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Unser Ein wuchtiges, in seiner Eigenart ganz einziges Bild empfängt den Dicker Turm Fremden an der Grenze der Neustadt und Altstadt — reckt als wollte es ihm einen Dorfcbmack geben von Gesckickte und Kunst, auf der fick unsre Gegenwart in Görlitz aufbaute. Dicker Turm, Annenkapelle und Demiani-Denkmal! Auf engem Räume sieben sie nebeneinander, und man nimmt das scköne -Bild gern in sich auf. Und doch: drei Iahrbnnderte ist jede Schöpfung von der andern entfernt! 600 Jahre auf einen Blick! — Leicht wäre es, diese Denkmäler zmn Neben zu bringen und uns erzählen zu lassen, was sie gesckaut haben an Görlitzer Geschichte in Freud und Leid — doch das müssen wir uns versagen. Nur fragen wollen wir, was wir seben. Von rechts kommt die baumgeschmückte Elisabethstraße herauf, die neben dem Marienplatz nur das Todesopfer des alten Wallgrabens, des Rähmhofes als Arbeitsfeld der Tuchmacher und des reizvollen Banerschen Gartens schuf. Sie macht halt vor dem umzäunten Denk male des ersten Oberbürgermeisters der „Großstadt Görlitz", den am i.Juni 1844 König Friedrich Wilhelm IV. auf der Landeskrone in begeistertem Blick auf das altberühmte, im Sonnenschein aus gebreitete Görlitz unter einem Zelte, von dem das Banner der Stadt wehte, zu dieser neuen Würde ernannte, während Böllerschüsse und rauschende Rcusik diesen gewaltigen Abschnitt derGörlitzerGescbichte, den Tod des Alten und die Geburt des Neuen, verkündeten. Das Denkmal Gottlob Ludwig Demianis wurde von Johannes Schilling, dem begabten Schüler des berübmteu Qberlausitzer Bild bauers Ernst Nietsckel, als Erstlingsarbeit geschaffen und 1861 ent- büllt. Sinnend bält der Gefeierte ein Schriftstück in der Hand. Wer vermag es zu lesen? Vielleicht steht auf der Vorderseite der Plan der über Tore und Mauern blühend binanswachsenden Großstadt — aus seiner Nückseite das Todesurteil für eine Unzahl von Werken der Vergangenheit, denen Görlitz seine frühere beneidete Schönheit und gar oft sein Leben verdankte. „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit — Doch neues Leben blüht aus den Ruinen!" — Hinter ihm die Annenkapelle, umweht vom alten Zauber des Wunder glaubens mit seinen Schöpfungen hoher kirchlicher Kunst. Versteckt am Turme lugt in kaum zu erkennender Veränderung das Hans her vor, das einst der Bürgermeister Franenbnrg im Iabre 1477 für sich schuf — und nur eins ist unwandelbar geblieben: der alte, mächtige Dicke Turm. Erst unter Dtto III. der gewaltige Bergfried seines Schlosses, der „Schloßturm", dann bineinbezogen in die neuen Befestigungen des Franentores als „Franenturm ", trotzte er wohl auch deshalb der Zeit und Mode, weil seine Z V2 Ellen dicken Mauern sein Leben machtvoll verteidigten, das, als anch er einst unter Alter und mangelnder Pflege schwer z» leiden begann, von keinem Geringeren als dem in Kunst und Wissenschaft, in Bürgcrtreue und VcrwaltungSkraft hochberühmten Bürgermeister VI. Johannes Haß vom Verfalle gerettet und für uns erkalten wurde. Sogar eine Ilbrglockc mit Haube bekam er zn dieser Zeit im Jahre 1.532. — Aber willst du ibn schauen, wie er in feiner fernen Jugendzeit aussah, wie er früher auf sein Görlitz schützend herabblickte: dann denke dir alle neuen Zutaten hinweg, die Haube mit der Glocke wie das zwar schöne, aber die ununterbrochene Wuckt des Aufbaues und der Riesenkraft der Rundung beeinträchtigende Wappen — und dn siebst einen Bau, einen uneinncbmbaren Wehrtnrm vor dir, genau so, wie die vielen Wehrtürme, die der deutsche Drden an feiner Stadtmauer des alten fernen Reval dem übermächtigen Moskowitertum drohend und kampfbereit entgegenstreckte.