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von denen man im Jahre 1844 etwa 436 zählte. Auch die deutschen Küsten an der Nord- und Ostsee besitzen seit älteren Zeiten deichgesicherte Niederungen mit künstlicher Vorflut. Bemerkenswert an der Neuanlage am Memel-Delta ist nur die erstmalige Anwendung der Elektricität, hei der die Vorteile der Wirtschaftlichkeit in Anlage und Unterhaltung mit grofser Ein fachheit in betriebstechnischer Hinsicht Hand in Hand gehen. Die hier durch erzielten Ersparnisse erweisen sich von besonderem Wert in einer G-egend, wo die spärlichen Erträgnisse ausgedehnten Sumpf- und Moorlandes die bedeutenden Anlage- und Unterhaltungskosten der Meliorationen nicht zu decken vermögen, durch welch' letztere die erhöhte Steuerkraft des Bo dens ja erst entwickelt werden soll. Man darf von der Eindeichung und den ausgedehnten Schöpfwerk anlagen dieselbe vollständige Umwälzung in der Bewirtschaftung erhoffen, wie sie bereits in dem süd licher gelegenen Deichgebiet des seit'30 Jahren bestehenden Linkuhnen-Seckenburger Ver bandes eingetreten ist, inner halb dessen trotz der für die Entwässerung zu zahlenden Jahresbeiträge die Werte der Grundstücke auf das Dreifache von früher gestiegen sind, und Preise von 1200—1300 Mark für den Hektar als durchaus normale gelten. Die volkswirtschaftliche Be deutung der elektrischen Ener gieverteilung erwächst freilich erst zu voller Tragweite, sobald die Gefälle der Ströme den Kul turaufgaben der Landschaft dienstbar gemacht werden. Ost- preufsen birgt gröfsere Quellen produktiver Wasserkräfte, die zugleich für die Bevölkerung Wohlstandsquellen bedeuten könnten. Nach Professor Intzes Untersuchungen harren in den Stromgebieten desLandes gegen 40000 Pferdestärken industri eller und agronomischer Ver wertung. Die zahlreichen Projekte zur Entwässerung des Memel-Del tas lassen sich bis zum Jahre 1860 zurück verfolgen. Schon damals wurde eine Reihe von Verhandlungen zwischen den einzelnen Verbänden und In teressenten gepflogen, doch wollte es trotz eifriger Bemü hungen nicht gelingen, auf Grund der vorgelegten Entwürfe den Widerstreit der Parteien zu versöhnen. Erst Anfangs 1892, nachdem in den vorhergehen den Jahren 1888 und 1889 Hochfluten von bisher uner reichter Gewalt grofse Verwüs tungen angerichtet, gelang es Herrn Regierungs- und Baurat Danckwerts, einen Entwurf zustande zu bringen, der die schwierigeren Fragen in glücklicher Weise löste und die Grundbesitzer zu einem werkthätigen Deichverband einte. Am Kurischen Haff, einem flachen Süfswassersee, liegt das Memel-Delta (Fig. 1), eine sumpfige Niederung, die von zwei Armen der Memel um schlossen wird: Rufs und Gilge. Zahlreiche Wasserläufe, zersplitterte Strom mündungen durchziehen die Ebene und drängen zwischen Hochmooren, üppigem Wiesenland, sumpfigen Wäldern dem Haff zu. Im Frühjahr, wenn Ende März und Anfangs April die Sonnenwärme die Eismassen sprengt, und die Stromläufe mit wilden Fluten und treibenden Schollen füllt, dann ist die Gefahr nahe, dafs die Hochflut über die Niederungen dahinschwillt. Zwar sind der Rufs- und der Gilgestrom schon seit längerer Zeit eingedeicht, die Gilge längs ihren beiden Ufern, der Rufsstrom am linken. Doch bilden die beiden Dämme nur die zwei Schenkel eines Dreiecks, dessen Spitze bei Fig. 2. Dampfmaschine in der Centrale bei Tramischen. Schanzenkrug liegt und dessen offene dritte Seite der Überschwemmungs gefahr vom Haff her lange Zeit ausgesetzt blieb. Das Haff ist von der Ostsee durch den Dünenzug der Kurischen Nehrung abgeschlossen. Nur über eine enge Schwelle, das Memeler Tief, tritt das Wasser des 1621 qkm ausgedehnten weiten Beckens in die See hinaus. Die Folge davon ist, dafs in den Zeiten des Eisgangs und der mit wilden Hochgewässern herein drängenden Ströme das Kurische Haff seine Flutmassen nicht rasch genug in die See entleeren kann. Es bilden sich im Haff Wasserstände, welche verderbliche Höhen erreichen. Die Wogen werfen sich über den Strand und überschwemmen die Niederungen des Memel-Deltas. Besonders aber sind es westliche Stauwinde, welche die Fluten mit Gewalt nach Osten stauen und die grauen Sturzkämme in langen wirbelnden Zügen durch die ertrin kende Landschaft jagen. Der untere Teil der Niederung bildet dann auf meilenweite Strecken fast eine Wasserfläche mit dem Haff. Nur kleine, langgestrekte Anhöhen, die sich zu etwa 5 bis 6 m erheben, ragen noch hervor, so wie die durch Flufsauftrag er höhten Ufer der Flüsse und bil den aneinander gereiht schwim mende Inselketten. Auf ihnen erheben sich die Hütten der an ihrer Scholle treu hängenden Landbewohner, Schutz suchend vor Überschwemmungsgefahr. Der Verkehr zwischen den ein zelnen Ortschaften wurde zum Teil auf Kähnen vermittelt wie im Spreewald. Am günstigsten für den Verkehr ist der Winter, der die weiten Flächen mit Eis und Schnee deckt und zu festem Boden wandelt. Das Heu, das im Sommer gemäht und auf hohen, über Hochwasser liegen den Holzbühnen aufgestapelt war, wurde dann in der Win terszeit mittels Schlitten leicht und schnell eingeführt. Die schlimmste Zeit aber ist der „Schacktarp“, d. h. die Tage am Beginn und Ende der kalten Jahreszeit. Schon sind die Was serflächen erstarrt, die Boote können nicht mehr ihren Ruhe platz verlassen, aber noch ist die Eisdecke leicht und zer brechlich, dafs kein Menschen- fufs es wagen kann, darüber hinzuschreiten. So bleiben die Bewohner wochenlang von der Aufsenwelt abgeschlossen und auf ihre Scholle gebannt. Der Boden der Niederung liegt im Mittel auf Ordinate -j- 2,0 m am Petriker Pegel. Das gewöhnliche Hochwasser liegt auf -j- 1,8, überflutet also die tieferen Punkte. Es ist je doch schon in den Jahren 1888 und 1889 ein Hochwasserstand bis zu -f- 3,2 m eingetreten. Als Schutz gegen die, wie man sieht, in manchen Jahren sehr bedeutenden Überschwemmungsgefahren hat nun der Haffdeichverband auf Grundlage der Tracierungen des D anck wertssehen Projektes einen ungefähr 30 km langen Deich aufwerfen lassen, welcher den Strand des Kurischen Haffs, mit entsprechendem Vorland, entlang läuft, die Deiche des Rufs- und des Gilgestromes verbindet und so das Memel-Delta mit einem Schutzdreieck von Verwaltungen umschliefst. Der neue Haffdeich hat im Mittel 2 m Höhe bei 2\ m Kronbreite. Er ist aus Sand mit Lehmbekleidung auf einem 2—4 m starken Untergrund von Moor und Schlick errichtet. An den Stellen, an welchen die Deichlinie die einzelnen versprengten Mündungsarme der Ströme schneidet, sind neun Auslafsschleusen errichtet, die zur Zeit des Damm baues gute Dienste leisteten, und die auch für späterhin von Nutzen bleiben werden, da sie bei niedern Aufsenwasserständen die natürliche Vorflut der ab- 66