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162 „Du hast den Elfenkönig Oberon bei Dir ausge nommen. Empfange als Zeichen seines Wohlwollens dieses Stäbchen, das Dir manchen wichtigen Dienst leisten kann. Wenn Du etwas verlangst, so drehe es dreimal um und sprich dreimal leise meinen Na men aus. Dann werde ich selbst oder einer meiner Geister, z. B. mein heutiger Begleiter, kommen und Dein Verlangen erfüllen. Noch Eins: sage Nie manden, daß Du mich beherbergt; wenn Du dieses Verbot nicht achtest, so würde auf einmal der Zau ber vom Stäbchen schwinden und ich nicht mehr im Stande sein, Dir einen Wunsch zu erfüllen. Leb wohl! Auf Wiedersehen." Man denke sich das Erstaunen des Kastellans! Viertes Kapitel. Titania, die schöne Elfenkönigin, lebte indessen einsam und traurig in dem Reiche ihres fernen Ge mahls und hatte ihr ganzes Ansehen aufzubieten, um die Regierung in gehörigem Gange zu erhalten. Wie leicht konnte unter weiblicher Herrschaft Empörung und Anarchie eintreten! Denn so gutmüthig sonst die Elfen sind und so treu sie auch ihrem ange stammten Königspaare anhangen, so sehr sind sie auch zur Fieiheit geneigt. Obgleich sie nun dieselbe im vollsten Maße genießen durften, so konnte sie doch bei ihnen unter den jetzigen Umständen möglicher Weise einmal zur Willkür und Zügellosigkeit aus arten. Das wußte Titania recht wohl und ergriff deshalb ihre Vorsichtsmaßregeln. Sie setzte sich nämlich mit ihrem Verwandten, dem mächtigen Berg geist Rübezahl, in Verbindung und bat ihn, sie, wenn es Noth thäte, gefälligst durch seine Gewalt zu unterstützen, wozu jener sich auch sogleich bereit zeigte. Zuvörderst aber nahm sie seine Hilfe in Be treff ihres untreuen Gemahls in Anspruch. Sie hatte Mancherlei über das Leben desselben in Er fahrung gebracht und mußte besorgen, daß er noch nicht so bald in das Geisterreich zurückkehren werde. Da schrieb sie an ihren Vetter, er möchte die Güte haben, ihrem Gatten alle mögliche Hindernisse in den Weg zu legen, damit er die Lust an seinem jetzigen Treiben recht bald verlöre. Rübezahl that dieß redlich. Unter den verschiedensten Gestalten trat er dem verkappten Elfenkönig hinderlich entgegen; er war es auch, der auf den böhmischen Gebirgen in dem Augenblicke, als Oberon die Bekanntschaft des Mädchens, in das er sich verliebt, machen wollte, ihn dem dicken Reisenden verstellte und ihn zwang, einige Worte mit dem Fleischkoloß zu wechseln, wäh rend die reizende Dirne sich entfernte. Rübezahl war es nicht minder, der ihm durch seine Geister den Ring an den Finger stecken ließ und durch ihn seine Macht bannte. Dieß und vieles Andere theilte der Berggeist seiner liebenswürdigen Cousine mit, welche sich sehr darüber freute. Indessen hatte sie neue Erkundigungen eingezogen, und unter Anderem auch über jenes Mädchen, nach dem Oberon seit dem ersten Anblicke in Liebe verschmachtete, ohne das reizende Geschöpf wieder finden zu können. Nicht lange nachher bekam Rübezahl von Titanien einen sehr überraschenden Brief. „Sei so gefällig, mein lieber Cousin," schrieb sie, „und stelle von nun an Deine Jntriguen ein; sei vielmehr, ich bitte Dich recht schön, meinem Gemahl in allen Stücken be hilflich, seine Geliebte wieder aufzusindcn. Ich habe mich durch meine Geister über sie näher unterrichten lassen und bin zu der Ueberzeugung gekommen, daß gerade eine recht vertraute Vereinigung meines Gat ten mit ihr das beste und sicherste Mittel ist, den letztem recht bald wieder in meine Arme zurückzu führen. Nächstens gcb' ich Dir darüber Aufschluß, indessen thu' was Du kannst. Sehr dankbar wird Dir dafür sein Deine Cousine Titania." In einer Nachschrift waren noch die Worte enthalten: „Den Ring, der seine Macht bindet, magst Du ihm immer hin noch eine Zeit lang lassen, damit er sich nicht auf einmal wieder ganz frei fühle." Rübezahl schüttelte das Haupt, nachdem erden Brief gelesen hatte; da er aber seine reizende Cousine von Herzen liebte und ihr nicht wohl etwas ab- schlagen konnte, so zögerte er nicht, ihr die ausge sprochenen Wünsche zu erfüllen. Er nahm sogleich die Tracht eines feinen Cavaliers und begab sich eiligst nach der Dampfwagenstation, von welcher aus unser Oberon oder Camillus mit seinem jungen Be gleiter nach der Residenz fahren wollte. Camillus saß in der Gaststube bei einem Glase Limonade, das noch unberührt vor ihm stand. Lucio hatte schon seit längerer Zeit Zeichen großer Unruhe an ihm bemerkt, und vergebens seinen Witz und seine Schelmerei aufgeboten, den sinnenden Herrn zu erheitern. Endlich begann der kleine Ungeduld mit einem Seufzer: „Ach, Meister, die Menschen haben Dich angesteckt, Du bist so trüb' und traurig und, nimm