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— 102 — Nach übereinstimmender internationaler Anwendung ist Arbeits losigkeit vorhanden, „wenn ein arbeitswilliger und arbeitsfähiger Arbeitnehmer seine Beschäftigung verloren, eine andere angemessene Beschäftigung noch nicht gefunden hat und zurzeit nicht finden kann". Gegen diese Definition, die wir der Denkschrift der badischen Regierung (über die Arbeitslosenversicherung) entnommen haben, kann man einwenden, daß der Begriff „angemessene Be schäftigung" etwas dehnbar ist. Mit dieser Definition mag man auskommen, wenn es sich nur darum handelt, ob der Stellenlose unterstützt werden soll oder nicht. Liegt der Fall aber so, daß dem Arbeitslosen eine Stelle angeboten wird und er diese nicht annimmt, so entstehen Schwierigkeiten. Diese Schwierigkeiten können zum Teil durch die genauere Bestimmung über den Begriff „Arbeit" behoben werden, die der § 5 (Abs. 4) des Jn- validenversicherungsgesetzes enthält. Unter Arbeit ist danach zu verstehen, eine den Kräften und Fähigkeiten (der Versicherten) entsprechende Tätigkeit, die ihnen unter billiger Berücksichtigung ihrer Ausbildung und ihres bisherigen Berufes zugemutet werden kann. Aber auch diese Verbesserung ist noch ergänzungs bedürftig. Es müßte noch zum Ausdruck kommen, daß der Arbeitslose entsprechend seinem Beruf und seinen Fähigkeiten nur unter den üblichen oder angemessen erscheinenden Arbeits bedingungen Arbeit anzunehmen braucht. Ferner wäre etwaigen Differenzen vorgebeugt, wenn genau bestimmt würde, wann und unter welchen Bedingungen auswärts Arbeit anzunehmen ist. Unter den Mitteln, die heute angewandt werden, um die von der Arbeitslosigkeit Betroffenen vor ihren schlimmsten Folgen zu schützen, sind besonders die Arbeitslosenunterstützung und die Arbeitslosenversicherung zu nennen. Eine große Bedeutung haben die Arbeitslosenunterstützungen erlangt. Zuerst waren es die Arbeitergewerkschaften, die ihre Mitglieder bei eintretender Arbeits losigkeit mit Geldbeträgen unterstützten. Seit einigen Jahren haben aber auch die Privatangestelltenverbände angefangen, Verbandsstellenlosenunterstützungen einzuführen. Nach den An gaben des Statistischen Jahrbuchs haben allein 10 kaufmännische Verbände Stellenlosenunterstützungen eingeführt. Die Summen, die sie im Jahre 1909 dafür ausgegeben haben, variieren (je nach der Größe des Verbandes und den sonstigen Verhältnissen) etwa zwischen 3000 und 100 000 Mark. Die fünf Techniker verbände mit Stellenlosenunterstützung haben in demselben Jahr (abgesehen von dem kleinen Verband der Musterzeichner, Großen hain i. S.) etwa 4000 bis 38 000 Mark an Stellenlosen- unterstützung ausgezahlt. Diese Zahlen sollten denen zu denken geben, die bei der Erörterung des Arbeitslosenproblems immer nur von Hand arbeitern reden und schreiben. Es wird nachgerade Zeit, daß auch die Privatangestellten dokumentieren, daß sie nicht gewillt sind, sich bei der zukünftigen Regelung der Arbeitslosigkeit durch das Reich, die Bundesstaaten oder auch durch einzelne Kommunen übergehen zu lassen. Was die Verbände ihren Mit gliedern entsprechend ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit bieten können, reicht nicht aus, um der sozialen Stellung entsprechend sich über Wasser halten zu können. Sie werden dadurch nur vor der ärgsten Not geschützt. So anerkennenswert dies ist, es darf uns nicht von der Erkenntnis abhalten, daß Staat und Gemeinde auch diesen Verbänden mit ihrer Hilfe zur Seite treten müssen. Für die Privatangestellten liegen die Dinge oft so, daß ihr Gehalt manchmal kaum dem Lohn eines qualifizierten Arbeiters gleich kommt, sich oft aber auf derselben Höhe bewegt. Schon deshalb müssen sie an der Seite der Arbeiter bei der Lösung des Arbeitslosenproblems mitkämpfen. Eine umfassende Arbeitslosenversicherung tut auch ihnen not. Um aber etwaigen Mißverständnissen vorzubeugen, sei vorausgeschickt, daß es eine Arbeitslosenversicherung im technischen Sinne zurzeit nicht gibt und auch nicht verlangt wird. Eine solche Versicherung müßte auf einer mathematischen Berechnung des Risikos und der Risikoprämie beruhen und den Versicherten einen klagbaren Anspruch auf die Leistung der Versicherung gewährleisten. In dem heute angewandten Sinne wird mit dem Wort Arbeitslosenversicherung eine Einrichtung bezeichnet, die vom Standpunkt der Versicherungstechnik aus nur als Arbeits losenunterstützung gelten kann, aber darauf berechnet ist, die Funktionen einer Versicherung zu erfüllen. Mit der Zeit kann aus ihr eine Versicherungsorganisation werden oder sie in ihrem Wesen der Versicherung gleichkommen. Man könnte nun die Frage aufwerfen, ob die Arbeits losenversicherung überhaupt eine Angelegenheit ist, die den Staat oder die Gemeinden etwas angeht. Der Manchesterliberalismus hat bekanntlich die Meinung vertreten, daß man in das freie Spiel der freien Kräfte nicht eingreifen dürfe. Der freie Arbeits- Vertrag sollte den durch die älteren Gesetze Gebundenen die Möglichkeit geben, sich wirtschaftlich emporzuarbeiten; allerdings sollte dadurch auch die Selbstverantwortung der Arbeiter betont werden. Um eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage herbeizuführen, konnten sich die Arbeiter ja nunmehr zu Verbänden zusammenschließen. Nach dieser Auffassung war eine öffentliche Arbeitslosenfürsorge nicht diskutabel. Inzwischen haben sich nicht nur die Meinungen, sondern auch die wirtschaftlichen Verhältnisse geändert. Das Heer der Unselbständigen ist stärker geworden und ist noch im Wachsen begriffen. Wir haben heute neben der sozialen Frage des Hand arbeiters auch eine solche des Privatangestellten. Allgemein wird heute zugegeben, daß es Pflicht des Staates sei, für die wirtschaftlich Schwächeren zu sorgen. Damit kommt auch zum Ausdruck, daß es Sache des Staates ist, Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit zu treffen. Eine Reihe von denen, die den eben ausgesprochenen Gedanken für richtig halten, bezweifeln aber die Ausführbarkeit einer staatlichen Arbeitslosenversicherung. Vor allem erheben sie den Einwand, daß es an den nötigen Unterlagen fehle. So fehle uns eine zuverlässige Statistik, die uns über die mutmaß liche Häufigkeit der Arbeitslosigkeit Auskunft gibt. Der Ver sicherte könne jederzeit den Versicherungsfall (freiwillig arbeitslos werden) herbeiführen. Bei anderen Versicherungen müsse nur der Schaden ersetzt werden, hier aber müsse dem Versicherten zuerst Arbeit angeboten werden. Da entstehe nun die Frage, ob der Arbeitslose verpflichtet sei, die ihm angebotene Arbeit anzunehmen. Diese Frage zu lösen sei ein Problem, das in keinem Versicherungszweig vorhanden sei. Alle diese Einwände sind von hervorragenden Statistikern und Sozialpolitikern widerlegt worden. Man hat hierauf erwidert, daß die Statistik der Arbeitslosigkeit heute zweifellos sehr unvollkommen sei. Betrachte man aber die Geschichte der Lebens-, der Feuer-, der Transport- und anderen Versicherungen, so sehe man, daß alle diese Versicherungszweige im wesentlichen ohne Statistik begonnen und sich erst im Laufe der Zeit eine solche geschaffen haben. Jedenfalls stehe die heutige Arbeitslosen statistik haushoch über den statistischen Grundlagen, mit denen sich die meisten Versicherungszweige bei ihrer Entstehung hätten begnügen müssen. Wenn es der Haftpflichtversicherung gelungen sei, der Böswilligkeit bei der Herbeiführung des Versicherungs falles Herr zu werden, so kann dies bei anderen Versicherungs zweigen nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Die Frage, wieweit der Arbeitslose verpflichtet sei, die ihm angebotene Arbeit anzunehmen, ist, wie wir später an dem Beispiel von Straßburg sehen werden, nicht schwer zu lösen. Hier sei nur betont, daß die innige Verbindung eines gut geleiteten Arbeitsnachweises mit der Arbeitslosenversicherung eine Erleichterung des Ver sicherungsgeschäftes bedeutet. Nachdem wir so die Bedenken gegen die Verwendung staatlicher Mittel zum Zwecke der Arbeitslosenfürsorge aus dem Wege geräumt haben, können wir an die Schilderung der Maß nahmen Herangehen, die von den öffentlichen Körperschaften bisher getroffen worden sind. Die erste Anregung, das Reich zu veranlassen, Schritte gegen die unverschuldete Arbeitslosigkeit zu tun, gab der Stuttgarter Gewerkschaftskongreß von 1902. Er verlangte eine Arbeitslosenversicherung auf der Grundlage der freien Selbstverwaltung der Arbeiter und der Gewährung eines Reichszuschusses an Arbeitslosenunterstützung am Orte oder auf der Reise zahlende zentrale oder lokale Berufsverbände. Die Kosten des Reichsarbeitslosenversicherungszuschusses sollen zur Hälfte vom Reich, zur Hälfte von den Berufsgenossenschaften gedeckt werden. Je nach den Anforderungen durch die einzelnen Berufe soll das Reichsversicherungsamt die durch Berufs genossenschaften zu zahlenden Beträge festsetzen. Zu erheben