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31 die letzten Stunden nicht durch nutzlose Verzweiflung. Unerforschlich und hart sind oft die Prüfungen des himmlischen Vaters; aber gleichwohl geziemt seinen Kindern nicht, frevelhaft zu murren und sich zu versündigen, sondern ergebungsvoll die Hände zu falten und zu bitten, daß er uns nicht verlasse in der bittersten Stunde hienieden. Zwar weiß ich nicht, wodurch wir einen so qualvollen Untergang verdient haben, wenigstens bin ich mir keiner bösen That bewußt; aber was der Herr über uns beschlossen habe, möge erfüllt werden, denn geheiligt sei sein Name." Mit dem fünften Tage erreichte die Noth eine furchtbare Höhe. Jetzt vermochte selbst Nicodemus nicht mehr zu trösten. Er saß still und Gott ergeben in einer Ecke des dunkeln Gemachs, wo er wenigstes vor Kälte geschützt war und kaute an der letzten schwachen Brodrinde, die noch auf sein Theil ge kommen war. Denn die paar Lebensmittel waren mit dem Abende des vierten Tages bis auf einige Brosamen ganz aufgezehrt; Andreas kratzte mit seinen letzten Kräften einiges Moos von den Hüt tenfenstern und suchte damit seinen Hunger zu stillen. Auch der fünfte Tag verstrich. Hunger und Trüb sal hatten den höchsten Grad erreicht. Die Ver zweiflung war in jenes dumpfe Hinbrüten überge gangen, welches dem Tode unmittelbar vorherzu gehen pflegt. Niemand gedachte mehr, die kleine Wanduhr aufzuziehen. Niemand wußte mehr, an welchem Tage und in welcher Stunde er lebe. Ein Todtenschweigen herrschte, als^der Morgen des sechsten Tages, des großen Neujahrs oder des Festes Epiphanias heranbrach. In einem dem Tode ähnlichen Zustande lagen Marie, Martin und selbst der alte Nicodemus gab kein Zeichen des Lebens mehr von sich. Da raffte Andreas, der noch das klarste Be wußtsein sich erhalten, seine letzten Kräfte zusammen und schlich noch einmal mit größter Anstrengung aus der Hütte, um noch einmal in dem Schneegange zu lauschen, ob vielleicht noch Rettung nahe. Der unglückliche Jüngling gelangte mit vieler Mühe bis zu der Stelle, welche eingestürzt war. Hier sank er ermattet und halb ohnmächtig nieder. Eine geraume Zeit mochte er so gelegen haben, als plötzlich wie im Traume bekanntes Hundegebell zu seinen Ohren tönte. Andreas erwachte. Erlauschte mit aller Anstrengung. Das Hundegebell kam immer näher und wenn dem Verschütteten nicht Alles trog, so war es die Stimme seines treuen Picas, welche aus der Oberwelt in sein dunkles Grab herabtöntc. Neue Hoffnung und neue Lebenskraft keimte in der Brust des Jünglings, welcher seine Seele bereits Gott empfohlen hatte und verlieh seinem ermatteten Körper eine wunderbare Stärke. Er raffte sich auf und kehrte nach der Hütte zurück, um seinen Lieben die Himmelsbotschaft der nahen Rettung zu ver künden. Andreas kannte sein getreues Thier zu gut, als daß er nicht mit Recht hätte sollen große Hoffnung schöpfen; denn Picas war von der Natur mit einem wunderbaren Jnstinct begabt und ver mochte einen Verschütteten in bedeutender Tiefe auf zuspüren. Bei der Nachricht von bevorstehender Rettung er wachten auch Marie und Martin aus ihrem halb bewußtlosen Hinbrüten. Sie folgten mit Nicode mus, der ein lautes Gebet sprach, dem voranschrei tenden Andreas und lauschten mit klopfendem Her zen, ob sich nicht die Töne aus der Oberwelt von Neuem vernehmen ließen. Doch Alles war wieder still geworden und von Neuem bemächtigte sich die Verzweiflung der Brust der Unglücklichen. Eine endlose halbe Stunde verstrich. Rings herrschte Todtenschweigen, als plötzlich von einer andern Seite als früher und dießmcll bedeutend näher das Gebell des treuen Hundes vernehmbar ward. Zugleich vernahm man fernes dumpfes Stimmenge räusch. Einzelne Rufe tönten in die Tiefe. Die Verschütteten glaubten ihre Namen zu hören und Andreas gab sich alle mögliche Mühe mit seiner allerdings geschwächten Stimme zu antworten, aber seine Worte schienen oben nicht vernommen zu werden. Plötzlich ertönte in großer Nähe ein sonderbares Geräusch. Es glich dem Murren eines Hundes, der zugleich emsig bemüht war, sich mit den Vorder pfoten durch den Schnee zu wühlen. Eine frohe Ahnung durchzuckte Andreas, als er das seltsame Geräusch immer näher kommen hörte. Er tröstete jetzt angelegentlich die Seinigen und siehe da, seine Ahnung hatte ihn nicht betrogen, das Bellen erscholl jetzt kaum wenige Fuß entfernt. „Picas, Picas," lockte Andreas und gleich darauf arbeitete sich der Gerufene bis zu den Ver schütteten durch. Das Thier war außer sich vor Freude. Es heulte und schrie, war aber auch gleich wieder verschwunden.