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Industrie- uns Familienbtatt und Ckiitralorgan i»n sächsischm Gcivkrbcvmmc. ^ 21. Sonnabend, den 22. Mai. 1858. Dieses Blatt erscheint jeden Sonnabend in einem ganzen Bogen. Alle Postämter nehmen Bestellung darauf an. Preis: vierteljährlich 10 Neugroschen. Inserate finden auf der letzten Seite Ausnahme, und wird die gespaltene Pctitzeile oder deren Raum mit 1 Neugrvschen berechnet, — Erpeditionen: in Anna- terg: Redactcur Schreiber; in Chemnitz: Ernesti'S Buchhandlung; in Freiberg: I, G, Wolfis Buchdruckern; in Marienberg: Buchhändler Schreiber. Der Oberpfarrer zu St. Annen. Eine Sage der Neuzeit von Elfrird von Taurs. Unter den hohen Tempeln, welche die frommen Väter von dem Segen des erzgebirgischen Bergbaues gründeten, nimmt die St. Annenkirche zu ** eine der ersten Stellen ein. ES ist die Zeit noch nicht gekommen, ihren Standort näherzu bezeichnen, aber mancher Leser wird iönansdem Nach folgenden enLÄ-en. Teil Jahrhunderten haben die Ge schlechter der Menschen, welche der edle Dom zu seinen Fü hrst blühen und vergehen sah, mit Stolz und Freude zu ihm emporblickt, sich aber nicht an der Trefflichkeit des Bau werks genügen lassen, sondern seit den Tagen, da das Son nenlicht der gereinigten Lehre über die Nebel des Papstthums trinmphirte, darüber gewacht, daß diese Lehre darin lauter, rein und gewaltig in fortschreitender Enfaltung verkündigt würde. Auf manchen andern Ruhm kann die noch heute blühende Stadt Anspruch machen, aber ihr bester war im mer, eine Burg und Vormauer evangelischer Wahrheit zu sein, und wir könnten manchen Gottesstreiter nambaft machen, dessen Wort aus den Hallen des St. Annentempels weit über die Höhen des Erzgebirges, ja über die Marken des Sachsenlandes hinaus gedrungen ist. Doch auch die Sonne hat ihre Flecken, und so geschah es wohl, daß hin und wieder einer von den Männern, die in der St. Annen- gemeinde den Dienst am Worte versahen, nicht ganz dein Bilde entsprach, welches der fromme Sinn dieser Gemeinde sich von einem echten Diener Christi machte und das echt evangelischer Sinn sich von einem solchen allezeit machen wird. So stand vor etwa einem Menschenalter dem Seelen- hirtenamte zu St. Annen ein Mann vor, der zwar an Ge lehrsamkeit, Beredtsamkeit und äußerer Würde seines Glei chen suchte, im Lause der Zeit aber von der Volksstimme zu jenen Propheten gezählt wurde, von denen es heißt: richtet Euch nach meinen Worten, aber nicht nach meinen Thaten! Es giebt nicht leicht ein häßlicheres Laster für einen Christenmenschen, als die Habsucht, am allerschänd lichsten aber erscheint dasselbe an einem christlichen Geist lichen — und diesem Laster wollte man den gelehrten und beredten Di. N. nur zu ergeben finden. Vielleicht ist die nachfolgende, unmittelbar nach seinem Tode anfgcommene Sage nur ein Erzengniß des rächenden Volksgeistes, aber sie hat Gewährsmänner, denen weder Aberglaube noch Ver standesbeschränktheit beigemessen werden kann. Wir geben sie, wie sie uns von einem solchen mitgetheilt worden. Es war am Vorabend des ersten Advents l8.., als der knstor priinnrius an der St. Annenkirche, vr. N-, Abends spät von einem frohen Kindtaufsschmause nach Hause kam. Seine Gattin hatte schon längst ängstlich auf ihn ge wartet, denn sie wußte, daß er mit seiner Predigt auf mor gen noch nicht in Ordnung war, und ihr bangte, daß er wohl ein Gläschen über den Durst genommen haben und sogar zum Studiren unfähig geworden sein könnte. Allein zu ihrer großen Beruhigung erschien er ganz nüchtern; als sie ihn jedoch über Dies und Jenes, worauf eine Frau bei derartigen Gelegenheiten neugierig zu sein Pflegt, anssragte, gab er ihr etwas mürrisch den Bescheid, zu solchem Geplau der Hab' er jetzt nicht Zeit, er müsse seine^Predigt studiren; sie solle ibm die Studirlampe und die Kaffeemaschine zurecht macken, letztere, damit er sich nöthigensalls mit einer Tasse Kaffee munter erhalten könne. Beide Gegenstände standen schon bereit und der geistliche Herr begab sich mit einem kurzen „gute Nacht!" aus sein Studirzimmer. Vom nahen Aunenthnrme schlug es Zehn, als er dies betrat; es war also hohe Zeit zum Studiren. Allein er befand sich keines wegs in der hierzu nöthigen Stimmung; eine gewaltige Aufregung bewegte ihm Brust und Hirns Angeklcidct wie er war, maß er das Zimmer mit großen Schritten, trat dann an den ungeheuren, mit Büchern bedeckten Arbeitstisch, stierte in das flackernde Licht und schritt auf's Neue bin und her. Endlich nahm er das Licht, ging in das ansto ßende Bibliothekzimmer und kehrte bald mit einem Buche zurück, das an seinem schweinsledernen Einband Spuren eines ziemlichen Alters trug. Es war eine alte handschrift liche Chronik der Stadt. Er setzte sich damit aus den qrün- gepolsterten Armsessel und blätterte darin. Seite für Seite überflogen die kleinen, stechenden Augen, auf einmal standen sie still — „Ja, wahrhaftig!" ries er ans ^ „da stehts: item fand mau am ersten Advent dieses Jahres (es war das Jahr 1532) am frühen Morgen den Edlen Hanns Wvlffring, Burgemeister dieser Stadt, auch Lehnträger der Gruden am Wildberge, in seinem eigenen Hause erwürgt.