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171 kommen nicht besser weg; Horaz vergleicht sie mit Seil tänzern. Väterliche Fürsorge. Fräulein Rachel in Paris ist vor Kurzem mündig geworden; sie ist nämlich den 28. Februar 1820 geboren. Dieser Umstand wird, wie man hofft, die Schwierigkeiten beseitigen, welche die Theaterdirection abge halten haben, die junge Schauspielerin von Neuem zu engagircn. Ihr Vater nämlich verlangt für seine Tochter 60,000 Franken und drei Monate Urlaub auf fünf Jahre, dann eine Pension von 5000 Franken. — Das ist stark! Das Theater de la Renaissance wäre neulich bald das Opfer einer Feuersbrunst geworden. Ein Ncbcnvorhang fing Feuer und theilte dieses schnell andern Gardinen mit. Durch die Geistesgegenwart eines wachhabenden Soldaten wurde größeres Unglück verhütet. Wcstphälische Naivität- Einen Alt-Wcstphälischcn Landmann kann der Städter nicht stärker ärgern, als wenn er ihn um die Zeit, die rechte Straße, oder sonst solch' eine Auskunft fragt. Er hält selbst dann den Fremden, der sich verirrt hat, für einen Spasvogel und antwortet in aller Ruhe, pfiffig lächelnd: „dat weet hä schon äben so geht, als ik." Es ist ihm unmöglich, daran zu glauben, daß Jemand etwas weniger wissen sollte, als er. Leipziger Stadttheater. Freitag, am 19. März: Das Glas Wasser oder Ur sachen und Wirkungen, Lustspiel von Scribe in fünf Acten, übersetzt von Cosmar. Wie die Franzosen überhaupt das hübsche gesellige Talent haben, eine kleine Anekdote auf eine Art vorzutragen, daß sie nach etwas Bedeutendem klinge und dadurch unser Interesse fesselt, so ist Scribe darin gleich sam ihr potenzieller poetischer Repräsentant. Auch in diesem neusten, vielleicht besten, Stücke behandelt er nichts, als eine einfache Anekdote aus dem Hoflcben der Königin Anna von England, aber er thut das allerdings mit all der hinreißen den Gewandtheit und Elasticität seines lebhaften Geistes, um die man ihn bewundern muß, und es ist erklärlich, daß die ! Franzosen von der Bewirthung mit einem solchen Glase Was ser sehr entzückt gewesen. Eine immer lebhaft spannende Hand lung, pikante Situationen, politische Beziehungen zur Gegen wart, interessante Charaktere mit flüchtigen Zügen noch le bender Persönlichkeiten, ein feiner nie ermüdender, reich mit Satyre gewürzter Monolog — was können die heutigen Fran zosen mehr verlangen, was können wir mehr von ihnen ver langen? Wir gestehen es gern und anerkennend zu, daß dieses Lustspiel in seiner Art meisterhaft componirt und ausgerüstet ist, aber ob die Art selbst in unserm deutschen Boden fort- kommcn kann, das möchte zu bezweifeln sein. So viel scheint uns gewiß, in uns Deutschen kann durch dieses Genre von Stücken bei all' ihrer französischen, also relativen, Vortreff lichkeit doch nur die Neugierde eine Zeit lang rege gemacht werden, nimmermehr können sie aber von nachhaltiger Wir kung in uns sein. Der Erfolg wird das auch bei der gegen wärtigen Erscheinung, die in Berlin vermöge ihrer trefflichen Besetzung eine Art von Rausch hervorgebracht hat, beweisen. Wir Deutschen haben nationelle Geduld und Genügsamkeit in hinlänglich reichem Maße, um bei unserer eigenen Armuth in Hoffnung auf bessere Zeiten uns zufrieden zu stellen; wir ge hen bei Reicheren (bei den Franzosen und Engländern) zu Gast, um unser Bedürfniß einigermaßen zu befriedigen, aber wir machen es wie die Kinder mit dem Süßholze, wir wer fen von der exotischen Nahrung das Holzige hinweg, nach dem wir die Süßigkeit ausgesogen, die uns freilich schon manchmal den Magen verdorben hat. Wir schmecken es recht wohl, daß es nur Saft und nicht Kern war, was wir zu uns genommen. Und der eigentliche ächte Kern fehlt auch bei diesem Stücke, abgesehen davon, daß es mehr ein künstlich, als kunstvoll zusammengesetztes ist. Nach einer etwas unbe holfenen, den englischen Charakter außer Acht lassenden Ex position (das Exponiren scheint überhaupt die schwache Seite der französischen Dramatiker) reihen sich viele kleine, höchst effectreiche Katastrophen an einander, oder — um gerecht zu sein — entwickeln sich aus einander, bis endlich der Haupt point, die Geschichte mit dem verhängnißvollen Glas Wasser, einen überraschenden befriedigenden Schluß herbeiführt. Das Stück ist pyramidalisch aufgebaut, cs sind in ihm nicht An fang, Mitte und Ende, sondern jeder Act löst und schürzt einen neuen Knoten aus dem eben gelösten, und die Lösung des Schlußknotens ist nicht nothwendig von allen vorherge henden Ereignissen bedingt. Das Ganze hat etwas, wir möch ten sagen, Memoirenhast-Dramatisches. Zur Herbeiführung der Katastrophe wäre es auf eine Jntrigue mehr oder weni ger nicht angekommen. Hier find, wie der Titel sagt, Ursa chen und Wirkungen, nicht sowohl Ursache und Wirkung, bei welchen natürlich auch kleine Nebenzufälligkeiten und Wir kungen aceidentiell hätten bcihelfen können. So ist der Bau des Stückes bei aller Reichhaltigkeit und Lebhaftigkeit der Handlung, wie gesagt, kein recht dramatisch geschlossener; wir sehen kein achtes Drama, sondern nur etwas Dramatisches. Fragen wir nun nach dem Innern, der Idee, dem Lcbens- geist, der Seele des französischen Lustspiels, so findet sich kein hinlänglich bedeutender Hintergrund, den wir Deutschen nun ein für allemal verlangen. Das Scribe eine Anekdote aus der Geschichte nahm, d. h. eine Anekdote, die an einem Hofe spielt, ist sehr günstig für sein Product gewesen, und er hat uns dadurch einen wohl zu beachtenden Fingerzeig gegeben. Aber das Geschichtliche im Stück ist nur Stichwort und tritt keinesweges in organischen Zusammenhang mit der Action. Wir interessiren uns nicht für den Zustand der englischen Re gierung, des Parlaments, der Minister, cs kümmert uns we niger, daß Bolingbroke an's Ruder gelangt, als vielmehr, daß er durch eine Erbschaft reich wird, daß er der stolzen Herzogin von Marlborough gegenüber triumphirt, und daß dadurch die jungen Leute in den Stand kommen, sich zu Hei mchen. Das Historische tritt hier nicht in Fleisch und Blut, die Jntrigue ist eine Privatintrigue, welche als solche unser ganzes Interesse in Anspruch nimmt. Aber wenn dieses In-