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Yon Taw Sein Ko. Aus dem Englischen nach der Imperial and Asiatic Review. Nachdruck verboten. C hina ist vergleichbar mit einem vorsündflutlichen Mastodon, wel cher, geblendet von dem Glanze des 19. Jahrhunderts, ins Leben zurückgerufen wird. — Seine Zeitgenossen, das alte Ägypten, Chaldaea, Assyrieh, Babylonien, Media, Persien und Judaea, das alte Griechenland und alte Rom, — alle, alle sind verfallen und unter gegangen. — Schon zu der Zeit, als die Pharaone ihre Pyramiden bau ten, erfreute sich China einer geordneten Regierung und einer hohen Zi vilisation. — Eine Nation, ■welche der Welt den Kompafs der Seefahrer, das Porzellan, Schiefspulver, die Buchdruckerkunst, Seide und Tliee be scherte, welche die grofse Mauer erbaute und welche sich trotz der vielen Veränderungen der letzten 5000 Jahre erhalten hat, ohne seine wesent lichsten Charakterzüge zu verlieren, von einer solchen Nation kann nicht behauptet worden, dafs sie ihrer Lebenskraft oder der Macht, sie zurück zugewinnen, beraubt sei. - - Die Chinesen sind eine arbeitsame und fried liebende Nation ohne irgendwelche Angriffsneigungen, aber mit einem klaren Begriff von Recht und Pflicht, eingeimpft durch die fünf Verwandtschafts arten des Lebens, nämlich: das Verhältnis zwischen Herrscher und Unter- than, zwischen Eltern und Kind, zwischen Bruder und Schwester, zwischen Mann und Weib, zwischen Freund und Freund. Wenn China nur für ein bis zwei Jahrzehnte in Frieden leben kann, dann ist Hoffnung vorhanden, dafs die Chinesen im stände sein werden, einige von den alten Fesseln, mit denen sie heute noch so fest umschnürt sind, abzuschütteln. — China, mit seiner Bevölkerung von ungezählten Millionen, ist ein selbständiges Land. Die Verschiedenheit des Klimas, die Reichhaltigkeit seiner Tier- und Pflanzenwelt, sein Reichtum an Mineralien, sein Acker bau und seine Fabriken machen es völlig unabhängig von der Zufuhr aus fremden Ländern. Hierin liegt auch der Grund, weshalb beharrlich und immer wieder der Vorwurf der Abgeschlossenheit gegen China er hoben wird. — Es ist eine Welt für sich und braucht keinerlei Verbin dung mit anderen Völkern zum Austausch in Handel und Gewerbe. — Dank der Verkehrserleichterungen unserer modernen Zeit und durch das Bedürfnis, Waren anderer in weniger günstiger Lage als China befind lichen Länder — auszutauschen resp. einzuführen, klopften fremde Kauf- leute an seine Thore, und sie mufsten sehr laut und lärmend klopfen, mufsten sogar Kraft und Gewalt gebrauchen, um endlich Einlafs zu er halten. — Zunächst blieb der fremde Handel auf nur wenige Häfen be schränkt, deren Zahl sich seitdem aber auf diplomatischem Wege oder infolge der Kriege etwas vergröfsert hat. — Es ist eine Ironie des Schicksals, dafs bisher die von fremden Mäch ten erkämpften Handelsrechte für die Chinesen selbst von gröfserem Vor teile geworden sind als für die Ausländer. — Die Produzenten, Zwischen händler und Konsumenten sind Chinesen, und der fremde Kaufmann lie fert nur den Verstand und das Kapital. — Diese Thatsache mufs auch wohl die chinesische Regierung im Auge gehabt haben, als sie jüngst die Eröffnung der inneren Wasserwege Chinas für Handel und Schifffahrt mittelst Dampfer und die binnen zwei Jahre zu geschehende Eröffnung eines Hafens in Hunan genehmigte. — Die Wirkung dieser Anordnung wird sehr bemerkbar sein, da sie Hilfe, Glück und Wohlstand über Tausende von Chinesen bringen wird, welche jene grofsen Strecken der bis jetzt verschlossenen Länder bewoh nen , ebenso wird sie der chinesischen Zentralregierung einen hübschen Zuwachs an Revenuen einbringen, mittelst deren dann wieder weitere Werke der öffentlichen Wohlfahrt unternommen werden können. — Unter den herrschenden Umständen, wo die Bildung, die Kultur, die Thatkraft, die Hilfsquellen und die militärischen Ausrüstungen Europas die anderen Kontinente beherrschen, geziemt es China, europäische Politik und die Erwägungen der Kabinette in London, Berlin, Paris und Peters burg, betreffs des Schicksals des fernen Ostens, auf das Genaueste zu stu dieren. Der letzte Marquis Tseng war weise genug, die auswärtige Po litik Chinas in einem sehr bemerkenswerten Artikel: „China, sein Schlaf und sein Erwachen“ zu besprechen. Würde er nach seiner Rückkehr nach Peking länger gelebt haben, so hätten sich ohne Zweifel manche seiner Pläne verwirklicht, und sein Geist würde nicht ohne Einfiufs auf die innere Verwaltung Chinas' geblieben sein. — Seit jener Zeit haben sich aber die Umstände gewaltig geändert, China hat aufgehört ein unabhängiger, von den fremden Nationen ge achteter Staat zu sein, und wird nun heute als eine „quantitö negli- geable“ betrachtet, welche herumgestofsen und mit Schimpf und Schande behandelt wird. — Rufsland, Frankreich und Österreich einerseits bilden eine Verbindung in Rivalität gegen England, Deutschland, Japan und die Vor. Staaten anderseits. — Die Fortdauer der Existenz Chinas und die Erhaltung eines solchen ausgezeichneten Marktes für das Produkt der europäischen, amerikanischen und japanischen Arbeiter ist zum Interessen streit dieser Mächte geworden. In der That, wäre die jüngste Erklärung Englands betreffs der Monroe- Doktrin nicht erfolgt, so würde niemand sagen können, was in den letzten wenigen Monaten aus jenem alten Kaiserreiche geworden wäre. — Der Krieg zwischen China-Japan (1894/95) stellte das Machtverhält nis in Ostasien wieder gleich. — Von England und Rufsland war China bis dahin als ein möglicher Bundesgenosse angesehen worden, aber die Milswirtschaft in seinen Unternehmungen brachten es in der grofsen Völker familie in eine verächtliche Stellung. Die Woge, der russischen Macht, bis dahin zurückgehalten durch die chinesische Grenze, ist darüber hin weggefegt gegen das Meer, und England, welches 1878 den Vertrag von St. Stefano annullierte und dadurch die Russen zwang, sich von Kon- stantinopel zurückzuziehen, befand sich nun Auge in Auge mit dem nor dischen Kolofs in eifriger Arbeit bei dem Nachlasse des anderen „Kranken Mannes“ des Ostens. — Nachdem China die verhältnismäfsig harmlosen diplomatischen Wehen während der dem Kriege mit Japan folgenden Periode überstanden hatte, kann man von einer Wiedergeburt Chinas und somit auch von einem „Neu-China“ sprechen. — Augenblicklich kann man nicht sagen, dafs China überhaupt eine auswärtige Politik verfolgt, und selbst wenn es eine hat, so ist sie zwangsweise und fremden Einflüssen unterworfen. — Für China ist es deshalb ratsam, seiner inneren Politik mehr Aufmerksamkeit zu wid men und sein Haus in Ordnung zu bringen. Wenn seine innere Verwal tung nicht gesund ist, wenn es nicht über ein glückliches und zufriedenes Volk herrscht, wenn es nicht einen vollen Staatsschatz kontrolliert und über einen hohen Kredit verfügt, so mufs sein Zusammenbruch und seine Unterwerfung unter fremdes Scepter erfolgen, so sicher wie die Nacht dem Tage folgt. — Fernstehende sind zu glauben geneigt, dafs China unter europäischer Herrschaft besser regiert sein würde. Aber es mufs daran erinnert werden, dafs gerade unter der besten aller europäischen Regie rungen — errichtet über ein verbündetes Volk — der alte historische Prozefs des „Victa victrix “ jetzt unmöglich sein würde, und dafs Mangel an Gemeinschaft, an Gedanken und Gefühl, an Religion und Sitte, ebenso wohl wie rassenartiges Vorurteil eine immerwährende Schranke aufbauen würde zwischen dem Herrscher und dem Beherrschten; — ferner, an Stelle von Gesetz und strenger Gerechtigkeit eine unsichere und willkürliche Laune setzen, würde Unzufriedenheit, Abneigung und Treulosigkeit erzeugen und allgemein zu dem Glauben Veranlassung geben, dafs ein freies Ziel nicht vorhanden sei, um ein gesetzliches rechtschaffenes Streben der Eingeborenen zu verwirklichen