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„Ja, es kommt schnell über den Menschen," sprach die Kellerpachterin, „aber ich sagt's immer. Jung nickcl, sagt' ich, gefallt mir nicht, er wird zu dick. Sie können auch die Ohren steif halten, Inspektor, bei der jetzigen Witterung ist mit uns corpulenten Leuten nicht zu spaßen. Wie waren denn die Klöse heute?" Der Inspektor konnte sich von dem Schrecken gar nicht erholen, den diese plötzlich Todesbotschaft in ihm hervorgebracht. „Der Jung nicket," rief er einmal über das andre, „nein, es ist nicht möglich!" „Das Hamburger Rauchfleisch geht mir nun auch zu Ende," fuhr Madame Kliemann fort, „Sie haben heute vom letzten bekommen. Es war auch eine Pracht. Die Frau von Ponickau hat mir das Haus eingelaufcn; ich sollt' ihr partout einige Pfund ablassen; aber es war nichts. Ueberhaupt, die Klie mann soll immer herhalten, wenn's in den gnädigen Küchen fehlt. Nein, sagt' ich, ich brauche meinen Bedarf für meine Gäste." „Aber hat man denn keinen Arzt gerufen," fuhr Sonnenschmidt fort, dem trotz der Kliemann'- schen Küchcnangelegenheiten der tobte Jungnickel nicht aus dem Sinne wollte, „vielleicht wäre noch Rettung gewesen?" „Was hilft beim Schlage der Arzt, da hilft der Arzt nichts," versetzte die Kellerpachterin, „der Löwen- wirth ist im Hause umgesallen wie ein Sack, das Blut hat gleich still gestanden. Die Commun be kommt da eine neue Last. Was soll aus den vier Würmern werden? Schulden auf Schulden, die dritte Hypothek auf dem Hause, kein Ziegel gehört dem Volke. Ja, Großthun, Madame Jungnickel spie len, Alles mitmachen. Nun haben wir die Be- scheerung." „Es kann nicht so schlimm mit den Leuten stehen," meinte Sonnenschmidt; „die paar Schulden sind noch zu decken. Löwenwirths haben nicht in den Tag hinein gelebt. Wenn die Frau die Wirthschaft fortsührt, müssen sie ihr Auskommen haben." „Ich bitte Sie," eiferte die Kellerpachterin, „ler nen Sie mich die Frau nicht kennen. Ich weiß, was es heißt, einer Wirthschaft vorstehen, was da sein will, besonders jetzt in den schlechten Zeiten." Man sieht aus diesem Gespräche, daß die weit berühmte Madame Kliemann, obschon sonst eine kreuzbrave Frau, für ihre zahlreiche Familie eine treffliche Mutter, für ihre Gäste eine ganze Wirthin, doch trotz aller dieser Vorzüge vom kleinlichen Brod- neide durchaus nicht freizusprechen war. Nachdem sie durch Röschen abgerufen worden war, saß der Inspektor eine lange Zeit in dumpfes, düsteres Nachdenken versunken. Wohl noch nie hatte eine Todesnachricht einen solchen Eindruck auf ihn hervorgebracht. Erst gestern hatte der Verstorbene in der Fülle der Gesundheit vor ihm gestanden. Nichts aber war ihm entsetzlicher, als ein so plötzlicher Uebcr- gang vom vollen frischen Leben zum Tode. Daber war ihm auch unter allen Maladiecn, welche den Tod im Gefolge haben, keine so grausenerregend, als der Schlagfluß. Wenn man nun bedenkt, was heut Nachmittag Sonnenschmidt für Dinge erlebt und in welcher Stimmung er aus den Keller gekommen war, so darf man sich nicht wundern, wenn er stumm und verdüstert vor sich hinstarrte und ihm weder Pfeife noch Trank schmecken wollten. Er beneidete jetzt von ganzem Herzen Kappler's dürftige Figur, welche dem Schlagflusse weniger aus gesetzt war, als seine Riesenstatur. An den Nach hauseweg heut Abend durfte er gar nicht denken. Es graute ihm vor seiner eignen Wohnung. Von fünf Minuten zu fünf Minuten zog er seine Taschenuhr hervor und schaute nach, ob des Sportel schreibers Erholungsstunde nicht bald würde geschlagen haben; aber es war, als wollten die Zeiger nicht von der Stelle rücken. Unterdeß faßte der Inspektor in seiner Einsamkeit wahrhaft fromme Vorsätze. Nor allen Dingen be schloß er, den nächsten Sonntag in die Kirche zu gehen und künftighin sich nicht mehr so eigensinnig der öffentlichen Gottesverehrung zu entziehen. „Es ist schon wegen des Beispiels," sprach er für sich, „ich will wenigstens den frommen Seelen kein Aergerniß geben. Ich gelte so zu sagen für einen Heiden. Das mag ich nicht länger." Nach und nach füllte sich die Stube mit den ge wohnten Gästen. Der schnelle Tod des Löwenwirths gab überall Stoff zum Gespräch; desgleichen hatte sich ein armer Leinweber auf der Hintergasse gehenkt. Wo nur Sonnenschmidt hinhorchte, war vom Tode die Rede. Von mehren Seiten ward der In spektor sogar gewarnt, sich bei seiner starken Leibes constitution in Acht zu nehmen, schnellen Wechsel der Temperatur zu vermeiden; er könne hinweg sein, wie man ein Licht ausbläst.