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seyn, unermüdlich! Aufrütteln müssen wir fort und fort uns selbst und Andre aus dem behaglichen, aber so verderblichen deutschen Schlummer! Das Träumen müssen wir verscheuchen, damit wir klar und verständ lich zum Bewußtscyn unsrer Bestimmung und auch unsrer Kraft gelangen. ,,Will Paris nicht, so müssen die Provinzen wollen!" ruft ein tüchtiger Franzose unsrer Tage. Wohlan: warum sollten nicht auch wir rufen „Wol len Wien und Berlin nicht, so muß Deutschland wol len!" d. h. beharren die Meister Wiens und Berlins bei ihrer bisherigen Theilnahmlosigkeit in Betreff des Strebens nach einer deutschen Tracht, halten sie cs für bequemer und ehrenvoller, stets hinter den Pariser Moden hcrzuhinken und zu ihrem Morgensterne nach Westen zu blicken, so bemühen wir uns gemeinschaft lich um so eifriger, deutsche Schnitte, Formen und ganze Trachten zu ersinnen und dem Publicum vor Augen zu legen, bis wir doch endlich Taugliches und Hübsches gefunden, Anklang und Theilnahme bei dem Publicum gewonnen haben. Aber verständigen wir uns auch gegenseitig über den eigentlichen Sinn und. die Lebensbedcutung unsrer Aufgabe, damit wir nicht Zeit, Anstrengungen und Kräfte nutzlos zersplitternd, gemeinsam in der Zrre umherwandcln und unsre ganze Wirksamkeit auf eiteln Bilverkram beschränken. Ist von Erfindung einer deutschen Tracht die Rede, so meinen wir nicht, daß Einer die ersten be sten slavischcn, orientalischen, französischen oder engli schen Formen mehr oder minder glücklich zusammen stopple und ein neues Ganzes daraus forme, welches nationell nicht werden kann, weil sein Anblick keine jener geheimnißvollen, aber so tiefen und innigen Sym pathien des Volks berührt, und welches daher auch nicht leicht Modetracht allgemein werden kann, um so weniger, weil solche Zusammenstoppelungen in der Re gel weniger Schönheit der Form, als die französischen Erfindungen haben, und nicht selten auch weniger zweck mäßig uud bequem erscheinen. Da nun Volkskleidung nicht Sache eines Unge fährs der blinden Willkür, sondern immer und überall ein Ergcbniß der Zeit, der Sitten und dcö Culturzu- standes ist, so wäre es lächerlich, wollten wir den Leu ten zumuthcn, alle Vorzüge und Vortheile der jetzigen Gewcrbscultur frischweg wieder aufzugebcn, allen un verkennbaren Nützlichkeiten und Annehmlichkeiten der modernen Tracht lediglich darum zu entsagen, weil manche dieser Neuerungen französischen Ursprungs sind, wenigstens von den rührigen Parisern auf Vorhande nes gepfropft, verschönert und verbessert worden. Wem würde es z. B. einfallen und gelingen, die weiten Beinkleider über die Stiefel, die sogenannten Panta- lons wieder abzuschaffen und das frühere enge, un hübsche und unbequeme Zeug, oder gar die kurzen Hosen mit den Knieschnallen wieder allgemein cinzu- sühren? Wer könnte jene gewisse Mannichsaltigkeit der verschiedenen Kleidungen für den Morgen im Ar- bcits- und Familienzimmcr, für den bequemen Spa ziergang, für gewöhnliche Geselligkeit und Besuche und für Staatsbesuche, feierliche Versammlungen und abend liche Freuden, verbannen und dafür eine unbehagliche Monotonie veranstalten wollen? Sollen wir wieder Röcke ohne Kragen, Hälse ohne Binden und pracht volle oder ärmliche Halskragen tragen? Sollen wir den klimatisch-wesentlichen Stiefel ablcgen, um in Schuhen mit allerlei schnackischcm Zierwerk zu Wan del".? Sollen wir Röcke ohne alle Taschen wählen, als ob wir gar nichts mehr einzusteckcn hätten? Was können wir also mit einer neuen deutschen Tracht wollen, was von ihr fordern? Nicht mehr und nicht weniger, meine Freunde, als daß solche dem deutsch-historischenBoden entwach sen sey, dabei aber auch vollkommen unsrer Zeit ent spreche, d. h. alle Vorzüge vereine, welche unsre Sitte, Lebensweise, Bequemlichkeit und Schönheitssinn erhei schen und welche die unermeßlichen Fortschritte.der Stoffefabrication und der Technik der Schneiderei mög lich und ausführbar mache». Rückwärts soll eine solche Tracht nicht führen, sondern vorwärts! Also nichts von mittelalterlichen Rittern und Knappen, Bürgern und Bauern; denn damit wäre verloren, nicht gewonnen. Aber RathS erholen können und sollen wir uns bei jenen Trachten, weil sic historisch und eigcnthümlichst unser sind und auch jetzt noch unser wieder werden können, wenn wir unfern Beruf verstehen und verständig ihm folgen. Unsre Kleidung soll eine deutsche sey», wie Sprache und Schrift, dem Himmel sey Tank! noch deutsch sind. Aber diese Kleidung soll sich modcrnisiren und ver edeln und bereichern mit allem seit dem Mittelaller Gewonnenen, wie sich Sprache und Schrift moderni- sirt und veredelt und bereichert haben, von den Zeiten