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Epiphanias. Neujahrsnovelle von Ferdinand Stolle. 2 In majestätischer Winkemacht starrten die himmel hohen Firnen des St. Gotthardt. Weithin, so weit das Auge reichte, erblickte man nichts als eine schauer liche Einöde von Felsen und Eis. Die höchsten Spitzen des gewaltigen Gebirgskammes schimmerten in der gewohnten roscnrothcn Verklarung und war fen meilenweite Schatten aus die tieferlicgenden Gegenden. Eine hehre Stille, wie sie nur den end losen Wüsten Afrikas und den unermeßlichen Sa vannen Nordamerikas eigenthümlich, ruhte über der versteinerten Schöpfung. Die Sonne sank prachtvoll hinab und in den Thälcrn dunkelte der Abend. Der alte Vater Nicodemus, ein noch rüstiger Siebziger, weit und breit berühmt durch seine Kennt nis; der Heilkraft der Alpenkräuter, durch seine guten Lehren im Glück und stärkenden Trostsprüchen im Unglück, saß auf seinem gewohnten Platze am wohl erwärmten Ofen und hatte eben ein Kapitel der Bibel, aus welchem heiligen Buche er allsonntäglich mit lauter Stimme und ohne Brille seiner frommen und schönen Tochter Marie und seinem Enkel, dem kleinen Martin, vorzulescn pflegte, beendet; hell und vernehmlich klang die Vesperglocke des Neu jahrstages von dem unfern gelegenen Dörfchen Liebe thal herüber; denn die Wohnung des alten Kräuter sammlers lag einsam am Fuße des großen Adler- stcins, dessen schneebedeckter majestätischer Gipfel nur bei ganz heiterm Himmel erkannt werden konnte, welches nur selten der Fall war, da er hoch hinauf in den Aether reichte. Die untergehende Sonne vergoldete in himmlischer Pracht die erhabenen Felsenzinnen, deren rosenfarbener Wiederschein bis in das sonntäglich aufgeputzte Stüb- lein des Kräutersammlers herabsiel. Das fromme Abendläuten und diese stille Ver klärung des Hüttchens erfüllte mit heiligem Dankge fühle den Greis. „Meine Marie," sprach er sanft, „haben wir auch zum heiligen Weihnachtfeste unsere von frommer Hand geweihten Kerzen der Mutter Gottes zum Opfer gebracht, nimm die letzte aus dem Schränklein und trage, sie hin zur Kirche. Sieh wie der liebe Gotz die Firnen entzündet mit himmlischem Feuer, da soll der dankbare Mensch nicht Zurückbleiben. Geb, j meine Tochter, mit Gott wird ja wieder Nath und bis Ostern ist es lang hin; wenn wir sparsam sind, erübrigen wir schon einige neue Lichtlein, die wir anzünden am heiligen Feste zur Ehre des Herrn." „Gern, mein guter Vater," erwiederte die schöne Marie und strich sich die seidenen Locken von der Stirn, „dafür wird uns die Mutter Gottes auch gnädig sein." Nicodemus antwortete: „Die Mutter Gottes ist Allen gnädig, die ihr vertrauen." Und Martinchen, am Ofen gelagert, rief: „Horch, Großvater, wie die eschene Wurzel pras selt; sie hat mir auch gar weibliche Mühe gemacht, bevor ich sie gestern aus der Felscnspalte heraus- bringcn konnte." Marie hatte die letzte Kerze aus dem Schränk chen genommen und schaute hinaus nach dem immer dunkler werdenden Abend. „Ach Gott, mein Vater," sprach das Mädchen, „hörst Du nicht, es se schon fünf im Dorfe und Andreas wollte scho-pnM' vierten Stunde bei uns sein." ' „Er wird sich haben ein Gläschen einschcnken lassen von der guten Mutter M arth e in dem ,Alpen- horiss; da findet sich's wohl, daß sich junge Bursche zusammcnsindcn und eins plaudern beim herzer freuenden Wein; und gewiß wirst Du es dem An dreas nicht verargen; hat er doch den ganzen Vor mittag mit seinem treuen Picas gearbeitet wie ein Bergmann, um den verschütteten Wandrer zu Tage zu fördern." „Ganz wohl," entgegnete Marie, „aber soll nicht heute unser Verlobungstag sein? Da kenne ich meinen Andreas zu gut, daß er blos deshalb säumen sollte, um in der Schenke ein Glas in froher Gesellschaft zu leeren." „Ei, sieh doch, Großvater," rief plötzlich Mar tinchen, der an's Fenster getreten war, „wie der Schnabel des Adlers lang geworden." Dabei schaute er auswärts, wo sich eine ungeheure Schneelast weit über die Kuppe des Adlersteins hervorgebeugt hatte. „Das ist kein gutes Zeichen, mein Sohn," er wiederte der Greis, „der Adler, wenn er zu weit herabschaut, hat dem Thale noch nie Segen gebracht. Doch vertrauen wir Gott. Er wohnt noch über den Lawinen."