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Beilage m Rr. 43 des „Amts- und Ameigeblattes". Eibenstoü, den 11. April 1891. Ein verhängnißvollerlSchnitt. Criminal-Erzählung aus dem Postleben von Th. Schmidt. (11. Fortsetzung.) Als der Major das Zimmer des Richters betrat, war dieser eben damit beschäftigt, aus dem hinter ihm stehenden Repositorium ein Packet Akten hervor zusuchen. Da er dem Major hierbei den Rücken zu kehrte, so gewahrte er den Eingetrctenen nicht sogleich. Dieser schnaubte und pustete noch von der Anstreng ung des Treppensteigens. „Guten Tag, Korfs! Hahaha, altes Haus, laß doch die Bücher in Ruhe, wirst doch nicht klüger daraus!" Der in so schmeichelhafter Weise Angeredete sah sich erstaunt nach dem Eindringling um. Der Ge richtsdiener hatte bei der Anmeldung die Namen der beiden Herren nicht genannt. „Mein Gott, Bäumer! Wo in aller Welt kommst Du denn so plötzlich her? Man sagte mir doch. Du könntest kein Bein mehr rühren ..." Beide Freunde umarmten sich wie alte liebe Be kannte, die sich einander lange nicht gesehen haben. „Na", antwortete der Major, „es hat auch ver teufelt viel dazu gehört, um mich nach diesem Orte zu bringen. Wenn Ihr mir meinen Jungen, den Hermann, hier nicht eingelocht hättet, dann würden mich keine zehn Pferde hierher gezogen haben. Du erlaubst wohl, daß ich mich auf einen von Euren ge weihten Stühlen setze ... au! sind die hart! . . . na, laß nur, ich sitze schon", bemerkte er weiter, als er sah, daß der Freund ihm einen gepolsterten Sessel heranziehen wollte. „Unsere Erlebnisse können wir uns später erzählen. Möchte nun erst mal Deine hochwohlweise richterliche Ansicht wegen der vermale deiten Geldbriefgeschichte hören ... Darfst mir doch Alles erzählen, he?" Der Richter zögerte einen Augenblick mit der Antwort. Dann entgegnete er: „Ja und nein . . . es steht fatal für Deinen Neffen. Nach den ange stellten Untersuchungen ist er der That sehr verdächtig." „Ah, bah! Dummes Zeug! Sehr verdächtig!... Kann Bäumer stehlen, wie? . . . Habt Ihr Beweise, wie?" rief der Major indignirt. „Beweise sind in einer erstaunlich großen Anzahl vorhanden und sprechen alle für die Schuld Deines Neffen", erwiderte Korfs. „Ich müßte weit ausholen, wenn ich Dir alle Einzelheiten der That aufzählen wollte. Gegen Diejenigen, die außer Deinem Neffen noch mit dem Werthbriefe zu thun hatten, kann von Seiten des Gerichts vorläufig nichts unternommen werden, da Alle, der Absender sowohl als der Em pfänger und die übrigen Personen, nach den Ermittel ungen keine Gelegenheit hatten, den Raub auszu führen. Vor der Hand, wie gesagt, muß Dein Neffe noch in der Untersuchungshaft bleiben. Selbstver ständlich werde ich mein Möglichstes thun, um die Sache schnell vor die Geschworenen zu bringen, da mit dadurch des Angeschuldigten Haft — wenn er überhaupt unschuldig an dem Raub sein sollte — ab gekürzt wird. Vielleicht wird auch Demjenigen, der die That begangen hat, wenn die Nothwendigkeit des Schwures an ihn herantritt, noch in der letzten Stunde das Gewissen erwachen." „Es mag ja richtig sein, Korfs, was Du sagst", sagte der Major, „obgleich ich hierüber meine Be denken habe, doch ich will darauf nicht näher ein gehen. Ich komme jetzt auf den Hauptzweck meines Hierseins zurück. Kannst Du meinen Neffen sogleich gegen Caution aus der Haft entlassen?" „Bäumer, nimm Vernunft an", bat der Richter. „Was ich Droop habe verweigern müssen, kann ich auch Dir nicht zugestehen." „Also hältst Du meinen Neffen für schuldig?" „Ja und nein!" „Aus Dir werde Einer klug! Was heißt denn das nun wieder: Ja und Nein!" „Nun, das ist leicht gesagt. Als Richter sage ich an der Hand der aus der Untersuchung sich ergeben den Beweise: Ja! Als Mensch muß ich, wenn ich mir vaS Vorleben des Verhafteten, seinen Bildungs grad, seine gesellschaftliche Stellung und zum Letzten seine VermögenSverhältnissc vorstelle, das Nein aus sprechen." „Na, dann denk einmal als Mensch, Korfs!" sagte bitter der Major. „Ihr Juristen verclausulirt Euch immer derartig, daß man ganz wirr im Kopfe von Eurem „pro ot contra" und dem „Wenn und Aber" wird. Mein Neffe läuft Euch wahrhaftig nicht davon." „Freund", entgegnete Korff ruhig, „brechen wir ab! Du kannst Dich in meine Stellung als Unter suchungsrichter nicht hineindenken. — Nimm die Ver sicherung mit, daß ich Alles aufbiete, um Klarheit in die Sache zu bringen . . . mehr kann ich augen blicklich nicht thun." „Na, dann nicht« für ungut, Korff!" entschuldigte sich der Major. „Das sage ich Euch aber", fügte er zornig hinzu, „ich lege mich hier in diesem Orte so lange fest, bis der Junge wieder 'raus aus dem Käfig ist." Dann humpelte er der Thür zu. „Es wird mich sehr freuen", sagte der Richter ihn begleitend, „wenn Du mich morgen in meinem Hause aufsuchen willst... wir haben uns ja so lange nicht gesehen und gesprochen, und da hat man sich viel zu erzählen." „Werde 'mal sehen . .. vorläufig Dank für Deine Einladung!" Droop nahm den Major vor der Thür in Em pfang und geleitete ihn mit wehmüthigem Gesicht zum Wagen. Der Major führte seinen Vorsatz aus. Er „quar- tirte sich" — wie er es nannte — bei Droops ein und zeigte sich hier von einer ganz anderen Seite, als man hätte glauben sollen. Er erging sich in Be weisen von Liebenswürdigkeiten gegen die Damen. Auch seine derben Aussprüche und seine knappe mili tärische Sprachweise corrigirte er zusehends. Wenn er so weiter mit seiner „Erziehung" ging, dann war er bald im Besitze von allen „salonfähigen" Eigen schaften. Sah er Thränen in de» Augen der „kleinen Hexe", dann fluchte er in sich hinein und biß sich die Zähne anfeinander genau so, wie früher vor der Front, wenn er einen Rüffel oder Widerrede hin- untcrschlucken mußte. Befand er sich aber einmal außer Hörweite der Damen, dann brach der alte Zorn wieder hervor, dann stieß er mit seinem Krück stock heftig auf den Boden, als wollte er ein Reptil durchbohren. Am Tage nach der Unterredung des Majors mit dem Richter treffen wir Linde auf dem Wege zur Post. Er kam vom Droop'schen Hause, wo er eine kleine Wort-Fehde mit dem alten Haudegen gehabt hatte. Linde hatte nämlich dem Major gerathen, daß er lieber suchen möchte, die Untersuchungshaft des Neffen auszudehnen als abzukürzen, da aller Wahr scheinlichkeit nach Bäumer würde verurtheilt werden, wenn jetzt schon die Hauptverhandlung stattfände. Könnte man diese noch Hinhalten, so wäre es der Poli zei vielleicht möglich, noch vor dem angesetzten Ter min den wirklichen Schuldigen ausfindig zu machen. Als weiteren Grnnd für seine Meinung gab er noch an, daß er sich einen Plan zurecht gelegt habe, wonach es vielleicht glücken könne, den Verbrecher zu fangen. Die Polizei, äußerte sich Linde weiter, hätte nach seiner Meinung das Möglichste gethan; man sähe doch daraus, daß trotz der großen Belohnung, welche für die Wiedererlangung der Summe und die Ergreif ung des frechen Räubers ausgeboten wäre, es bis heute, fast drei Wochen nach der That, noch nicht ge glückt sei, auch nur den schwächsten Verdacht gegen eine Person zu fassen. Der mißtrauische Major hatte es nicht der Mühe Werth gehalten, dem Plane Linde's eine Bedeutung beizulcgcn, und hatte in verletzender Weise darüber gespottet. Er sah in Linde weiter nichts als einen Renommisten und begriff nicht, wie sein Neffe sich einen solchen Freund hatte wählen können. Etwas unwirsch hatte der Herr Major denn auch die Be merkung hervorgestoßen, daß cs seine Sache wäre, wenn er den Richter dazu veranlasse, dahin zu wirken, daß möglichst bald die Hauptverhandlung stattfände. Linde hatte mit feiner Ironie hierauf geantwortet, daß der Herr Major allerdings bei dem Richter er reichen könnte, den Verhafteten alsbald vor die Ge schworenen gestellt zu sehen, daß dann aber auch desto schneller und sicherer die Verurtheilung des Ange klagten erfolgen würde. Großen Dank würde er sich bei seinem Neffen hierdurch nicht verdiene». Droop, der das erregte Gespräch der beiden Herren mit angehört und dem es peinlich war, Linde verkannt zu sehen, war dann zwischen die Streitenden getreten, und hatte die Bemerkung fallen lassen, daß nach seiner Ansicht die Meinungen beider Herren etwas für sich hätten. Linde hatte nun kein Wort mehr geäußert, sondern war fortgegangen. Der alte Vorsteher des Postamts befand sich seit einigen Tagen in der Reconvalesccnz; heute, etwa b Wochen nach dem bösen Vorfall, der den alten Mann auf das Krankenlager geworfen, sieht man ihn in einem bequemen Lehnstuhl am Tische sitzen. Die Tochter steht am Fenster und sieht mit matten, schwermüthigen Blicken den von den Bäumen fallen den Blättern nach, wie sie kreiselnd vom Herbstwinde fortgetrieben werden. Ihre Gedanken weilen augenblicklich weit zurück in die Vergangenheit. Der sonst strenge Ausdruck ihres klassischen Gesichts ist einem weicheren und sanfteren Zug gewichen. Sie sieht sich in Gesell schaft des Mannes, der in acht Tagen durch den Richterspruch vielleicht für lange Jahre die Freiheit verlieren soll. Sie fühlt ihr Herz erbeben unter dieser Vorstellung. Wie war ihr doch des ManncS Inneres als ein offenes Buch erschienen, in dem zu stört sie in ihrem fragt nach seinen fragte der Kranke, blättern ihr vergönnt war . . . und heute? . . . Welke Herbstblätter! . . . Todt und öde kam ihr die Welt gerade heute an diesem Herbsttage vor. Welche Wandlung war mit ihrem Innern vorgegangen? Noch vor einigen Wochen erfüllte sie der Gedanke, daß Bäumer für seine vermeintliche Untreue an ihrem Herzen nun den verdienten Lohn erhalte, mit befrie digender Genugthuung. Seit dem Tage aber, an welchem Linde ihr die Worte: „Nicht zum Hassen, zum Lieben sind wir da!" zugerufen hatte, war ihr die Erkenntniß gekommen, daß es ein mächtigeres Gefühl in der Menschenbrust giebt als Haß: die ver gebende Liebe. Gleichzeitig drängte sich aber auch eine andere Erkenntniß in ihr Herz, die sie wieder und wieder an die Worte mahnte: Verloren, dahin ist der Traum des Lebens! .... Das Fallen der Blätter erinnerte sie an den eigenen nun anbrechcn- den Herbst des Lebens. Sie fühlte sich vereinsamt unter den Menschen, Niemand kümmerte sich um die „Sitzengebliebene." Freudlos und liebeleer folgten sich ihre Tage in geisttödtender Monotonie. Sie war es sich jetzt bewußt, daß sie nur einmal geliebt hatte. Könnte sie heute noch des Mannes Herz, das sie vordem besessen hatte, wiedergewinnen, dann sollte ihr kein Opfer zu groß erscheinen, mit Freuden würde sie bei dem Angeschuldigten ausharren, kein Kerker sollte ihr zu finster und abschreckend erscheinen, wenn sie sich nur in seiner Nähe wußte. Aber auch dieses Opfer brauchte sie nicht einmal zu bringen.... er war ja unschuldig, er mußte unschuldig sein, ihr Herz sagte ihr das, und dieses kannte ihn. Welches Glück war dem Mädchen beschicken, das jetzt an ihrer Stelle um sein momentanes Mißgeschick weinen und dafür ihn ihr Eigen nennen durfte! Ein leiser Ruf des Vaters Sinnen, sie eilt zu ihm und Wünschen. „Was meinst Du, Hedwig", „werde ich in acht Tagen wohl so weit wieder her gestellt sein, daß ich der Zeugen-Vorladung des Ge richts Folge leisten kann?" „Ja, lieber Papa, wenn Du recht ruhig bleibst und Deine Kräfte schonst, dann kann es wohl möglich sein... Du gehst wohl gern hin?" fragte sie leichthin. „O, ja", entgegnete der Postvorsteher. „Du weißt ja, daß es mir auf der Seele brennt, etwas gegen Bäumer zu Protokoll erklärt zu haben, was den That- sachen, die Du mir vor einigen Tagen mittheiltcst, zuwider läuft. O, diese Menschen hier, was haben sie nicht alles Schlechtes über ihn und Droop ver breitet, und ich Thor glaubte es ihnen." „Ja, ja, Papa, es giebt viele schlechte Menschen hier, und ich bin noch schlechter als sie, denn ich glaubte den Gerüchten nicht und trat ihnen aber auch Dir gegenüber nicht entgegen . . . Wenn Du eS mir erlaubst, Papa", fuhr sie mit schmeichelnder Stimme fort, „dann möchte ich mit zur Verhandlung nach W ... ich möchte ihn gern noch einmal sehen." „Kind, Kind", sagte der alte Herr, „wenn Du Dich stark genug fühlst, der Gerichtsverhandlung mit beizuwohnen, dann bin ich damit einverstanden . . . überlege es Dir aber vorher noch einmal... ein Gerichtssaal ist kein Ort für junge Mädchen." „Tausend Dank, Papa ... Du sollst mich stark finden", gab Hedwig zur Antwort. — — Es ist Abend geworden in K., dem Heimathsorte Bäumer's. Draußen klatscht ein strömender Regen vom Winde gepeitscht gegen die Fenster eines Hauses in der Petristraße. Sturm, wilder Sturm braust heulend durch die fast menschenleeren Straßen. In einem erleuchteten und durchwärmten Zimmer, das einfach aber gediegen eingerichtet ist und von einer peinlichen Ordnung und Sauberkeit zeugt, sieht man eine greise, bleiche Dame vor einem Bild, das einen hübschen, jungen Mann in Offiziers-Uniform zeigt, in gebrochener Haltung sitzen. Auch hier im Innern des Hauses stürmt es — in einem Menschenherzen. Von Zeit zu Zeit kommt aus der schmerzerfüllten Brust der greisen Dame ein dumpfer Laut, während eine jüngere Dame, auf dem Sopha liegend, ihr Gesicht in ein Kissen vergraben, heftig schluchzt. . „O, Hermann! Hermann!" hört man jetzt die ältere Dame schmerzlich ausrufen. „Weshalb hast Du uns das gethan? Gerechter Gott, der Du den Wittwen ein fürsorglicher Vater bist, stärke mich in dieser schweren Stunde, damit mein Geist nicht in Nacht und Grauen verfällt!" Leise, wie wir gekommen, entfernen wir uns auch wieder, damit die tiefgebeugte Mutter und Schwester des jungen Mannes ihren ersten Schmerz über die durch eine Zeitungsnotiz von einer Freundin erfahrene Schreckensnachricht ruhig und ungestört ausweinen können . . . Wenn das Auge keine Thränen mehr hat dann tritt die Resignation ein und mit ihr die erste Ruhe des sturmbewegtcn GemüthS.