Volltext Seite (XML)
Beilage zu Rr. 49 des „Amts- und Ameigeblattes". Eidenstolk, den 25. April 1891. Ein vcrhängnißvoller Schnitt. Criminal-Erzählung aus dem Postlebe» von Th. Schmidt. (13. Fortsetzung.) Sie waren jetzt vor der Wohnung Linde's ange- kommcn. „Nur noch eine Frage, Herr Peters, wissen Sie genau, ob der Mann noch in der Triftstraße wohnt?" „Warten Sie mal," erwiderte der Agent. „Hm, wenn ich mich nicht irre, wohnt er noch in der be zeichneten Straße bei dem „tanben Seiler," wie man den alten Kauz nennt." „So? Ist der Seiler ganz taub?" „Nein, das nicht, er wird nur so genannt, weil er immer, wenn er angesprochen wird, die Hand hinter« Ohr legt, was so anssehen soll, als wäre er sehr schwerhörig." „Gut! Ich bin Ihnen für Ihre freundliche Aus kunft im Namen eines Anderen zu großem Dank verpflichtet. Wenn ich Ihnen daher einmal wieder einmal gefällig sein könnte, dann verfügen Sie über mich!" sagte Linde und verabschiedete sich von seinem Begleiter. Als Linde sein Wohnzimmer betrat, sah ihn seine Frau verwundert an. Sie war gewohnt, daß ihr Mann, wenn er einmal Abends ausglng, vor zehn Uhr nicht zurückkehrte. Jetzt war es kaum neun Uhr. Ihre Ueberraschung wurde aber noch größer, als Linde mehrmals schweigend im Zimmer auf- und ab ging, dann plötzlich vor ihr stehen blieb und ihr in freundlichem, fast scherzendem Ton mittheilte, daß er morgen früh nicht zur Gerichtsverhandlung nach W. fahren werde. „Ja, aber, Linde, Du bist doch vorgeladeu . . . . wirst Du denn so ohne Weiteres fortbleiben dürfen?" „Ohne Weiteres bleibe ich nicht zurück, liebes Frauchcu! Ich habe eine bestimmte Veranlassung vazu." > Dann nahm Linde seinen Spaziergang im Zim mer wieder auf. „So geht es!" sagte er nach einer Weile. „So muß es gehen! Morgen früh statte ich dem Hecht einen Besuch ab." Die Frau, verstand ihren Mann heute Abend nicht. Lindo plauderte dann noch eine halbe Stunde init ihr über allerlei Dinge und legte sich um zehn Uhr zur Ruhe. Ob er sie wohl fand? . . . Am Morgen des sechSundzwanzigstcu Oktober gegen sechs Uhr sieht man eine verschlossene Droschke über das Pflaster der Stadt D. dem Bahnhof zurollcn. Als sie vor dem Droop'schen Hause angelangt ist, wird der eine Vorhang von innen zurückgcschlagen, dann beugt sich ein junger Mann vor und späht mit brennenden Augen nach den Fenstern desselben. Eins derselben wird in demselben Augenblicke hastig geöffnet, ein junges Mädchen erscheint in dem Nahmen und nickt mit thranenleeren Augen dem Mann in der Droschke zu. Noch lange, nachdem diese ihren Blicken entschwunden, steht die Dame mit über der Brust gekreuzte« Häudcn und schaut ius Leere. Die Begrüßung der Beiden hat nur einen Augen blick gedauert, denn der Wagen rollt unbarmherzig weiter, allein diese kurze Spanne Zeit hat de» beiden sich eben anblickenden jungen Menschenkinder gezeigt, was sechs Wochen Trennung, was Schmach und Elend während dieser Zeit angerichtet haben. Und doch . . . wie leuchteten ihre Augen auf, wie jubelte jedem das Herz in der von Kummer und Elend be wegten Brust! Jeder Blick der Liebenden war durch glüht von der Hoffnung: ein froheres, freudigeres Wiedersehen wartet unser! . . . Die Verhandlung in W. nahm um zehneinhalb Uhr Morgens ihren Anfang. Da der Zug uach W. um neuneinhalb Uhr Morgens abging und nur dreißig Minuten fuhr, so war voranszuschen, daß sämmtlichc geladenen Zeugen oder doch die Mehrzahl derselben diese Fahrgelegenheit benutzen würden. AuS diesem Grunde hatte Bäumer gewünscht, daß er schon mit dem um sechseinhalb Uhr früh abgehenden Zuge fahren dürfe. Er mochte sich nicht von der Menge begaffen lassen. Das Sitzungszimmer des Schwurgerichts in W. ist geöffnet. Die Uhr zeigt zehn volle Stunden an. Allmählich füllt sich der weite saalartige Raum mit Zuschauern aus allen Gesellschaftsklassen, vorzugsweise mit solche», die den besseren Ständen angehören. Trotzdem viele Personen aus D. neben mancherlei Unkosten auch noch einen ganzen Tag in ihren Ge schäften durch das Beiwohnen der Verhandlung ver säumen, sind sie doch zahlreich erschienen, um den letzten Akt des Dramas zu Ende gehen zu sehen. Auf einer der letzten Bänke nimmt soeben eine, anscheinend junge, liefverschlcierte Dame Platz. Jetzt tritt auch der Actuar als Protokollführer ein und setzt sich in einiger Entfernug vom Sitz des Präsidenten nieder. Es erscheint bald darauf der Gerichtsdiencr, um einen mächtigen Stoß Akten ans den Tisch des Präsi denten zu legen. Nach einer Weile treten fast gleich zeitig der Staatsanwalt und der Bertheidigcr ein und nehmen auf ihren Sitzen Platz. Wir sehen nach der Uhr; diese zeigt fünfund zwanzig Minuten nach zehn. Jetzt öffnet sich wieder um die Thür, und nun erblicken wir die eintretenden Geschworenen, denen der Gerichtshof auf dein Fuße folgt. Wiederum öffnet sich die Thür, und in Begleit ung eines GenSdarmen seben wir den Angeklagten durch dieselbe eintreten. Seine Gestalt ist, trotz des Kummers iu seinen Zügen, hoch aufgerichtet, während er mit festen Schritten daherschreitet. Sein Blick ist frei, obgleich aller Anwesenden Blicke auf seine Person gerichtet sind. Eine Nöthc überfliegt sein Gesicht, als er die verschleierte Dame erblickt. Diese neigt, kaum für einen Andern merklich, das Haupt, während ihre Augen einen feuchten Schimmer zeigen . . . Der Angeklagte weiß, daß er eine Feindin weniger hat. Nach dem ersten Erstaunen der Zuschauer über des Angeklagten ganz verändertes Aussehen spiegelt sich Mitleid in den Zügen Aller, die ihn früher unter anderen Umständen gesehen haben. Würden die Zu schauer sprechen dürfen, so könnte man jedenfalls die Aussprüche hören: „Wie? Ist das der junge, vielge feierte Beamte aus D.? Ist das der schöne Sekretär? wie ihn die jungen Mädchen nannten? Doch man hat keine Zeit, Fragen und Antworten zu stellen und zn erwidern, da soeben vom Präsidenten die Geschwo renen vereidigt werden. Die Sitzung ist eröffnet, die eingetrctcnen Zeugen hören die Vorhaltung für den von jedem zu leistenden Eid an, um dann wieder ab- zutrcten. Es wird hierauf der Anklagebeschluß gegen Bäumer vorgetragen, worauf es nun ganz still im Saale wird. Vom Präsidenten werden einige Fragen an d^z Angeklagten gerichtet, welche ohne Erregung von diesem beantwortet werden. Der Präsident scheint ein besonderes Gewicht da rauf zu legen, von dem Angeklagten die Gründe zu hören, weshalb er den am Abend des siebenten Sep tember am Schalter angenommenen Geldbrief mit dreitausend Mk. Inhalt nicht, wie es doch in seiner Instruktion stände, dem zweiten mit der Expedition betrauten Beamten übergeben, sondern ihn die ganze folgende Nacht über in seinem Verwahrsam zurück be halten habe? Die Antwort des Angeklagten, daß er leider den fraglichen Brief zu übergeben vergessen habe, scheint den Richter nicht zu befriedigen, denn er bemerkt, daß das Vergessen nicht so leicht hätte ge schehen können, da ja die anderen Wcrthsendungen, welche fast gleichzeitig mit jenem Briefe aufgegebcn worden, noch von ihm an einen College» kurz nach acht Uhr behufs Weitersendung übergeben seien. Angeklagter: „Herr Präsident, cs passirt oft, namentlich wenn des Abends eine starke Aufgabe am Schalter stattgefundcn hat, daß Sendungen, die nicht init dem Nachtzug aus D. abgehen, sogar absichtlich von dem Schalterbeamten zurückbehalten werden, um sie dem am nächsten Morgen neu cintrctcndcn Expe- ditionsbeamtcn behufs Weitersendung zu übergeben. Auf diese Weise erklärt sich auch das Zurückhalten des fraglichen Briefes." Präsident: „Wie erklären Sic mir dcnn die Thatsache, daß, da Sie stets in D. vor dem Untcr- suchmigsrichter Ihre Unschuld betheuertcn, also der Meinung sein mußten, bald die Freiheit wieder zu erlangen. Sie es doch hartnäckig ablehntcn, an Ihren Examen-Aufgaben weiter zu arbeiten? Vie mußten sich doch, wenn Sie ein reines Gewissen hatten, sagen, daß gerade durch diese wieder aufgenommcne Beschäf tigung der Schein bei dem Richter erweckt werden würde, als rechnen Sie ganz bestimmt darauf, freige- sprochcn zu werden." Angeklagter: „Herr Präsident, wer so wie ich von dem Vertreter seiner Behörde kaum über deu mir zur Last gelegten Vorfall befragt, ins Gefängniß geschickt wird, der verliert alle Lust an dem ergriffenen Berufe. Ich gebe jetzt, nachdem ich einigermaßen in der Sache orientirt bin, zn, daß ich an Stelle meines Vorgesetzten vielleicht nicht anders verfahren hätte. Ich bethcucrc auch iu diesem Augenblick meine Unschuld. Der Präsident stellt nun noch einige Fragen an den Angeklagten. Ans den Antworten auf dieselben kann der Zuhörer den Schluß ziehen, daß der Ange klagte allerdings präcise Aufklärungen gicbt, die aber trotzdem für dessen Freisprechung nicht entscheidend genug erscheinen. Die Verurtheilung des Beamten erscheint schon jetzt nach dem bis soweit stattgehabten Verhör dem Laien als beschlossene Sache. Auch der Angeklagte scheint wenig Hoffnung für sich zu schöpfen, dcnn sein Gesicht nimmt einen schmerzlich bittcrn Ausdruck an, als er zurücktritt. Es beginnt hieranf das Zeugenvcrhör Der Erste, der vor die Schranken gerufen wird, ist der Absender des Geldbriefes, Adens. Ruhig spricht er dein Richter den vorgesagten Eid nach. Seine Angaben sind fast wörtlich dieselben, die Wir tin Anfang unserer Erzählung schon aus seinem Munde gehört haben. Nach ihm erscheint sein alter Buchhalter, auch er bringt nur das schon Gehörte vor. Darnach erscheint der Ueberbringer des Briefes zur Postanstalt, Frank. Mit kecker Stimme und frei sein sollender Haltung tritt er vor den Vorsitzenden des Schwurgerichts, dessen Auge sich lange auf sein Gesicht heftet. . . . Was spricht aus diesem? . . . Seine Stirn ist nicht schön, im Gegcntheil eher häß lich, da sie niedrig und schwach gewölbt ist, auch sonst nicht zu dem breiten Gesicht mit dem großen sinn lichen Mund paßt. In seinen Augen, die träumerisch und bisweilen wieder düster schauen, liegt ein ver borgenes Etwas, was nicht sofort erklärt werden kann . . . Doch der Richter, der Menschenkenner, scheint eö errathen zu haben, dcnn wir hören ihn schärfer denn bei den Vorigen die einzelnen Silben der Eides formel accentuiren, während sein Auge sich forschend in dasjenige des Zeugen gräbt. Auch glauhten Manche ein Zittern der Stimme des vor ihm Stehenden wahrgenommen zu haben . . . Doch das ist ja natürlich . . . der junge Mensch steht zum ersten Male im Leben vor de» Schranken des Schwur gerichts. Düster blickt das Auge Bäumer's uach dem jungen Manne und zu dessen Prinzipal hinüber. Was mag der Angeklagte wohl ausgesprochen haben, da er soeben seine Lippen bewegte? Niemand hat es gehört . . . Aus den höchst verfänglichen Fragen an Frank entnehmen alle Anwesenden, daß bei dem Richter doch einige Zweifel über den wirklichen Schuldigen vor handen sind. Das ist ja schon kein Zeugenverhör mehr mit Frank... so fragt man einen Angeklagten. Doch Frank ist nicht auf den Mund gefallen; er antwortet mit einem Anflug von Ironie: „Herr Präsident, meine Antwort auf die Frage steht bereits in den Akten... ich bitte an betreffender Stelle nachzuschen." „Beantworten Sie gefälligst DaS, wonach Sie ge fragt werden," läßt sich der Richter streng vernehmen. „Also noch ein Mal: wo waren Sie von sieben Uhr zehn Minuten am Abend des siebenten September?" „Ich bin um sieben Uhr aus dem Geschäfte ge gangen. Ich habe von der Thür ab bis zur Post deu Weg dahin in Gesellschaft der beiden hier gleich falls anwesenden Zeugen zurllckgelegt. Die Bestätig ung meiner Aussage durch die genannten Zeugen steht gleichfalls in den Akten." Noch einige verfängliche Fragen an Frank, die aber schlagfertig von ihm parirt werden . . . dann kann er zurücktreten, was recht bescheiden und geräusch los geschieht. Die Aussagen der nun folgenden Zeugen erscheinen dem Richter von geringerer Erheblichkeit, denn er geht schneller darüber hinweg. Dann kommt die Reihe an den Zeugen Linde. Eine Pause entsteht, während welcher der Gerichts diener wiederholt im Zcugen-Versammlungs-Zimnicr laut den 'Namen desselben ansruft. Vergebens! „Zeuge Linde ist nicht erschienen!" meldet der Gerichtsdiener Der Angeklagte horcht auf uud schüttelt verwundert und muthloS den Kopf. Der Präsident läßt den Aktuar ein Blatt Papier beschreiben . . . eine Depesche nach D. „Sofort ausgcbcn!" bcdentet er einem Gerichts diener. Dann sieht er in den Akten nach und äußert sich hierauf im Flüsterton gegen den Staatsanwalt, daß die Verhandlnng wohl wegen des fehlenden Zeugen nicht unterbrochen z» werden brauche, da derselbe nur unwesentliche Aussagen machen könne. Der Staatsanwalt nickt zustimmend. Jetzt tritt der Major ein und kurz nach diesein Droop. Das Ange des Angeklagten lenchtet auf, unwill kürlich erhebt er sich, als wolle er den beide» Eintreten den entgegeneilcn... eine schmerzlich freudige Empfind ung spiegelt sich in seinen Zügen. Auch des alten Sol daten Gestalt richtet sich hoch auf, als er den Neffen erblickt. Dann sieht er wüthend um sich, als wollte er hiermit andeuten, daß Jeder, der seinem „Jungen" Schaden zufüge, es mit ihm zu thun hätte. Droop sicht den jungen Beamten lange an, dann umspielt ein Lächeln seinen Mund ... Er ist der Alte, denkt er, trotz Verleumdung und Anklage! Der Major und Droop sind nur auf Wunsch des Angeklagten geladen. Die Vereidigung dieser beiden Personen erachtet der Präsident als überflüssig. Zur Sache bemerken Beide nach einander, daß der