Regelung der Arbeitslosenversicherung stattfindet. Zunächst sollen die in der Industrie und im Handwerk beschäftigten Arbeiter herangezogen werden, und erst allmählich soll eine Ausdehnung des Personenkreises stattfinden. Aus den übrigen Leitsätzen ist noch bemerkenswert, daß für den Fall, daß die Nichtorganisierten Arbeiter nicht in dem wünschenswerten Maße von der Ver sicherung Gebrauch machen, ein Gesetz geplant ist, das die Gemeinden ermächtigt, auf Grund eines Ortsstatuts eine obligatorische Arbeitslosenversicherung cinzuführen und hierfür Beiträge zu erheben. Eine kommunale Arbeitslosenversicherung mit Versicherungs zwang befürwortet auch die Stadt Düsseldorf. Da es zurzeit gesetzlich unzulässig ist, eine Zwangsversicherung einzuführen, so wurde in einer Stadtverordnetenversammlung beschlossen, den Erlaß eines Reichsgesetzes zu betreiben, das den Gemeinden das Recht zur Einrichtung kommunaler Arbeitslosenversicherungs kassen mit Beitrittszwang für die in Frage kommenden, im Gesetze noch näher zu bestimmenden Personengruppen verleiht. Unsere Ausführungen haben gezeigt, daß der Ausbau der Arbeitslosenversicherung im Gange ist. Für die Arbeiter handelt es sich ebenso wie für die Privatangestellten nun darum, wie sie sich zu dem Ausbau stellen wollen. Wir haben gesehen, daß eine Reichsarbeitslosenversicherung möglich wäre und die beste Regelung bedeuten würde. Ansätze zu bundesstaatlichen Regelungen sind vorhanden, sie wären aus den hervorgehobenen versicherungstechnischen Grundsätzen der kommunalen Regelung vorzuziehen. Da aber in der gegenwärtigen Zeit nur auf eine Förderung des Problems durch die einzelnen Städte und von Fall zu Fall zu rechnen ist, so sollten die Privatangestellten diese Regelung im Auge behalten. Eine Unterstützung des Düsseldorfer Vorschlages liegt nicht im Interesse der Berufsverbände. Gegen ihn ist einzuwenden, daß er die Regelung dem Ermessen der Stadtverwaltungen an heimstellt, anstatt alle Städte aufzufordern, eine Versicherung einzurichten. Eine vom Reich vorgeschriebene Zwangsversicherung würden auch wir begrüßen, aber die Trägerinnen der Versicherung müßten die Berufsverbände sein. Daß sich diese am besten dazu eignen, zeigt das Beispiel von Straßburg. Diese Stadt leister (nach dem Genter System) Zuschüsse an die Berufsverbände. Der städtischen Versicherung haben sich auch alle Privatange stelltenverbände, die Stellenlosenunterstützung gewähren, ange schlossen. Nach dem letzten Jahresbericht sind alle Maßnahmen im vollen Einverständnis mit den Gewerkschaften erfolgt. In dem Bericht ist besonders hervorgehoben, daß über die Zuweisung der Arbeitslosen in neue Stellen, insbesondere auch nach aus wärts, im Berichtsjahr mit den Gewerkschaften nicht die geringste Streitigkeit entstand. Dies Resultat ist um so bemerkenswerter,