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Epiphanias. Neujahrsnovelle von Ferdinand Stolle. lFortsetzung.) Nicht ohne Besorgniß war Andreas an das Fenster getreten und betrachtete nochmals die drohend herabhängenden Schneemaffen. „GuterWater," sprach er endlich, zu Nicodemus gewendet, „wär's nicht besser, wenn Ihr Euch auf einige Tage nach Liebethal übersiedeltet? Der Adler sieht mir zu bedenklich aus, ich traue dem Alten nicht; daß er uns nur nicht eine Löwin auf den Hals schickt; er wird über kurz oder lang sein Ge fieder schütteln." „Die Löwin des Adlers," versetzte ruhig der Greis, „haben wir nicht zu fürchten; es wäre nicht die erste, die ich erlebte; sie springt vorsichtig über unsre Wohnung hinweg, ohne nur den Firsten zu berühren." „Aber drohender blickte noch keine in's Thal," bemerkte Andreas. „O mein guter Vater," bat die schöne Marie mit gefalteten Händen, „mißachte nicht seine Worte; auch mir ist der Adler noch nie so fürchterlich er schienen. Wie bald sind wir drüben im sicher ge legenen Liebethal; beim frommen Water Arnold wirst Du die freundlichste Aufnahme finden. Wir führen Dich, damit Dir die Wanderung nicht be schwerlich wird." „Ihr Kleingläubigen und Verzagten," strafte der Greis mit sanftem Vorwurfe, „was kümmert uns die Lawine? Wölbt sich darüber nicht der heilige Himmel in ewiger Reine, wo Gott wohnt, unser Schöpfer und Erhalter? Seid Ihr nicht gekommen, Eure Verlobung zu feiern? Ist dieß nicht eine heilige Handlung, wo Gottes Liebe segnend über uns weilt? Soll ich gleich mit dem ersten Tage des Jahres die seit siebzig Jahren bewohnte Hütte verlassen?" „So wollen wir bleiben," antwortete leise Marie, und die Familie nahm Platz um den riesigen Ofen, in dessen Bauche eine gemüthliche Flamme prasselte, welche durch das geräumige Gemach eine wohlthuende Wärme verbreitete. „Martinchen," sprach Nicodemus, „geh einmal hinaus in die Kammer und bringe Nummer Zehn." Zugleich befahl der Kräutersammler, den Topf mit kochendem Wasser aus dem Feuer zu holen, welch' Geschäft Andreas verrichtete. Hierauf goß Nico demus aus der krystallnen Flasche, die mit einer römischen Zehn bezeichnet war, und die Martin aus der Kammer gebracht hatte, eine dunkle Flüssig keit, welche sich brausend mit dem Wasser vermischte und diesem eine goldgelbe Farbe verlieh. Ein er quickendes Arom durchdustete das ganze Gemach. Die wohlriechende und lieblich schmeckende Essenz hatte Nicodemus vor Jahren selbst bereitet aus dem feinsten Berghonig und blos bei hohen festlichen Gelegenheiten wurde das kostbare Getränk bereitet. Andreas und Marie legten die Hände in ein ander und der Alte sprach den Segen, während der kleine Martin ein auf die feierliche Handlung Be zug habendes Gebet aus einem alten Gebetbuche vorlas. Nach beendigter Feier klangen die grünen Römer, in welchen das liebliche Brautgetränk dampfte, wie Glocken an einander. „Möge Euer Leben," sprach Nicodemus, „eben so rein klingen und dereinst verklingen, wie der Ton dieser Gläser." „Nicht ohne Grund," fuhr er nach einer Pause fort, „Hab' ich den heutigen Tag zu Eurer Ver lobung gewählt. Am ersten Tage des Jahres ist das Gemüth reiner gestimmt und empfindlicher für erhebende Handlungen, denn zu irgend einer andern Zeit. Ich habe es immer geliebt, wichtige Ange legenheiten aus diesen Tag zu verschieben. Mit dem letzten Tage des alten Jahres pflegt man seine Rech nungen abzuschließen und zieht einen neuen Menschen an. Immer Hab' ich mir daher gewünscht, wenn Gott einmal über mich gebieten sollte, daß er mich in den ersten Tagen des neuen Jahres abrufe. Man geht dann weit gereinigter in die stille Heimath ein." „Ei, mein guter Vater," versetzte Andreas, „wer rrird am Tage einer Verlobung vom Tode sprechen; seht nur, Ihr habt meine Marie ganz traurig gestimmt durch Eure Rede. Der gute Vater im Himmel wird es wohl meinen mit uns, und Euch noch manches Jahr rüstig erhalten zum Heile aller Kranken und Hilfsbedürftigen." „Wie Gott will," erwiederte Nicodemus mit frommer Ergebung; „doch, muß ich gestehen, möcht' ich gern noch ein paar Jährchen der Zeuge Eures häuslichen Glücks sein, denn bin ich auch allen Men schen gut, so seid Ihr Beiden mir absonderlich an's