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Literaturblatt zur Eilpost. 1841. 2. Romane und Novellen. Der Traumdeutcr. Roman von Orirst Wrll- kom, dem Vers. der „Eurvpamüdcn," des „Lord By- > ron" u. s. w. (bei Hoff,nann in Ballenflädy 1^41. I Inhalt und Titel sind pikant genug, um das Interesse der I Lesewelt zu erregen. Die Welt so plan , durchsichtig, ordcnt- f kich und rcglcmentsMäßig sie sich auch gestaltet hat, fängt doch , aus Ucberdruß an dieser Allgcwöhnlichkcit des Daseins, wie der stark an Traumdcutcrinnen, SonnambüleN und Hcllschc- i rinnen zu glauben an. Diese Eigenheit wird auch aus dem Menschlichen Gcschlcchte nie gänzlich verschwinden, und cs ist eine alte Erfahrung, daß die ungläubigsten Zeiten an dergleichen i° und noch mysteriöserem Zeuge Geschmack gefunden haben, weil ^ Extreme Extreme Hervorrufen, jeder Satz seinen Gegensatz bc- i dingt. Dic^ Menschheit schmachtet, selbst bei der größtMög- i luchsten Aufklärung, nach etwas llebcrsinnlichcM, welches auch gewiß besteht und sich immer wieder unabweislich aufdringt; sie möchte cs auch gern aufdccken, aber der Schlüssel dazu ist irgend wohin und von Jrgcndwcm, von dem Schatzmeister der ! Welt selbst, verworfen worden und liegt in einer Tiefe, wo- I hin der menschliche Blick nicht dringt. Wer ihm aber nach- ; spürt, ist stets in Gefahr, in diesem Abgrund untcrzugchcn. ! Dies ist auch die Tendenz des neuen Romans von Willkom. Der Dechant, die hervorstechendste Figur des Romans, macht aus seiner Träumerei und Traumdeukerei ein förmliches Le- bensprincip, ein System, einen Bibclglauben, eine Religion, > und so richtet er nicht blos sich selbst zu Grunde — obgleich er gewissermaßen doch wieder Recht behält und bis zur Kata strophe von der Wahrheit seines Glaubens überzeugt und de- j ren Märtyrer ist — sondern auch alle die, welche ihm nahe s stehen und auf ihn trauen, und die er, wie die Klappcr- ß schlänge ihre Opfer, durch Blick und Wort in seine verderb- s lichc und doch anziehende Atmosphäre bannt. Man sollte k meinen, daß ein Roman dieses Inhalts, welcher originell ge- ,i dacht und sprachlich gut ausgeführt ist und manche pikante r und brillante Details enthält, ein großes Publikum finden ii müsse. DcrBcrfasser ist derselbe, welcher das unsterbliche, überall mit dem Bürgerrechte versehene Wort „Europamüde" erfun den hat. Man hört es überall und doch wissen die wenigsten, wer cs zuerst angcwcndet und erschaffen hat. So kennen die < wenigsten Soldaten, welche täglich eine große Ouaniität Pul- ! vcr verbrauchen, den Namen desjenigen, welchem man die Er- i findung des Schießpulvers verdankt. Der Verfasser hat uns schon eine ganze Reihe von interessanten Werken gegeben, an ' denen sich wohl Manches aussetzcn läßt, die aber aus der Tiefe einer sehr ursprünglichen Anschauungs-, VorstelluNgs- > Und Einbildungskraft geschöpft sind. Zu seinen besten Arbci- !' tcn gehören seine Märchen, deren mehrere in der Zeitung für die elegante Welt mitgetheilt wurden und ein ganz originel lstes Genre des Mährchcns bezeichnen. Als dramatischer Dich- Pter, wie er sich wenigstens in seinem, drei Abteilungen und c!5 Akte umfassenden Tragödie Erich XIV. zeigt, wird er mit ii Unrecht fo wenig beachtet; auch ist eS als ein wahrer Verlust s anzüschcn, baß seine Jahrbücher für Drama, Dramaturgie und Theater, welche neben den Arbeiten Aclterer auch die dramatischen Erstlingswerke oder wenigstens Frühfrüchtc meh rerer Jüngeren, z. B. Mosen, Marggraff, Wallmont u. s. w. brachten, so bald eingchen mußten, M- Agay-Hair. Roman nach dem Polnischen des Ä. K. vstn (önnl Brachvogel. Leipzig, Ver lag von Wilhelm (kinhorn 1840. Agay-Han ist weniger ein Roman, als ein romantisches Gedicht. Man muß bedauern, daß der Verfasser dieses stür mische, glühende Lied vom tatarischen Knaben, welches er Ro man nennt, nicht wirklich componirt, nicht in das musika lische Gewand von Reim uud Vors gehüllt hat, welches ihm gebührte. Die zügellose Einbildungskraft hätte dadurch eine Schranke gefunden, ünd die phantastischen Schilderungen, dir oft gleich zauberischen Opiumträumen, oder wie Fata Morgan« zwischen Meer und Himmel verschwimmen, wären zu mehr haltbaren, faßlichem Gebilden geworden. Was man gewöhn lich orientalische Bildcrpracht nennt, ist hier im eigentlichen Sinn des Wortes zü finden. Agay-Han ist ein Tatarenknabc, ein Prinz aus dem MorgeNlaud, der am Hofe des falschen Demetrius in Liebe zur Aarcwna Maryna entbrennt, ohne Gegenliebe zu finden. Zwischen dem Heimweh nach seinem herrlichen Orient und der Leidenschaft für di« kalte nordische Zaarin schwankend, bald in Wehmuth schmelzend, bald in Ei fersucht aüstoderNd, bald durch kosende Zärtlichkeit, bald durch kindische Drohungen um bas Herz Maryna'S werbend, so um flattert Agay-Han jetzt wie ein Schmetterling aus Kaschcmir, jetzt wie ein kaukasischer Geyer die keusche, aber auch ehrgei zige Schöne. Nach dev Ermordung des falschen Demetrius wird er ihr Retter aus hundert Gefahren, aber er stürzt sie auch in neues Verderben, weil er sie nur von sich — nicht vom Hetman Jarutzki -- gerettet, geliebt sehen will. Als Maryna sich endlich ganz von ihm wendet, ihm entflieht, wird seine Zärtlichkeit zum feurigsten Rachedurst. Er wird der Führer von MäryNa's Feinden, er bietet den russischen Boja ren seinen Arm, und verfolgt die Geliebte durch Steppen und Eiswüsten. Er, der wie ein Kind sich früher von ihr strafen, gängeln und befehle» ließ, zeigt sich jetzt als stolzen schrecklichen Schlachtengott. Aber nachdem er durch tollkühne Wagnisse die Gletscher erklommen, wo die Flüchtlinge sich in einer Felsenhöhle, verborgen hielten, nachdem er den Hetman erschlagen, und Maryna gefangen genommen, finkt er wie ein Kind wieder zu ihren Füßen hin. Hier stellt ihm Maryna den Muth der christlichen Märtyrerin entgegen. Noch jetzt verschmäht sie ihn. lind wie der arme Agay-Han sein ganzes blutiges Ringen vereitelt, sein in Liebespein und Heimweh verronnenes Leben verfehlt sieht, da zückt er zum erstenmal den Dolch gegen sie, da erinnert er sich zum erstenmal, daß dem Orientalen das Weib eine Sklavin ist. Doch nein, selbst, da er sic tödtet, verehrt er abgöttisch ihre wunderbare Gestalt. Unberührt, in unverletzter Schönheit soll sie zu den unterirdi-