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Bericht der Geraer Handelskammer über die Geschäftslage der Textilindustrie im Jahre 1897. F ür die hauptsächlich in unserem Bezirke in Betracht kommenden Industriezweige ist das Jahr 1897 eines der ungünstigsten gewesen, das die Textilindustrie und die verwandten Branchen in den letzten Jahrzehnten durchgemacht haben. Bei der grolsen Ausdehnung, die unsere Industrie genommen hat, ist sie reichlich am deutschen Aufsenhandel be teiligt, und Ereignisse und Vorgänge in fremden Ländern üben auf unsern Handel ihren Einflufs aus. Bleibt der einheimische Markt auch das wich tigste und in erster Linie zu kultivierende Absatzgebiet, so ist die In dustrie doch infolge Steigerung der Produktion wesentlich mit auf den Export angewiesen, und macht sich dann ein Ausfall im Absätze, wie er durch die amerikanischen Zollmafsregeln bewirkt worden ist, und durch Störungen in Südamerika, Indien u. s. w. nachteilig fühlbar. Von grofsem Interesse ist für uns die künftige Gestaltung der Handelsverträge mit den europäischen und aufsereuropäischen Staaten. Wird doch jetzt auch fast allgemein zugegeben, dafs es wohl keinem Zweifel unterliegt, dafs, was den deutsch-russischen Handelsvertrag (Caprivischen) anlangt, dieser Ver trag seinerzeit mit überhasteter Eile abgeschlossen wurde — wahrschein lich unter dem Drucke bestimmter politischer Pläne und Einflüsse — und dafs wir vor ähnlichen Fällen uns künftig hüten müssen. Dankenswert ist darum das Bestreben der Regierung, durch den zur Verbreitung künf tiger Verträge geschaffenen wirtschaftlichen Ausschufs sich Unterlage zu verschaffen, um die gesamten deutschen Interessen der Industrie und Landwirtschaft berücksichtigen zu können. Nicht zu unterschätzen ist die Eörderung unserer deutschen Kriegsflotte und die Landeserwerbung auf kolonialem Gebiet für unsere Exportindustrie. Der Handelskammer war bekannt geworden, dafs Spanien vom ersten Juli ab sämtliche Zölle um 10 °/ 0 erhöhen wollte. In Rücksicht auf die schon jetzt erschwerte Aus fuhr nach Spanien wandte man sich an das fürstliche Ministerium, gegen die Erhöhung geeignete Schritte zu thun. — Uber den Handel mit Wolle und Garnen sagt der Bericht Folgendes: Das Jahr 1897 ■stand, was den Artikel Wolle angeht, unter dem Einflüsse der durch die Aussicht auf Einführung der amerikanischen Hochschutzzölle, die im Laufe des Jahres zur Thatsaclie wurde, geschaffenen Verhältnisse. Während die Bedürfnisse der kontinentalen Industrie dahin strebten, den Preisstand für rohe Wolle wenigstens annähernd in Einklang mit den im Jahre 1896 aufser allem Verhältnis gesunkenen Preisen der Fabrikate zu bringen, widersetzte sich dem erfolgreich die amerikanische Industrie im Vereine mit der von gleicher Seite auftretenden Spekulation, während später allein die letztere das Feld behielt und den Markt beherrschte. Die Vereinigten Staaten waren Ende 1896 offenbar von Wolle entblöfst, und als die Aussichten auf Einführung •eines hohen ZoHes auf den Rohartikel immer sicherer wurden, beeilten sich alle Interessenten, sich auf längere Zeit hinaus mit WoHe zu ver sehen. Diese Deckungs- und Spekulationskurse haben bis zum 24. Juli 1897 angehalten, an welchem Tage der neue Zolltarif Gesetzeskraft erhielt. Bis dahin hatte sich die kontinentale Industrie nur vorsichtig mit Roh wolle versehen, da jeder Einkauf, gerechnet gegen die im Augenblick herr schenden Preise für Zeug und Garn, direkten Verlust liefs und der neue amerikanische Tarif ebenso gut im März/April statt erst im Juli Gesetzes kraft erlangen konnte, womit dann schon zu jenem Zeitpunkte die ameri kanische Konkurrenz vom Schauplatze verschwunden wäre. Als sie nun erst im Juli ihre Thätigkeit einsteUte, zeigte sich, dafs der Kontinent seinerseits so von Rohmaterial entblöfst war, dafs die Bedürfnisse der Ma schinen hinreichten, Wolle nicht nur auf ihrem hohen Standpunkte zu er halten, sondern sie im Laufe der Londoner September-Wollauktion noch um 5—7 1 /a °/o m steigern. Erst im November, als die neue Schur der Kolonieen in gröfserem Umfange der Industrie zugeführt wurde, hat sich die letztgenannte Avance wieder annähernd verloren. Die Produktion der Wolle in Australien hat um 2 °/ 0 abgenommen, die indessen durch die Mehrproduktion der La Plata-Staaten mehr als ausgeglichen wurde. Nach Inkrafttreten des neuen amerikanischen Zolltarifs hörte der Export sofort auf, und grofse Reduktionen griffen Platz. Die Spinner hatten geglaubt, dafs dieser Rückschlag sich auch auf Wolle erstrecken würde, und hofften, sich mit billigen Wollen versorgen zu können. Dieser Umstand trat nicht ein, und die Spinner standen erhöhten Wollpreisen gegenüber. Mit ent sprechenden Erhöhungen der Kammgarnpreise drangen die Spinner nicht durch, da die Webereien mangelhafte und noch genügende Kontrakte be sagen, die aufstrebende Bewegung also nicht unterstützen konnten. Umfangreiche Betriebseinschränkungen in den Spinnereien waren die notwendige Folge dieser Mifsverliältnisse. Absatz und Preise blieben für die Spinner auch nach der Abschwächung im November unzureichend und waren fortgesetzt verlustbringend. Ob die Spinner von der ihnen zu wün schenden Besserung werden profitieren können, bleibt abzuwarten. Die Vorbedingungen, gelichtete Läger in Garnen und Waren und gute Aus sichten für sich bereits fühlbar machenden in- und ausländischen Be darf, scheinen vorhanden zu sein. Der Bedarf an englischen Garnen, Mohair, Kamelhaar, Lustre,' Cheviot und Crofsbrad ist stetig im Steigen begriffen. Scliappeseide ist in Gera wohl noch nie in so grofsen Mengen wie 1897 verarbeitet worden. Die Mode lag halbseidenen Artikeln sehr günstig, da durch den billigen Preis des Artikels, solche Stoffe auch dem grofsen Publikum mehr zugängig gemacht werden konnten. Dem nicht befriedigenden Geschäftsgänge der Kammwollstofffabrikation im Jahre 1896 folgte ein noch weniger guter im Jahre 1897, das in seinen Resultaten wohl zu den schlechtesten seit langer Zeit zählt. Mit grofsen Opfern suchte man die grofse Zahl der Webstühle (11032) leidlich im Gange zu halten. Die unsichere Lage der amerikanischen Zolländerungen liefs eine gedeihliche Entwickelung dieses Geschäftes nicht zu. Es kommt dazu, dafs die Vielseitigkeit der hier erzeugten Kleiderstoffe hinsichtlich des Materials und der Ausrüstung sich von Jahr zu Jahr vermehrt hat. Sie bedingt eine immer schwierigere und kostspieligere Musterung und stellt an den Fabrikanten und Appreteur die höchsten Anforderungen. Der Umsatz an eigentlichen Stapelartikeln, der für einen normalen Gang der Webereien vorteilhaft ist, ist immer mehr zurückgegangen. Die Kündigung des eng lischen Handelsvertrages erfolgte von englischer Seite hauptsächlich wohl, um der gefürchteten deutschen Konkurrenz den Absatz in den Kolonieen zu erschweren. Da England an der Einfuhr in Deutschland ungefähr in gleichem Mafse beteiligt ist wie Deutschland an der Englands, so dürfte unsere Regierung bei Abschlufs des künftigen Vertrages genügende Hand haben besitzen, um eine Benachteiligung unserer Industrie abzuwenden. Die Fabrikation von Herrenstoffon, welche schon seit den 70 er Jahren in unserer I Stadt eingeführt worden ist, ist für unsere Weberbevölkerung zu einem immer bedeutungsvolleren, segensreicheren Erwerbszweig geworden. Die Fabrikanten, die diese Artikel herstellen lassen, sind von je bestrebt ge wesen, nur solide Waren zu liefern, so dafs der Absatz sich fortgesetzt nach allen Weltteilen ausgedehnt hat, so dafs dieser Artikel auf der höch sten Stufe der Vollendung steht und die Führung auf dem Weltmarkt mit erlangt hat. Das deutsche Geschäft war das umfangreichste und war hier j der Hauptabsatz; das deutsche Geschäft ist stetig im Fortschreiten be griffen. Das Geschäft in Stapelartikeln war nur zu ungemein gedrückten Preisen möglich. Die Abschlüsse darin sind zu reinen Submissionsge schäften herabgesunken. Zugleich wurden die Ansprüche der Kundschaft immer gröfser, Gratislieferung der Muster, Mafsvergütung und das Hinaus- | schieben der Valuta verringern den schon bescheidenen Nutzen. Gegen | diese Übergriffe der Kundschaft hat sich in letzter Zeit eine Bewegung | der deutschen Fabrikanten bemerkbar gemacht, die hoffentlich zu einem Zusammonschlufs der Fabrikanten führt! Es würde sowohl im Interesse der letzteren wie auch des soliden Grofshandels liegen, wenn durch diese Vereinigung der Fabrikanten die jetzt im Herrenstofffabrikgeschäfte all-