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163 Vermag der in seiner Erwerbsfähigkeit Beschränkte zu verdienen? Derjenige wird dann für invalide erklärt, der nicht ein Drittel soviel als ein Normalarbeiter verdienen kann. Ein Normal arbeiter braucht aber keineswegs ein Angehöriger desselben Berufs zu sein, dem der Rentenbewerber angehört. Das würde nämlich gleichbedeutend sein mit Berufsinvalidität. Der Gesetz geber hat vielmehr ausdrücklich gesagt: „eine Person mit ähnlicher Ausbildung". Also soll der Rentenbewerber mit dem Normal arbeiter einer Gruppe von Berufen, die eine ähnliche Ausbildung erfordern, verglichen werden; wenn damit auch eine Annäherung an die Berufstätigkeit nicht zu verkennen ist, so sollte doch eine Beschränkung auf diese selbst vermieden werden. Nehmen wir z. B. einen Kohlenhäuer. Dieser kann, wenn er invalide zu sein behauptet, nicht verglichen werden mit einem Manne, der keine ähnliche Ausbildung hat wie er, also z. B. im allgemeinen nicht mit einem landwirtschaftlichen Arbeiter. Der für ihn maßgebende Normalarbeiter muß vielmehr gewählt werden aus der großen Klasse der Bergarbeiter. Es ist zu ermitteln: Was verdient im Durchschnitt ein gesunder Bergarbeiter? Von dessen Verdienst wird ein Dritttel genommen, und die so erlangte Ziffer bestimmt die Jnvaliditätsgrenze, d. h. wenn der Rentenbewerber diesen Jahresverdienst zu erzielen nicht mehr imstande ist, so hat er als invalide zu gelten. Daraus folgt, daß Invalidität um so leichter anzunehmen ist, je höher sich der Verdienst des zum Vergleiche herangezogenen Normalarbeiters stellt. Für einen Buchhalter z. B. berechnet sich die unterste Ver dienstgrenze, bei der die Invalidität beginnt, auf 600 Mk., wenn für gesunde kaufmännische Angestellte auf der Stufe eines Buch halters das Jahreseinkommen sich auf 1800 Mk. beläuft. Nun kommt es aber vor, daß jemand zeitlich nacheinander mehrere Berufe gehabt hat. Muß man da etwa den Verdienst eines Normalarbeiters aus der letzten Berufstätigkeit zugrunde legen? Nein, denn das würde eine viel zu niedrige, für den Rentenbewerber ungünstige Verdienstgrenze ergeben. Ein Mann, der invalide wird, geht mehr und mehr in seinen Leistungen zurück. Darum hat die Rechtsprechung einen Ausgleich dahin geschaffen, daß ein Mann, der mehrere Berufe hintereinander gehabt hat, nach derjenigen Berufsgruppe einzuschätzen ist, der erzuletzt beiim wesentlichen ungeschwächter Arbeitskraft angehört hat. Es kommt weiter in Betracht das Erfordernis „derselben Gegend". Darunter ist zu verstehen das räumliche Gebiet, innerhalb dessen für gleichartige Arbeiter im allgemeinen gleich mäßige Lohnverhältnisfe bestehen. Das ist also keineswegs nur der Wohn- und Beschäftigungsort des Rentenanwärters. Wie der Verdienst des Normalarbeiters für eine möglichst große Berufsgruppe berechnet wird, so ist auch der Begriff „Gegend" nicht zu eng aufzufassen. In Oberschlesien hat man beispielsweise angenommen, daß der Verdienst des normalen Bergarbeiters im allgemeinen ver schieden ist, je nachdem es sich um das Hauptkohlengebiet oder um das südliche Gebiet handelt. Nach den Lohnverhältnissen in diesen beiden Gebieten, und nicht nach denjenigen der einzelnen Gruben, wird also die gesetzliche Jnvaliditätsgrenze zu be stimmen sein. Ist die Mindestverdienstgrenze in dieser Weise festgestellt, so fragt es sich weiter, auf was für Arbeiten der Versicherte zur Erzielung eines derartigen Verdienstes verwiesen werden kann. Sind das, um bei den angeführten Bespielen zu bleiben, nur die besonderen Arbeiten des Kaufmanns, des Bergmanns? Nein, das Gesetz will auch alle anderen Arbeiten berücksichtigen, die den Versicherten nach seinen Kräften und Fähigkeiten, und zwar unter billiger Berücksichtigung seiner Ausbildung und seines bisherigen Berufs zuzumuten sind. Und so kommen wir dazu, daß ein Buchhalter nicht allein auf eine rein buchhälterische oder sonstige kaufmännische Tätigkeit, ein Bergmann nicht lediglich auf rein bergmännische Arbeiten über und unter Tag verwiesen werden kann. Man hat sich zu fragen: Was für Arbeiten liegen dem bisherigen Berufe nahe? Das sind z. B. bei einem kauf männischen Buchhalter Schreibarbeiten jeder Art, bei einem Bergmanne, wenn er, wie das in Schlesien üblich, neben seinem Hauptberufe regelmäßig landwirtschaftliche Tätigkeit ausübte, landwirtschaftliche Arbeiten. Kann also der frühere Buchhalter mit irgend welchen Schreibarbeiten noch ein Drittel des Verdienstes eines Normalbuchhalters, d. h. nach obigem Beispiele noch 600 Mk., der oberschlesische Häuer nach seiner Bergarbeiter- Verdienstgrenze etwa 400 Mk. durch die ihm unter Umständen zuzumutenden landwirtschaftlichen Lohnarbeiten jährlich erzielen, so ist er nicht invalide. Dagegen bleibt eine selbständige Er werbstätigkeit im allgemeinen unberücksichtigt, da dem Versicherten nur solche Arbeiten zugemutet werden können, die an sich geeignet sind, das Versichertsein nach dem Jnvalidenversicherungsgesetze zu begründen. Endlich muß die Beschränkung dieser Art eine „dauernde" sein. Nicht jeder mehr oder weniger vorübergehende Erwerbs unfähigkeitszustand soll von den Trägern der Invalidenver sicherung entschädigt werden. Dafür hat vielmehr im allgemeinen die Krankenversicherung einzutreten. Auf eine Invalidenrente kann nur derjenige Anspruch erheben, bei dem nach vernünftigem, menschlichem Ermessen auf absehbare Zeit eine wesentliche Besserung seiner obigen Erwerbsbeschränkung nicht mehr zu erwarten ist, oder bei dem ein solcher Zustand der beschränkten Erwerbs fähigkeit ununterbrochen mehr als 26 Wochen hindurch an gedauert hat. (Monatsblätter für Arbeiter-Versicherung.) Bödiker P. Am 4. Februar 1907 starb in Berlin der erste Präsident des Reichs-Versicherungsamts, Wirklicher Geheimer Ober-Regierungs rat I)r. Bödiker. Se. Majestät der Kaiser und König hat in einem Beileids telegramm an die Witwe der treuen Dienste, welche Bödiker dem Kaiser und dem Vaterlande geleistet hat, und seiner hervor ragenden Verdienste auf dem Gebiete der Arbeiterversicherung anerkennend gedacht. „Mit Bödiker". so lautet der Nachruf des Präsidenten und der Beamten des Reichs-Versicherungsamts, „ist einer der verdientesten Mitarbeiter an dem großen Friedenswerke der Arbeiterversicherung heimgegangen. Der unermüdlichen Schaffens freudigkeit, großen organisatorischen Begabung sowie der wahr haft humanen, auf den Ausgleich der sozialen Gegensätze be dachten Gesinnung des Verstorbenen sind die Erfolge wesentlich zu danken, welche sich die deutsche Arbeiterversicherung im In lands wie im Auslande erworben hat. Mit aufrichtigem Schmerze stehen wir an der Bahre dieses Mannes, der als erster Präsident 13 Jahre (1884 bis 1897) die Geschäfte unserer Behörde ge leitet hat, und dessen Wirken uns stets vorbildlich bleiben wird." Die Art, wie Bödiker seines Amtes gewaltet hat, hat ihm das Vertrauen der Arbeiter und der Arbeitgeber gleichmäßig erworben. „HoheSachkenntnis, Verwaltungstalent, soziales Empfinden, vorurteilslose Unparteilichkeit, Bemühen die soziale Gesetzgebung mit gerechtem und sozialem Geiste zu handhaben, und Mit empfinden mit der Lage der Arbeiter" rühmt dem Dahinge schiedenen der „Vorwärts" nach. Er wiederholt das Abschieds wort eines Vertreters der Versicherten im Reichs-Versicherungs amte beim Ausscheiden Bödikers aus dem Amte: „Der Name Bödiker hat in den Herzen aller deutschen Arbeiterfamilien einen guten Platz und wird ihn behalten." In dem Nachrufe der „Deutschen Industrie-Zeitung" wird hervorgehoben: „Mit außergewöhnlichem Scharfblick hatte der Präsident des Reichs-Versicherungsamts die ihm zugewiesene Aufgabe auf einem Gebiet erfaßt, auf dem es kein Vorbild, keine leitenden Erfahrungssätze gab, auf dem vielmehr etwas ganz neues, in der Geschichte der sozialen Bewegung und Bestrebungen noch nicht Dagewesenes geschaffen werden soll. Unvergessen wird es bleiben, daß Bödiker die Berufsgenossenschaften stets als freie, auf der ehrenamtlichen Tätigkeit der Genossen, d. h. der Industriellen und Gewerbetreibenden, beruhende Körperschaften angesehen, und von diesem Gesichtspunkt aus den Verkehr des Reichs-Versicherungsamts mit ihnen geregelt und geführt hat. Er hat dadurch erreicht, daß die Mitglieder der Organe der Berussgenossenschaften die freiwillig übernommenen, große An forderungen an sie stellenden Aufgaben mit Freudigkeit und un entwegter Pflichttreue übernommen und gelöst haben.