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33 34 ein Schneider. Wundert man sich hiernach noch, daß bei solcher Ungeheuern Concurrenz die Erfindungs- uud Neuerungssucht unermüdlich erscheint, und daß jeder Tag Jahr aus Jahr ein Neues zum Vor schein bringt? Zum Schutz gegen allerlei Vorkommnisse und! Unfälle bildet sich jetzt dort eine sehr vernünftige HülfSkasse auö bestimmten monatlichen Beiträgen von Meistern und Gehülfcn, welcher bereits viele Tau sende bcigetreten sind und täglich mehr beitreten. Das ist eine vernünftige Anwendung jenes ver rufenen „Hilf dir selbst, so wird dir Gott helfen!" Darüber zu gelegener Zeit ausführlich. Ansichten von Augustin Canneva. (Fortsetzung.) Genauer, als jeder andere Handwerker, kann der Schneider die Zeit der Ernte, d. h. der Arbeit und die Zeiten des FeiernS, d. h. der Arbeitslosigkeit und Nahrungslosigkeit ermessen; diese Perioden bleiben ja Jahr für Jahr dieselben: daher sollte auch billig der Schneider mehr Vorsicht üben, beharrlicher und treuer bei seiner Arbeit bleiben, statt wie eS täglich mehr Mode wird, Werkstätte für Werkstätte häufig zu wech seln, lieber an einen Meister sich halten, seine Pflichten mit gewissenhafter Sorgfalt erfüllen, sein Interesse an das dcö Meisters knüpfen und sich in gewisser Hinsicht unentbehrlich machen. Gewiß würde und müßte dann auch der Meister mehr auf ihn halten, ihm weniger Zeit zum Feiern, zur Verdienstlosigkcit, zum theuren Müßiggang lassen; er selbst würde sich dabei mehr an Ordnung, Regelmäßigkeit, Sparsamkeit gewöhnen, verständiger und fruchtbringender an seine Zukunft den ken und dafür wirken. Was thut dagegen jetzt gewöhnlich der Schnci- dergcsellc? In der guten Jahreszeit, wo er gewiß ist, Arbeit zu finden, sobald er Lust oder Bedürfnis; dazu fühlt, verjubelt er seine Zeit an den Orten des Vergnügens, der Verschwendung, der Lüderlichkeit, verwöhnt sich da durch gänzlich, versäumt alles Weitcrkommen in Kennt nissen und Arbeitsgeschick, wird roher und roher, un tergräbt und vernichtet seine Gesundheit. Nachdem er an einem Tage den Erwerb einer ganzen Woche ver schwendet Hai, arbeitet er eine andere ganze Woche, ohne sich mit dem Ertrage davon nähren zu können, er borgt also oder lebt auf Kredit, gibt mithin die Frucht sei nes Schweißes vorhinein aus und erreicht so die schlechte oder arbeitslose Zeit mit Schulden belastet, ohneMög- ! lichkeit, diese bezahlen, ohne Hülssmittel, selbst leben zu können. Dann drohen Hunger und Kälte und Elend mit jedem Tage bitterer, bis das letzte Stückchen der Habseligkeiten versetzt oder verkauft ist und der Arme sich nothgedrungen sieht, entweder von Meister zu Mei ster kriechend, umher zu laufen und um kleinen ärmli chen Lohn seine Arbeit beinahe aufzudringen, oder, wenn auch dieß nicht gelingt, alles Ehrgefühl eines freien Arbeiters vergessend, von Bettelei zu leben. Ich kannte früher sehr geachtete Schneidergcsellen, welche so tief gesunken waren, daß sie sich jetzt glück lich schätzten, von einer schmachvollen Krankheit befal len zu scyn, weil diese ihnen wenigstens Ansprüche verlieb — zur Ausnahme in ein Hospital während der arbeitslosen Zeit! Glaubt Ihr etwa, daß soviel Schande und Elend sie bessern werden? Nein! Das vergangene Elend er scheint solchen Jammermenschen gleichsam als eine Au torisation für ein künftiges gleich dummes und schlech tes Betragen; sie trösten sich wohl gar selbst mit dem unsinnigen Gedanken: nicht ihre eigne Nachlässigkeit und Schuld habe sie unglücklich gemacht, sondern das Schicksal oder eine fehlerhafte Organisation der Ge sellschaft laste so schwer auf ihnen, daß sic sich auch durch das tadelloseste und besonnenste Betragen nicht vor Elend und Armuth schützen könnten. So beginnt dann schon am Abschiedstag aus dem Spitallebcn der frühere Schlendrian dcö Faullenzens und der Verschwen dung von Neuem. Der Sommer kommt,, das Heim chen zirpt auf der Wiese und der flotte Schneider- gcselle macht sich lustig über den thätigen Maurer und Zimmermann, der nach vollbrachter Arbeit und genos senem Abendessen schon bald nach Sonnenuntergang das Lager der Ruhe und Erholung sucht. Ec selbst, der flotte Schneider, dünkt sich weit klüger und höher: er eilt ja singend und pfeifend in ein Kaffeehaus oder in irgend eine lustige Kneipe zu Trunk und Tanz und Spiel, wo die ganze Nacht verschlampampt, der letzte Pfennig verlüderlicht und nicht eher aufgehört wird, bis die Morgensonne zur Heimkehr winkt. Haben wir die schlechten Gewohnheiten und La ster vieler Schneider ganz rücksichtslos ausgedeckt, so