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209 — durch die Zusammenlegung verbilligt werden würden. Was aber auch ohne Vereinheitlichung erreicht werden könne, seien materielle Verbesserungen. Hierzu rechnet Stier-Somlo die Einführung der Witwen- und Waisenversicherung und der Privatbeamten versicherung im Anschluß an die Invalidenversicherung. Weiterhin bedarf aber auch das Rechtsverfahren dringend einer Verein fachung, da die Verschiedenartigkeit des Instanzenwegs als Mangel empfunden wird; die Aerztefrage muß endlich auf der Mittellinie der Verständigung gehalten und die Zentralisation der Krankenkassen muß gesetzgeberisch erleichtert werden. Ferner ist der Kreis der Versicherungpersonen durch Hinzuziehung der Dienstboten, Hausindustriellen und land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter zu erweitern. Auch die gesetzliche Feststellung des Begriffs „Betriebsunfall" muß endlich erreicht werden, damit nicht bei gewerblichen Erkrankungen, die unzweifelhaft auf Mängel der sozialhygienischen Einrichtungen des betreffenden Betriebs zurückzuführen sind, die Beteiligten mit der sehr niedrigen Invalidenrente vorlieb nehmen müssen. — Es ist bestimmt zu erwarten, daß die Regierung mit diesen materiellen Verbesserungen der Arbeiterversicherung, welche gleichmäßig von Vertretern der Wissenschaft und Praxis verlangt werden, im Herbst beginnt und gleichzeitig das Hilfskassengesetz, das in der vorigen Session des Reichstags beinahe fertiggestellt, durch die plötzliche Auflösung wieder aä sota gelegt werden mußte, endlich erledigt. Hoffen wir, daß die betreffenden Gesetzentwürfe frühzeitig veröffentlicht werden, damit die Fachpresse Gelegenheit findet, sich vor der Beratung im Reichstag eingehend mit denselben zu beschäftigen. Ueber das Wesen und die Behandlung von Nerven krankheiten nach Unfällen*) sprach im Reichs-Versicherungsamt am 27. April 1907 der leitende Arzt des „Hermannhauses" in Stötteritz bei Leipzig Prof. vr. Wind scheid. Er beschäftigte sich dabei überwiegend mit den sogenannten funktionellen Nervenerkrankungen. Unter diesen sind im Gegen sätze zu den organischen Nervenkrankheiten (Blutung, Entzündung, Geschwulst am Nervensystem) solche zu verstehen, die nach dem bisherigen Stande der Wissenschaft noch nicht anatomisch nach gewiesen werden können. Stehen diese Leiden mit Unfällen im Zusammenhänge, so bezeichnet man sie als „Unfallneurosen". Ihre beiden Hauptarten sind die „Unfallhysterie" und die „Un fallneurasthenie". Diese beiden Formen, für die auch die gemein same Bezeichnung „Unfallnervenschwäche" gebraucht wird, ver dienen unter den funktionellen Nervenerkrankungen, zu denen z. B. auch Epilepsie. Veitstanz usw. gehören, besondere Beachtung. Sowohl wegen ihrer immer größeren Verbreitung, als auch wegen der eigenartigen Beziehung ihrer Entstehung und ihrer Schwere zu der Unfallgesetzgebung. Sehr geeignet, das Nerven system zu erschüttern sind Unfälle, die mit großer Schreckwirkung, mit mechanischen Reizungen oder erheblichen Schmerzen verbunden sind. Oft genug finden sich aber nach einem ganz geringfügigen Unfälle, dessen unmittelbare Folgen bald beseitigt sind, erhebliche Veränderungen des Nervensystems in Form von Schwächezu ständen. Die ihrem Wesen nach noch unbekannte Veranlagung spricht hier entscheidend mit. Zahlreiche Personen aber werden nach Unfällen überhaupt nur dadurch oder doch in erheblich stärkerem Maße nervenleidend, daß sie die Erlangung einer Unfall rente zum Mittelpunkt ihrer Gedanken machen. Die Unfall nervenschwäche ist nach Professor vr. Windscheid in ihrer jetzigen Ausdehnung und in ihrem gegenwärtigen Grade erst durch die Unfallgesetzgebung entstanden. Durch die Konzentraüon der Gedanken bilden sich bei der Unfallhysterie an einer verletzt ge wesenen Stelle, an der die äußeren Verletzungen längst geheilt sind, dauernde Empfindungen aus, die jeder tatsächlichen Grund lage entbehren, oder es verdichten sich bei dem Verletzten gewisse Vorstellungen zu anscheinend organischen Veränderungen am Nervensystem: es entstehen hysterische Lähmungen, hysterische Störungen des Gefühls, Gesichtsfeldeinengungen usw. Mit den abnormen Vorstellungen, die das Wesen dieser Krankheit aus *) Vorliegender Artikel kennzeichnet die Anschauungen des Prof, vr. Windscheid, dem leitenden Arzte deS „Hermannhauses" in Stötteritz und verdient deshalb die Beachtung auch aller derjenigen, die als Unfall verletzte in dieLage kommen, dieser Anstalt überwiesen zu werden. Red. machen, hängt die verbreitete und nicht selten große Neigung der Kranken zur Uebertreibung und Ueberschätzung ihrer Beschwerden zusammen. Dagegen ist eigentliche Vortäuschung (Simulation) selten. Mit Recht habe das R.-V.-A. diejenigen Fälle als nicht entschädigungspflichtig ausgeschieden, in denen nach einem Unfälle zunächst erwiesenermaßen keine nervösen Störungen vorhanden waren, solche vielmehr erst durch den Kampf um die von dem Verletzten unberechtigterweise beanspruchte Rente entstanden sind (vergl. Rek. E. 1972 A. N. d. R.-V.-A. 1903 S. 196). Aber auch diese Fälle seien recht selten. Man werde nur dann zu der Annahme berechtigt sein, daß der Unfall selbst als wesentlich für die Entstehung des Nervenleidens nicht mehr in Betracht kommt, wenn der zweifellose Nachweis erbracht ist, daß längere Zeit nach dem Unfall, etwa mehrere Monate, völlige Arbeits fähigkeit bestanden hat, dann plötzlich in dem Verletzten aus irgend einem Grunde der Gedanke an die Rente aufgetaucht ist, und die daran sich knüpfenden Begehrungsvorstellungen zu einem Nervenleiden geführt haben, das, was das Krankheitsbild betrifft, sich nicht von einer unmittelbar nach einem Unfall aufgetretenen Neurose unterscheidet. Ziffermäßige Angaben darüber, binnen welcher Zeit ein Nervenleiden nach einem Unfälle sich zeigen müsse, um noch als Unfallfolge gelten zu können, lassen sich nicht geben, das Hauptgewicht werde auf die nach dem Unfälle wieder vorhanden gewesene völlige Arbeitsfähigkeit zu legen sein. Auch rein äußere Umstände spielten bei der Entstehung der Begehrungsvorstellungen eine Rolle, so die Beeinflussung durch die Umgebung, die Familie, die Arbeits- und Krankenhaus genossen, Unterweisungen durch Rechtskonsulenten, Anlage, Tem perament des Verletzten usw. Die schwersten Fälle von Unfall hysterie würden auffälligerweise meist unter den jungen und jüngeren Leuten gefunden. Abhilfe gegen das immer mehr über handnehmende Uebel der Unfallneurosen sei nur zu erhoffen, wenn Juristen und Aerzte sich zu gemeinsamer Arbeit die Hand reichten. Die Aerzte müssen die Krankheit immer mehr verstehen lernen und den entscheidenden Stellen die Grundlagen verschaffen, die Ansprüche der Unfallnervenkranken nach allen Richtungen hin überschauen und beurteilen zu können. Im zweiten Teile des Vortrags, die Behandlung der funktionellen Nervenkrankheiten, wurde ausgeführt, daß in einer großen Anzahl von Fällen alle Heilversuche daran scheiterten, daß den Patienten die Rente lieber sei als die Gesundheit. Andere seien derart in krankhaften Vorstellungen von der Schwere ihres Leidens befangen, daß sie an ihrer Heilung verzweifelten und niemals eine Besserung zugäben. Meist bilde — bewußt oder unbewußt — der Gedanke an die Rente, insbesondere die Besorgnis vor einer Rentenminderung das Hemmnis der Besserung oder gar Heilung. Wichtiger als alle Heilversuche sei die Ver hütung der Unfallneurosen. Zu diesem Zwecke müsse in frischen Fällen dafür gesorgt werden, daß hypochondrische Vorstellungen gar nicht erst entstehen. Der Arzt dürfe den Patienten nicht ängstlich machen, indem er ihm mitteile, was alles eintreten könne. Er müsse vielmehr, zumal wenn nach sorgfältiger Unter suchung ein organisches Nervenleiden auszuschließen ist, dem Verletzten durch ernstes aber gütiges Zureden Mut zusprechen und in ihm das Vertrauen auf völlige Heilung erwecken. Auch dürfe sich der Arzt nicht durch schroffes Bestreiten der vermeint lichen Beschwerden des Kranken um dessen Vertrauen bringen. Besonderer Wert ist nach Ansicht des Prof. vr. Windscheid zur Verhütung von Unfallneurosen darauf zu legen, daß die Be handlung des Verletzten sofort nach dem Unfälle von der B.-G. in die Hand genommen wird und nicht erst, nachdem ein Viertel jahr lang die Behandlung der Krankenkasse überlassen oder mangels Verpflichtung einer solchen ganz unterblieben war. Gerade im ersten Vierteljahre nach einem Unfälle könne in dieser Beziehung viel erreicht werden, wenn sogleich als Ziel mit ins Auge gefaßt werde, das Nervensystem zu kräftigen. Anderseits könne es schädlich wirken, wenn dem Verunglückten, der wochen- und monatelang nach dem K.-V.-G., da dies keine Teilgrade der Erwerbsunfähigkeit kenne, als erwerbsunfähig betrachtet worden ist und sein volles Krankengeld bezogen hat, plötzlich eröffnet werde, daß er nunmehr nach dem U.-V.-G. nur zu einem geringen Grade erwerbsfähig sei. Eine Anzahl von Unfallneurosen könne wohl auch im Keime erstickt werden, wenn in größerem Umfange